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RAUB/0952: Langeweile als Tatmotiv ... soziale Grausamkeit als Lerninhalt (SB)



Angeblich aus Langeweile wurde zu Pfingsten ein Wohnungsloser im niederrheinischen Kamp-Lintfort ermordet. Das zumindest ist die Schlußfolgerung der Duisburger Polizei, deren Sprecher über das Motiv der geständigen Jugendlichen, die den sehbehinderten Mann in seinem Blut liegenließen, nachdem sie brutal auf ihn eingeprügelt hatten, gegenüber Spiegel Online mutmaßte: "Kein Alkohol, keine Drogen, keine anderen Substanzen - aber jede Menge Langeweile" [1].

Mit dieser Einschätzung werden die 16- und 17jährigen Jugendlichen als Soziopathen diagnostiziert, die ihre Tat völlig unabhängig von den sozialen Bedingungen, unter denen sie stattfand, begingen. Sie hatten den 51jährigen Frührentner, der seit einem Brand in seiner Wohnung vor vier Monaten in einem Opel Corsa lebte, in der Nacht mit tätlichen Angriffen terrorisiert und schließlich umgebracht. Da Angriffe von Jugendlichen auf gesellschaftliche Außenseiter immer wieder vorkommen, verkürzt man mit dem dabei häufig genannten Motiv der Langeweile einen gegen soziale Absteiger gerichteten Haß auf eine Weise, die verhindert, daß das Übel an der Wurzel seiner kapitalistischen Vergesellschaftungspraxis gepackt wird.

Einen sehbehinderten Mann zu attackieren, der allein auf einem Parkplatz in einem Kleinwagen lebt und damit offensichtlich zu den Verlierern gehört, erscheint auf jeden Fall weniger gefährlich als einen gutsituierten Bürger anzugreifen, der Wohlstand und Einfluß ausstrahlt. Einer mißliebigen Stimmung nicht, wie allgemein üblich, auf sozial verträgliche Weise zu entkommen, sondern einen Menschen anzugreifen und zu ermorden, ist keiner Verkettung unglücklicher Umstände geschuldet. Ganz offensichtlich wähnten sich die Jugendlichen schon dadurch geschützt, daß ihr Opfer ein "Loser" war, der ganz unten in der sozialen Hackordnung rangiert und den man dementsprechend straflos peinigen kann. Diese Einschätzung ist kaum aus der Luft gegriffen, wenn Privateigentum weit besser geschützt wird als das Leben von Menschen, die auf der Straße leben und mitunter durch Platzverweise oder andere Maßnahmen in Randbezirke gedrängt werden, wo sie Angreifern noch schutzloser ausgeliefert sind.

Die sich in allen westlichen Industriestaaten häufenden Morde an Wohnungslosen, Behinderten, Migranten und anderen als verzichtbar stigmatisierten Menschen sind Ergebnis einer sozialen Ausgrenzungspraxis, die zwar nicht offiziell gefördert, der jedoch durch die Anprangerung von Erwerbslosen und Erwerbsunfähigen als unproduktive Nutznießer der Arbeit anderer Vorschub geleistet wird. Um Kinder und Jugendliche auf hochgradige Leistungsbereitschaft zu drillen, werden sie schon frühzeitig mit den schlechten Aussichten konfrontiert, die die Arbeitsgesellschaft für sie bereithält. Die Angst vor dem Scheitern als Erwachsener greift in immer jüngeren Jahren um sich, und das nicht nur aufgrund der realen gesellschaftlichen Lage. Die Zurichtung der Heranwachsenden auf das Prinzip der Leistungskonkurrenz erfordert eine Konditionierung auf rücksichtslose Durchsetzung eigener Interessen, mit der man nicht warten kann, bis sich andere Prioritäten der geistigen Erkenntnis und des sozialen Umgangs herausgebildet haben. An die Stelle des solidarischen Umgangs mit Schwächeren tritt das sozialdarwinistische Überlebensprimat, das Kinder und Jugendliche frühzeitig mit der menschlichen Grausamkeit vertraut macht, ohne die es nach herrschender neoliberaler Doktrin kein Wirtschaftswachstum gibt.

Daß die Entsolidarisierung auch unter den davon am meisten Betroffenen um sich greift, ist erwünschtes Ergebnis einer gesellschaftlichen Atomisierung, mit der Überlebensprimat und Individuation in eins gesetzt werden. Nur den eigenen Vorteil im Sinn haben, keinesfalls die Sorgen anderer mitbedenken oder gar eine Verbindlichkeit entwickeln, auf die der andere bauen kann, sind Merkmale einer Sozialisation, in der der Kapitalismus zu sich selbst kommt. Der von vielen Pädagogen bei Jugendlichen bestätigte Mangel an empathischer Kontaktfähigkeit zeigt sich auch bei dem mutmaßlichen 16jährigen Haupttäter des Mordes in Kamp-Lintfort, den der Leiter der Mordkommission, Arndt Rother, als "kalt, emotionslos und abgebrüht" charakterisiert [1].

Die sozialdarwinistische Auslesepraxis bringt Schattenwürfe der Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse hervor, für die der Mensch als Gattungswesen keine Gültigkeit besitzt, weil ein über ihre Vorteilsnahme herausgehendes Allgemeines nicht einmal im Entwurf existiert. Die vermeintlich mögliche Ausblendung aller anderen, die nur dann befristet in Erscheinung treten, wenn sie für das eigene Interesse von Nutzen sind, hat jedoch einen Verfall an kultureller Kompetenz zur Folge, die sich auch auf den angestrebten Erwerb wirksamer Raubpraktiken kontraproduktiv auswirkt. Wer ausschließlich um den eigenen Bauchnabel kreist, verliert die Fähigkeit, soziale und gesellschaftliche Entwicklungen zu antizipieren, die selbst für den vordergründigen Nutzen unentbehrlich sind. Das erfolgreichste aller Raubtiere gräbt sich dadurch, daß es den Raub verabsolutiert und die vielen anderen Möglichkeiten humaner Entwicklung ignoriert, das Grab einer Hybris, die nicht umsonst schon an der Bewältigung eines Luxusproblems wie dem der Langeweile scheitert. Woher all der Haß kommt, will es nicht wissen, weil es lieber an seinem Treibstoff verbrennt, als das ihn bedingende Raubprinzip grundsätzlich in Frage zu stellen.

Fußnote:

[1] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,697369,00.html

29. Mai 2010