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RAUB/0922: Grenzenlose Verachtung - Arme als Freiwild sozialrassistischer Beutezüge (SB)



Die soziale Verachtung, die Menschen anspringt, die sich in dieser Mangelordnung nicht auf einen der vorderen Plätze vorkämpfen konnten, bedient sich all jener Mittel der Verleumdung, die die Apologeten herrschender Wahrheiten im Falle ihrer Kritiker nicht scharf genug als solche anprangern können. In den USA ist der neokonservative Sender Fox News besonders berüchtigt dafür, mit gnadenlosem Chauvinismus dafür zu sorgen, daß den Menschen, denen bereits alles genommen wurde, nicht einmal ein Bruchteil davon zurückgegeben wird. So wurde dort Ende Oktober behauptet, die Subprime-Krise im Immobiliengeschäft sei nicht etwa das Ergebnis rücksichtsloser Banken, die bei dem Versuch, die Gewinne aus ihren bereits mehrfach beliehenen Krediten auch noch unter prekärsten Bedingungen zu maximieren, gezielt auf Menschen einwirkten, die schon bei einer geringen Erhöhung ihrer Hypothekenzinsen ökonomisch kollabierten. Nein, die Subprime-Krise, die Millionen von US-Bürger obdachlos gemacht hat und insbesondere auf ethnische Minderheiten verheerende Auswirkungen hatte, ist nach Lesart von Fox News Ergebnis der sozialpolitischen Suggestion, den Armen würde alles zustehen, was normalerweise nur begüterte Bürger in Anspruch nehmen können. Staatliche Einrichtungen und soziale Organisationen hätten Menschen zur Aufnahme von Krediten verführt, die keineswegs dazu qualifiziert gewesen wären, so daß das Finanzkapital nicht anders konnte, als vor diesen aggressiven Ansprüchen zu kapitulieren (Counterpunch, 01.11.2009 - Wild Tales From the Reactionary Right).

Wer in seiner Not nach einem Strohalm greift, ist am Ende daran Schuld, daß die räuberische Akkumulation, von der sein Elend ihren Ausgang nahm, nicht mehr funktioniert. Nicht die systematische Umverteilung von unten nach oben, die anhand konkreter sozial- und steuerpolitischer Strategien schwarz auf weiß zu dokumentieren ist, soll für die Wirtschaftskrise verantwortlich sein. Nein, es sind die Armen selbst, die in ihrer Gier nach mehr kein Halten mehr kennen. "Geld als falsches Signal - Sozialstaat fördert Entstehen der Unterschicht", lautet die Überschrift eines Artikels auf Welt Online (01.11.20099), in dem Dorothea Siems "gesellschaftliche Fehlentwicklungen in Deutschland" diagnostiziert, an denen der Sozialstaat die "Hauptschuld" trage. Treibendes Moment dieser Entwicklung sei die Belohnung, die den Menschen winkt, wenn sie erwerbslos werden, so die dort vertretene These.

Als Kronzeugen führt die Autorin keinen Geringeren als den Präsidenten des Ifo-Instituts München, Hans-Werner Sinn, an. Dieser Ökonom hat jahrelang zu den führenden Einpeitschern der einzig wahren neoliberalen Lehre gehört, ohne daß deren Scheitern auch nur geringfügig an seinem Renommee hätte kratzen können. So kann Sinn weiter seine schon zuvor vertretene These verbreiten, daß die staatliche Alimentierung der Erwerbslosigkeit zur Ausbildung einer sich verfestigenden "Unterschicht" geführt habe. Die bewährte These eines zu geringen Abstands zwischen Sozialtransfers und Erwerbseinkommen läßt sich auch im Angesicht von Millionen Arbeitslosen, die sich dieses Schicksal nicht ausgesucht haben, und von zahlreichen Niedriglohnempfängern, die von ihrer Arbeit ohne staatliche Hilfe nicht leben können, an eine Klientel bringen, die keine andere Sorge hat als den ihr angeblich per Geburtsrecht zustehenden Wohlstand gegen das anwachsende Subproletariat zu verteidigen.

