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RAUB/0932: Erdbeben von Haiti hat Kreuzfahrtpassagieren Appetit verdorben (SB)



Man könnte es als die Spitze des Zynismus bezeichnen, daß rund 60 Meilen vom Erdbebenzentrum auf Haiti entfernt mehrere Luxus-Kreuzfahrtschiffe vor Anker liegen und die Passagiere ihren üblichen Vergnügungen nachgehen. Tagsüber amüsiert man sich beim Parasailing, Jetski-Fahren oder einfach nur am Strand Liegen, während die lauwarmen Karibikabende am trefflichsten in gepflegter Runde unter seinesgleichen und einer aufregenden Auswahl an geistigen Getränken genossen wird. Unweit dieser paradiesischen Verhältnisse harren noch immer verschüttete Menschen unter den Trümmern aus, lassen sich zermatschte Gliedmaßen abbinden oder das verstorbene Ungeborene aus dem Leib schneiden.

Der Kontrast der unterschiedlichen Lebensverhältnisse könnte nicht größer sein ... und dennoch: Nach einigen Wochen des Medienhypes um die Erdbebenkatastrophe von Haiti wird das Elend wieder so gründlich verdrängt wie in der Zeit, bevor die Insel von einem schweren Erdbeben heimgesucht wurde. Der drei Meter hohe und laut dem "Guardian" (17.1.2010) schwer bewachte Zaun, der die zahlenden Gäste auf dem malerisch schönen Labadee-Strand vor Blicken und Betteln unerwünschter Gäste schützt, wurde lange Zeit vor der Katastrophe errichtet. Es handelt sich um einen Privatstrand, er ist der allgemeinen Verfügbarkeit entzogen. Er trennt die Habenden von den Habenichtsen.

Dieser Widerspruch reicht weiter zurück als die wenigen Tage, in denen die vor Anker liegenden Luxusliner "Independence of the Seas" (3600 Passagiere) und "Navigator of the Seas" (3114 Passagiere) einen starken Kontrast zu der erdbebenerschütterten Insel bieten. Jeder der Reisenden dürfte mehrere tausend Euro hingeblättert haben, um an der Karibik-Kreuzfahrt teilzunehmen - eine Summe, die mancher Haitianer nicht mal im ganzen Leben zur Verfügung hat.

Der Vollständigkeit halber sollte die professionelle Reaktion der Reiseveranstalter nicht unerwähnt bleiben, denn die Kreuzfahrtschiffe haben mehrere Paletten mit Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern angelandet und darüber hinaus weitere Hilfe geleistet. Alles andere wäre keine gute Werbung gewesen und hätte womöglich den Passagieren die Laune verdorben. Mit Sicherheit kann man annehmen, daß die haitianischen Besitzer und Angestellten der Strandcafés tief enttäuscht wären, würden die Kreuzfahrer Skrupel ob des ihnen womöglich allzu nah gerückten Elends bekommen und der Insel fernbleiben.

Auf dem bordeigenen Cruise Critic Internet-Forum haben viele Gäste ihre Betroffenheit ausgedrückt. Schon vor dem Erdbeben war es "hart genug", am Strand von Labadee zu sitzen und ein Picknick zu verzehren, "in dem Wissen, wie viele Haitianer hungern", schrieb jemand laut dem "Guardian" (17.1.2010). Er könne sich nicht vorstellen, dort jetzt noch einen Burger herunterzuwürgen. Ach, möchte man der Person Trost spenden, einfach Augen zu und durch! Es hat doch auch vor dem Erdbeben geschmeckt ...

Eine Kreuzfahrt entlang haitianischer Elendsviertel, die aus größerer Entfernung sogar pittoresk aussehen können und unerzählte Abenteuer verheißen, da fängt die Gemütlichkeit des Beobachtens doch erst richtig an! Wenn erst bei einer Erdbebenkatastrophe Spendengelder fließen und Hilfe zugesagt wird, dann kann es mit Betroffenheitsgefühlen und anderen emotionalen Aufwallungen hierzulande nicht weit her sein. Vor über einem Jahr wurde gemeldet, daß die Einwohner Haitis getrocknete Lehmziegel verspeisen, weil sie nichts anderes zu essen haben - ist das keine akute Katastrophe? Nein, nicht innerhalb eines auf Konkurrenz gegründeten Staatensystems. Da muß es Verlierer geben, sonst gäbe es keine Sieger. Der keineswegs aktuelle Gegensatz von Luxus und Elend in Haiti ist das unmittelbare Ergebnis der vorherrschenden Ordnung.

19. Januar 2010