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RAUB/0889: Regionale Armutsunterschiede systematisch erzeugt (SB)



Der Regionale Armutsatlas des Paritätischen Wohlfahrtverbands fördert in der Bundesrepublik räumliche Differenzen der Wohlstandsverteilung zutage, die im Extrem zwischen einer Armutsquote von 7,4 Prozent in der Region Schwarzwald-Baar-Heuberg und 27 Prozent in Vorpommern liegen. Allgemein bestätigt sich die besonders hohe Verbreitung der Armut in Ostdeutschland sowie das seit jeher die sozialökonomische Landschaft bestimmende Nord-Süd-Gefälle. Nach der Definition, daß Haushalte, denen weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung stehen, als arm eingestuft werden, beträgt die gesamtdeutsche Armutsquote 14,3 Prozent, ein für sich genommen hoher Wert, mit dem für ein Sechstel der Bevölkerung gilt, daß sie über kein angemessenes Einkommen verfügt.

Mit der Aussage "Deutschland droht nicht nur sozial, sondern auch regional auseinanderzufallen", weist der Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, auf eine fortschreitende Entwicklung der räumlichen Differenzierung hin, die keineswegs ohne Zutun der Politik erfolgte. Der mit einer massiven Enteignung der DDR-Bürger einhergehende Anschluß ihres Landes an die BRD diente der Konsolidierung und Konzentration des westdeutschen Kapitals. Man nahm keine Rücksicht darauf, daß viele der abgewickelten volkseigenen Betriebe unter gezieltem Einsatz staatlicher Mittel durchaus zu retten gewesen wären. Indem man die Volkswirtschaft der DDR mit, wie es die Maßgabe für Transformationsstaaten vorsah, einem Mal dem ökonomischen Druck der Weltmarktverhältnissen überantwortete, konnte sie zum nur scheinbar treuhänderischen Ausverkauf gestellt werden.

Als besonders profilierter Exponent der damals durchgesetzten Marktlogik fungierte Bundespräsident Horst Köhler. Er trug als Verhandlungsführer der Bundesregierung maßgeblich zur Formulierung der Maastricht-Kriterien bei, die die Europäische Union wirtschaftsliberal ausrichteten, und war in seiner damaligen Funktion als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium an entscheidender Stelle daran beteiligt, die ökonomischen Bedingungen der sogenannten Wiedervereinigung festzulegen. Heute, da Köhler sich vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und in Hoffnung auf eine Wiederwahl als mitfühlender und sozial verantwortungsvoller Staatschef darstellt, wird gerne vergessen, daß er die sozialfeindliche Agenda 2010 vorbehaltlos unterstützte und stets dafür eintrat, die Wirtschaft so weit wie möglich von Verpflichtungen zu befreien, die Lohnabhängigen und Arbeitslosen zugute kämen.

So hat er im September 2004 mit seinem Werben für verstärkten Wettbewerbsföderalismus die Axt an die föderale Struktur der Bundesrepublik gelegt. Ganz im Sinne der von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) alljährlich angestellten Bundesländervergleiche werden bei einem regional aufgezäumten Standortwettbewerb makroökonomische Indikatoren wie das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, die Verschuldung und die Lohnkostenentwicklung zum Maßstab für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesländer verabsolutiert, während soziale Indikatoren meist als Kostenfaktoren zur Disposition weiterer Einsparungen gestellt werden. Köhler hatte 2004 gegenüber dem Magazin Focus erklärt, man müsse sich in Deutschland mit unterschiedlichen Zuständen abfinden, das gelte für den Norden und Süden wie den Westen und Osten.

Köhlers pauschale Anprangerung einer angeblich egoistischen Versorgungsmoral, die den Subventionsstaat zementiere, ging gezielt daran vorbei, daß dem Bund für den "Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung" im Grundgesetz (Art. 72, Abs. 2) gesetzgeberische Zuständigkeit zugesprochen wird, "wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht". Dementsprechend heißt es an anderer Stelle des Grundgesetzes (Art. 106, Abs. 3): "Die Deckungsbedürfnisse des Bundes und der Länder sind so aufeinander abzustimmen, daß ein billiger Ausgleich erzielt, eine Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird".

Was sich als normatives Ziel auf dem Papier schön liest, hat noch nie der sozialen Wirklichkeit entsprochen und tut dies immer weniger. Dem Vorhaben des Gesetzgebers, die staatlichen Einheit der Bundesrepublik nicht durch extreme soziale Unterschiede zu gefährden und ihre territoriale Integrität durch die Gewährleistung homogener Lebens- und Produktionsverhältnisse zu sichern, steht das Interesse des Kapitals an sozialökonomischen Unterschieden entgegen, mit denen sich die lohnarbeitende Bevölkerung gegeneinander ausspielen läßt und die handelspolitische Vorteile generieren.

Es wäre allerdings erstaunlich, wenn das, was im europäischen Rahmen gang und gäbe ist, auf nationaler Ebene ausgeschlossen wäre. In dem Maße, indem die einzelnen Volkswirtschaften supranationale Standards der Finanz-, Handels- und Lohnpolitik adaptieren, weist auch die nationalstaatliche Kohäsion immer tiefere, der Jagd der Unternehmen nach günstigen Verwertungsbedingungen entgegenkommende Gräben auf. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die Ausbildung regionaler Cluster technischer Innovation und industrieller Produktion, die, mit dem erforderlichen Potential an Arbeitskräften und vorteilhaften infrastrukturellen Bedingungen ausgestattet, um die Ansiedlung von Unternehmen werben oder von vornherein in Kooperation zwischen Politik und Konzernen konzipiert werden. Die Verschärfung sozialer Gegensätze ist politisch beabsichtigt, da sie die Dynamik konkurrenzgetriebener Entwicklungen anheizt, ohne die ein räuberisches System seine zentrale Triebkraft verliert.

Große regionale Unterschiede bei Einkommen und Versorgung sind ein bewährtes Instrument der Atomisierung von Klasseninteressen, die nur dann machtvoll in Erscheinung treten, wenn sie landesweit und am besten grenzüberschreitend organisiert werden. Die regionalen Disparitäten sind Produkte des grundlegenden Klassenwiderspruchs und kein Sonderfall der allgemeinen sozialen Malaise, wie die Verfasser des Armutsatlas meinen. Sie dokumentieren auch nicht die "Zerrissenheit Deutschlands", so der Tenor vieler Presseberichte, sondern die Sozialstruktur kapitalistischer Gesellschaften, die stets von sozialen Antagonismen bestimmt ist. Der Armutsatlas ist gewissermaßen das negative Äquivalent der an Ländern und Kommunen orientierten Rankings neoliberaler Stiftungen, er dokumentiert die Auswirkungen eines Leistungsvergleichs, der ausschließlich an den Interessen des Kapitals orientiert ist. In beiden Fällen wird das Grundproblem des Kapitalsverhältnisses wie in einem Vexierspiegel zerstreut, um Lohnabhängigen und Erwerbslosen nicht noch mehr Gründe zu verschaffen, als sie ohnehin haben, sich in Bewegung zu setzen.

18. Mai 2009