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RAUB/0948: Die Armen aushungern! Sozialrassistische Forderungen haben Konjunktur (SB)



Mit dem Bremer Soziologen und Ökonomen Gunnar Heinsohn steigt ein neuer Stern am Himmel jener Heilserwartung auf, die in der Elimination angeblich überflüssiger Esser die Fortdauer eigenen Wohllebens ansiedelt. Was die kleine, ihren Glauben an die Freiheit des Kapitals und die unsichtbare Hand des Marktes daher um so lauter predigende Schar neokonservativer Sozialingenieure über die Zukunft der Gesellschaft zu sagen hat, bedient sich einer wohlvertrauten Glaubensdoktrin. Verwerflich ist, was den Armen zugute kommt, wenn sie es nicht im Schweiße einer Sklavenexistenz erarbeiten, sondern aus der angeblich viel zu fürsorglichen Hand des Staates empfangen. Anzustreben ist eine Politik stark verknappter Sozialtransfers, mit Hilfe derer das Problem sozialen Elends quasi ausgehungert wird. Anstatt den faulen Müßiggang durch unverdientes Einkommen zu nähren, sollen die Armen einer ganz körperlich zu verstehenden Schlankheitskur unterzogen werden. Der zivilreligiöse Charakter dieser Sichtweise entspringt dem Dogma eines Leistungsethos, der allein auf dem Ausmaß angehäuften Kapitals gründet. Arbeit begründet den Anspruch auf soziale Legitimation und gesellschaftliche Teilhaberschaft nur durch ihre Verwertbarkeit, und deren Bedingungen werden von den Herren der Kapitalmacht gesetzt.

In einem Gastbeitrag der FAZ (16.03.2010) erhebt Heinsohn die Forderung, Sozialhilfe nurmehr befristet zu gewähren. Damit soll eine "verfehlte Einwanderungs- und Sozialpolitik" korrigiert werden, die angeblich daran krankt, daß die Bundesrepublik ihre Einwanderer "vorrangig nicht aus Eliten, sondern aus den Niedrigleistern des Auslands" rekrutiert, und daß deutsche Mütter desto mehr Kinder in die Welt setzen, je niedriger ihr Sozialstatus ist. Heinsohn übersetzt die angebotspolitische Wirtschaftstheorie, laut der die Nachfrage über den Preis geregelt wird, auf sozialpolitische Fragen, ohne mit einem Wort auf das Problem einzugehen, daß materielle Not und niedriger Bildungsstand Ergebnisse einer hierarchischen Gesellschaftsordnung sind, die Kapitaleigner begünstigt und Lohnabhängige benachteiligt. Sozialtransfers erzeugen Armut, anstatt sie zu lindern, so die zentrale These Heinsohns, die völlig davon absieht, daß Sozialhilfe und Arbeitslosengeld kompensatorische Regulative eines Akkumulationsmodells sind, das aufgrund der ihm immanenten Verwertungslogik nicht in der Lage ist und auch nicht mehr anstrebt, die gesellschaftliche Reproduktion durch Vollbeschäftigung zu gewährleisten.

Unter dem Strich stellt der Bremer Professer unisono mit den angesagten neokonservativen Populisten nur die eine Frage, wie man überflüssig gemachte Menschen loswerden kann. Dabei beruft er sich auf den US-amerikanischen Politologen und Ökonomen Charles Murray. Dieser ausgemachte Sozialrassist hat nicht nur die von Heinsohn angeführte Formel "Mehr Geld vermehrt Armut" geprägt, sondern propagiert eine elitäre Gesellschaftsdoktrin, die ethnischen Rassismus soziobiologisch gewendet fortschreibt.

Heinsohn beruft sich in der FAZ auf Murrays 1984 veröffentlichtes Buch "Losing Ground", in dem der US-Akademiker die Abschaffung der Sozialhilfe fordert, weil sie zur Vermehrung der Armut geführt habe. Fernab von jeder Überlegung zum Strukturwandel kapitalistischer Produktivität und des dadurch erfolgten Abbaus von Lohnarbeit werden die wachsenden Kosten für Sozialtransfers als selbstgeneratives, zur nationalen Wirtschaftsleistung kontraproduktives Entwicklungsmoment analysiert. Malthus läßt grüßen, läuft die daraus gezogene Schlußfolgerung doch im Kern darauf hinaus, daß die finanzielle Aushungerung von Menschen, die zum Überleben auf fremde Hilfe angewiesen sind, auch deren Ableben befördert.