Der ideologische Kern der sozialen Verachtung ist in angeblich selbstverschuldeter Armut angesiedelt. Diese Mär ist nicht einmal in einer volkswirtschaftlichen Situation aus der Welt zu schaffen, in der die zuvor schon nicht zutreffende, weil die herrschende Verteilungsordnung ignorierende Unterstellung des "parasitären" Verhaltens langzeitarbeitsloser Menschen ganz offensichtlich weitere Millionen Menschen in die Armut treibt. Der inquisitorische Blick, den Dorothea Siems auf Welt Online (01.11.2009) auf das Verhalten des "Abgehängten Prekariats" wirft, bezweckt nichts anderes als die Ausgrenzung aller im Jargon der Sarrazin und Sloterdijk "unproduktiven" - und daher nicht mehr dazugehörenden - Menschen: "Diese Gruppen gehören zur Unterschicht".

Sozialrassistisches Standesdenken macht sich an Verelendungssymptomen fest, die, zur Misere per se erklärt, den Mißstand kausal in ungezügelter Sauferei und anderen notgedrungenen Kompensationspraktiken verorten. Von der Norm bürgerlichen Anstands abweichendes Verhalten wird kenntlich gemacht, isoliert und exponiert, um einer um ihre Pfründe bangenden Bourgeoisie zum Fraß eigener Selbstgerechtigkeit vorgeworfen zu werden. Es handelt sich um Menschenvorführung vertrauten Stils, wenn RTL ein "150-Euro-Experiment" durchführt, bei dem Hartz 4-Empfängern 150 Euro in die Hand gegeben werden, um sie mit versteckter Kamera bei ihren Einkäufen zu begleiten und zu bewerten, wofür sie das Geld ausgeben.

Wenn die Medien des sich dezidiert als von christlicher Ethik beflügelt darstellenden Bertelsmann-Konzerns von der Leine gelassen werden, dann kommt nichts anderes dabei heraus, als schon der Benthamsche Utilitarismus mit der Anwendung des "Prinzips des größten Glücks" auf die frühkapitalistische Gesellschaft Englands hervorbrachte. Die sozialtechnokratische Stigmatisierung der Armut und ihre gewaltsame Zurichtung auf das klaglose Erleiden des Zwangsarbeitsregimes, in das mittellose Menschen zum doppelten Wohle des Herren eingespeist werden, ist keine Erfindung des 21., sondern des frühen 19. Jahrhunderts. Daß man heute zu den Praktiken zurückkehrt, die den Klassenkampf sozialeugenisch ausdeuten und die vertikale Ordnung von Arm und Reicht zum Naturprinzip erklären, während gleichzeitig Demokratie und Menschenrechte propagiert werden, belegt das grandiose Scheitern einer staatshörigen Linken, deren Ideale zu Stichworten neoliberaler Herrschaftstechniken verkommen und aus deren ideologischer Schulung die Funktionseliten neokonservativer Netzwerke hervorgegangen sind.

Es zeigt zudem, wie flexibel und adaptionsfähig hegemoniale Ideologien sein müssen, um die Widrigkeiten gesellschaftlicher Antagonismen integrieren zu können, während sie den Widerschein längst verlassener humanistischer Positionen illuminieren. Um die immer weniger bestrittene Dominanz sozialrassistischer Sichtweisen in Politik und Medien in ihre Schranken zu weisen und die menschenfeindliche Aggressivität des Klassenkampfes von oben offenzulegen, gilt es, den Ablenkungscharakter dieses Bezichtigungssystems zu entlarven. Das wird nur möglich sein, wenn sich die davon Betroffenen organisieren und aktiven Widerstand gegen ihre Vertreibung in den Limbus des Nichtmenschen leisten.

4. November 2009