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RAUB/0972: "Deutsche Zustände" ... abgeschafft wird die Kritik an ihnen (SB)



Die aktuelle Ausgabe der Langzeitstudie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", mit der am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld die Befindlichkeiten der Bundesbürger ausgelotet werden, bestätigt nicht nur, daß die Wirtschaftskrise bei immer mehr Menschen Angst auslöst, die aggressiv gegen andere gerichtet wird. Die Sozialforscher haben vor allem herausgefunden, daß die aggressive Umlastung dieser Angst auf Schwächere desto mehr zunimmt, je weniger die Menschen dazu tatsächlichen Anlaß haben. "Bei den Besserverdienenden steigt der Anteil derjenigen, die meinen, weniger als ihren gerechten Anteil zu erhalten - trotz der Umverteilung von unten nach oben gemessen anhand objektiver Daten", lautet eine zentrale Erkenntnis der Studie.

Der Zusammenhang zwischen eigenem Erfolg und dem Verächtlichmachen der Armen ist in einer neoliberalen Konkurrenzgesellschaft schon deshalb naheliegend, weil der Weg nach oben wenn nicht über Leichen, dann zumindest unter rücksichtslosem Einsatz der Ellbogen vonstattengeht. Einmal auf Erfolg um jeden Preis getrimmt und nach Maßgabe der Selbstoptimierung auf das eigene Vorankommen fixiert entdeckt der Karrierist nicht plötzlich sein Herz für diejenigen, die es schlechter als er haben. Sie sind, wie die neoliberale Doktrin der Eigenverantwortung suggeriert, selbst für ihr Schicksal verantwortlich. Ganz so wie der berufliche Erfolg auf einer Leistungsfähigkeit beruhen soll, die sich bei Kapitalinvestoren anhand der Größe ihres Portefeuilles bemißt, wird das Konto der Gescheiterten mit dem Vorwurf ungenügender Bemühung oder defizitärer Befähigung belastet. Die Bezichtigungslogik, die den einzelnen zum Verursacher seiner Misere erklärt, treibt die zur Krisenbewältigung angeblich unausweichliche Austeritätspolitik bis an den Rand des nicht mehr gewährleisteten Überlebens der von ihr Betroffenen. Die Gesellschaft hat als maßgebliche Instanz persönlicher Entwicklung ausgesorgt. Selbst ist die Frau und der Mann im Sinne einer Axiomatik kapitalistischer Ermächtigung, die sich staatlicherseits in der Legitimation von Maßnahmen zur Entsorgung der Überflüssigen niederschlägt. Sozialisiert werden die Verluste in Form von Mangel und Zwang, privatisiert wird der daraus geschöpfte Reichtum zum Sound einer Freiheitsrhetorik, die im Kern den größten Räuber glorifiziert.

So gelangt die Bielefelder Studie zu dem empirisch belegten Schluß: "Wer eine ökonomistische Sichtweise teilt - d.h. Menschen nach ihrem Nutzen beurteilt - neigt deutlich eher zur Abwertungen schwacher Gruppen. Der Zusammenhang ist bei denen besonders hoch, die sich selbst 'oben' verorten." Daß Rassismus und Sozialchauvinismus dort virulent sind, wo die Objekte der Diffamierung und Ausgrenzung am wenigsten anzutreffen sind, liegt nur scheinbar nahe. Auch entsteht eine ökonomistische Sicht nicht aus sich selbst heraus, sondern ist Ergebnis des Interesses, die Verwertbarkeit und Verfügbarkeit der anderen zum Vehikel eigener Überlebenssicherung zu machen. Feindseligkeit gegenüber Schwächeren zu entwickeln ist Ausdruck einer interessenbezogenen Stellungnahme, wie die stets vorhandene Gegenposition der Solidarisierung belegt. Die "gesellschaftlichen Vergiftungen", die die Autoren der Studie diagnostizieren, sind kein passiv erlittenes krisenbedingtes Schicksal, sondern Ausdruck der gesellschaftlichen Transformation, die im Krisenmanagement der Sparpakete und Ausbeutungsverdichtung konzeptionell angelegt ist.