Noch expliziter wird Murrays sozialrassistische Weltsicht in dem zusammen mit dem Harvard-Psychologen Richard Herrnstein verfaßten, 1994 veröffentlichten Buch "The Bell Curve" artikuliert. Dieses Werk kann durchaus als Bibel jener zivilisatorischen Suprematie bezeichnet werden, die die angebliche Überlegenheit westlicher Kultur zum Anlaß nimmt, nichtwestliche Bevölkerungen am eigenen Gesellschaftsmodell notfalls auch dann genesen zu lassen, wenn sie sich dagegen wehren. So plädieren Murray und Herrnstein dafür, Sozialprogramme für Gruppen der US-amerikanischen Bevölkerung wie etwa Afroamerikaner zu streichen, weil sie angeblich an einem genetisch bedingten Intelligenzdefizit leiden. Ihre Zukunftsvision von einer Gesellschaft, in der eine "kognitive Elite" immer mehr vom großen Rest der weniger intelligenten Bevölkerung separiert wird, mutet wie das Zerrbild eines Endzeit-Science Fictions an, ist jedoch in den USA in Ansätzen bereits verwirklicht, wie die wachsende Zahl mehrheitlich von Weißen bewohnter Wohlstandstrutzburgen - sogenannte gated communities - und die Ghettoisierung ethnischer Minderheiten in systematisch verödeten Elendsvierteln belegt.

Murray ist ein typisches Produkt jener positivistischen Wissenschaftskultur, in der die Empirie der Datenerhebungen und der Verzicht auf sozialkritische Analysen flachste Erkenntnisse antiaufklärerischer Art zeitigt. Als langjähriges Mitglied des neokonservativen Think Tanks American Enterprise Institute hat er viel zur Legitimation jener Ideologie beigetragen, die in ihrer geostrategischen Übersetzung unter anderem für den Überfall auf den Irak verantwortlich ist. Aberwitzige Schlußfolgerungen wie die in seinem Artikel "Jewish Genius" im Magazin Commentary (April 2007) gezogene, laut der Juden aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz "das auserwählte Volk Gottes" seien, haben seinem wissenschaftlichen Renomee ebensowenig geschadet wie andere rassistische Ausfälle.

Zur Bestätigung seiner mit demographischen Argumenten aufwartende Gesellschaftsdoktrin, in der implizit eine anhand von sozialen Kriterien bestimmte Rangfolge und damit Wertigkeit der Menschen unterstellt wird, hätte sich Heinsohn auf keinen Besseren als Murray berufen können. Schon die neokonservative Lichtgestalt Margaret Thatcher bediente sich bei der Vertiefung der Klassengegensätze der britischen Gesellschaft gerne seiner Theorien. Die von ihr betriebene Negation des Begriffs der Gesellschaft setzt sich in Heinsohns Umwidmung der Verteilungsfrage in ein autoritäres Regulationsdispositiv ungebrochen fort.

Als Beleg für den produktiven Charakter seiner Forderung nach Befristung staatlicher Hilfsleistungen beruft sich der Bremer Wissenschaftler auf die US-amerikanische Sozialhilfereform des Jahres 1997. Um den "durchschlagenden" Erfolg dieser Maßnahme zu belegen, rechnet er in der FAZ vor:

Bezogen vor der Reform 12,2 Millionen amerikanische Bürger Sozialhilfe, so waren es 2005 nur noch 4,5 Millionen. Die Frauen der Unterschicht betrieben nun Geburtenkontrolle. So sank die Zahl der "welfare mothers" drastisch, ebenso die Kriminalität der Söhne dieses Milieus.
(FAZ, 16.03.2010)

Mit der Befristung des Erhalts staatlicher Sozialhilfe auf insgesamt fünf Jahre kann die Reduzierung der Zahl der Leistungsempfänger nicht ausbleiben. Das in diesem Zeitraum massiv angewachsene soziale Elend fällt aus Heinsohns Bilanz schlicht heraus. Daß Hunger und Obdachlosigkeit zunehmen, daß der Graben zwischen Arm und Reich immer tiefer wird und die Knäste immer voller werden, scheint für ihn nichts mit der Verringerung staatlicher Hilfsleistungen zu tun zu haben.

Schon kurz nach Inkraftreten der Sozialhilfereform 1996 stellten die Experten der Hilfsorganisation Second Harvest einen so drastischen Anstieg der Nachfrage nach Armenspeisungen fest, daß sie der Not nicht entsprechen konnten, obwohl sie sich auf die absehbaren Folgen der Sozialhilfereform eingestellt hatten. Als die Behörden Idahos - um die verheerenden Folgen der US-Sozialhilfereform an einem signifikanten Beispiel zu schildern - sich ein Jahr nach ihrer Einführung rühmten, die Zahl der Sozialhilfeempfänger in ihrem Bundesstaat um 77 Prozent gesenkt zu haben, stellt die Menschenrechtsorganisation United Vision for Idaho (UVI) nach der Befragung von Menschen, die die Angebote von Armenküchen, Armenkliniken, Obdachlosenheimen und Arbeitslosenprogrammen in Anspruch nahmen, eine erhebliche Zunahme der Not fest.

Insbesondere Heranwachsende mußten unter der Reform leiden, gaben doch 28 Prozent der betroffenen Familien an, daß ihre Kinder aus Geldnot mindestens einen Tag im Monat hungern müßten. Das lag vor allem daran, daß die meisten Personen, die den Sprung vom Sozialhilfeempfänger zum Billiglohnarbeiter schafften, unterhalb der Armutsgrenze verblieben. Seit der Sozialhilfereform erhalten die Bedürftigen Idahos, auf ihr ganzes Leben berechnet, maximal 24 Monate lang Sozialhilfe. Zudem wurde das Kindergeld auf damals 276 Dollar im Monat beschränkt, unabhängig davon, wieviele Kinder die Familie hat. Um diese Finanzhilfe in Anspruch zu nehmen, mußte mindestens ein Elternteil entweder Arbeit haben oder auf Arbeitsuche sein.

Nachdem das Nahrungsmittelhilfsprogramm der US-Regierung im Rahmen der Sozialhilfereform zusammengestrichen worden war, verloren landesweit vier Millionen Menschen ihren Anspruch auf Lebensmittelkarten. Bis dahin hatten 25 Millionen Bedürftige Anspruch auf kostenlose Nothilfe geltend machen können. Ganz im Sinne des Gesetzestitels "Personal Responsibility and Work Opportunity Act" wurden gesunde, kinderlose Erwachsene im arbeitsfähigen Alter bei der Vergabe von Lebensmittelkarten bevorzugt, so daß diejenigen Menschen, die ohnehin am meisten Not litten, auch am härtesten von den Sozialkürzungen getroffen wurden.

Heute ist eine Rekordzahl von 36 Millionen US-Bürgern auf die staatliche Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Sie stellt mit Lebensmittelkarten im Wert von 100 Dollar pro Person und Monat - Berechnungsgrundlage ist ein Dollar pro Mahlzeit - den letzten Notnagel für Menschen dar, die keine Sozialhilfe mehr erhalten, aber auch sonst fast keine Einkünfte haben. Gut sechs Millionen US-Bürger leben in Haushalten, die offiziell als einkommenslos gelten. Sie müßten ohne Lebensmittelhilfe schlicht verhungern. Fast 50 Millionen Menschen in den USA leben jüngsten Erhebungen zufolge in Ernährungsunsicherheit. Sie müssen immer wieder phasenweise hungern und sind aufgrund ihrer kargen Diät gesundheitlich angeschlagen, was sich langfristig in einer sinkenden Lebenserwartung ausdrückt.

Die von der neokonservativen Elite der Bundesrepublik begrüßte Forderung Heinsohns nach Befristung der Sozialhilfe soll die Menschen hierzulande ebenfalls an diesem zivilisatorischen Fortschritt teilhaben lassen. Im letzten Absatz seines FAZ-Beitrags eröffnet Heinsohn dem davon profitierenden Publikum verlockende Aussichten auf die sozial besonders ungerecht formierte Gesellschaft:

Solange die Regierung das Recht auf Kinder als Recht auf beliebig viel öffentlich zu finanzierenden Nachwuchs auslegt, werden Frauen der Unterschicht ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen. Allein eine Reform hin zu einer Sozialnotversicherung mit einer Begrenzung der Auszahlungen auf fünf Jahre statt lebenslanger Alimentierung würde wirken - nicht anders als in Amerika. Eine solche Umwandlung des Sozialstaats würde auch die Einwanderung in die Transfersysteme beenden. Deutschland könnte dann im Wettbewerb um ausländische Talente mitspielen, um seinen demographischen Niedergang zu bremsen.
(FAZ, 16.03.2010)

Die "kognitive Elite" der Bundesrepublik unternimmt gar nicht erst den Versuch, ihre Pläne unter den Scheffel menschenfreundlicher Absichten zu stellen. Soziale Selektion nach erbbiologischen Kriterien, systematisch erzeugter Mangel als sozialpolitisches Regulativ, sozialrassistische Frauenfeindlichkeit ... wer bietet mehr? Im Rennen der Sarrazin, Westerwelle und Sloterdijk um den Titel des größten Sozialverächters setzt auch Heinsohn auf Sieg.

1992 versprach Bill Clinton im Wahlkampf, "Wohlfahrt, wie wir sie kennen, zu beenden". Er hielt Wort und verschärfte das soziale Klima in den USA auf eine Weise, daß die neokonservative Strategie, die Masse der Menschen in Dummheit und Unmündigkeit zu halten, wie eine selbsterfüllende Prophezeiung funktionierte. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und wachsender Ressourcenknappheit ist der Sozialdarwinismus auch in der Bundesrepublik zur selbstevidenten Maxime politischen Handelns geworden. Selbst Hartz IV-Empfänger erkennen im mißliebigen Ausländer den Freßfeind, anstatt sich über den Klassencharakter des Sozialkampfes klar zu werden. Sage später niemand, er habe nicht gewußt, worauf die Wiederkehr sozialrassistischer Anthropologie hinausläuft.

18. März 2010