Was zu Beginn mit dem psychologistischen Erklärungsmuster der Gier als Krisenursache moralisch verdammt wurde, wird heute dem irrationalen Charakter der Erklärung gemäß als Naturereignis und Leistungsmerkmal der Eliten rehabilitiert. Die "rohe Bürgerlichkeit", die die sozialdarwinistische Barbarisierung der Gesellschaft laut der Studie hervorbringt, findet ihr kulturindustrielles Pendant nicht nur im sogenannten Unterschichtenfernsehen, wo anhand des gezielten Vorführens und Verurteilens menschlicher Schwächen Normen erlaubter und erwünschter Erniedrigung gesetzt werden, mit denen diejenigen, die am meisten Grund dazu hätten, sich gegen die Urheber ihrer Ausgrenzung zu verbünden, gegeneinander gehetzt werden. Sie schlägt sich auch im feindseligen Tenor von Teilen der sogenannten Intelligenzpresse nieder, wo die Solidargemeinschaft als Auswuchs parasitärer Leistungsverweigerung demontiert und Muslime als Bedrohung der westlichen Welt inszeniert werden.

Während die Eliten ihre massenmedial und institutionell verstärkte Definitionsgewalt zu ihren Gunsten einsetzen, scheinen die davon Betroffenen mit Sprachlosigkeit geschlagen zu sein. Bei allem Mangel an politischer Streitbarkeit unter den Millionen erwerbsarmen und versorgungsbedürftigen Menschen im Lande ist dies zu einem Gutteil der Praxis vieler Medien, die sozialrassistischen Diffamierungen eines Sarrazin zu vervielfältigen, während dagegen gerichtete Positionen untergehen, zuzuschreiben. Dabei sprechen die Bielefelder Sozialforscher dankenswerterweise Klartext, wenn sie die Entsolidarisierung der Gesellschaft als willkürliches, immer unverhohlener vorangetriebenes Projekt derjenigen darstellen, die von der Umverteilung von unten nach oben profitieren. Sie verweisen darauf, daß die Hinwendung höherer Einkommensgruppen zu reaktionären Einstellungen durch politische Entscheidungen befeuert und von liberalen Publikationen flankiert wird. Wo die "rohe Bürgerlichkeit (...) ihren gepflegten Konservatismus unter dem Druck der Verhältnisse" abstreift und in höheren Einkommensgruppen "unzivilisierte, intolerante - verrohte - Einstellungen" hervortreten, geht es "um die Sicherung bzw. Steigerung eigener sozialer Privilegien durch Abwertung und Desintegration volkswirtschaftlich etikettierter Nutzloser sowie um die kulturelle Abwehr durch Abwertung (etwa hinsichtlich der Islamfeindlichkeit)."

Den derzeit führenden Protagonisten des gehobenen deutschen Sozialrassismus, Thilo Sarrazin, könnte man als Paradebeispiel für "rohe Bürgerlichkeit" und Stichwortgeber für die untersuchten Kategorien "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" bezeichnen. Er erfreut sich mit über einer Million gedruckten Exemplaren seines Buches "Deutschland schafft sich ab", mit zahlreichen Talkshowauftritten und großer Präsenz in den Printmedien massenhaften Zuspruchs. Als der ehemalige Bundesbanker am 30. August sein Buch im Haus der Bundespressekonferenz unter großer Beteiligung der Presse und elektronischen Medien vorstellte, war das Spektakel als solches eine Nachricht ersten Ranges. Nachdem Wilhelm Heitmeyer vom IKG die von ihm herausgegebene, beim Suhrkamp-Verlag in Buchform veröffentlichte Studie am 3. Dezember an nämlichem Berliner Ort vorstellte, wurde über deren Ergebnisse in nur wenigen Zeitungen berichtet. Eine deutlichere Bestätigung für die Relevanz der sich schon vor Erscheinen der Bielefelder Studie aufdrängenden Schlußfolgerung, daß mit der Abschaffung sozial- und herrschaftskritischer Interventionen ein systematisch vollzogener gesellschaftlicher Wandel hin zur Verabsolutierung sozialdarwinistischer Überlebenstüchtigkeit vorbereitet wird, hätte man sich lieber nicht wünschen mögen.

Fußnote:

Zitate aus "Deutsche Zustände. Unruhige Zeiten. Presseinformation zur Präsentation der Langzeituntersuchung Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" - http://www.uni-bielefeld.de/ikg/index.htm

10. Dezember 2010