Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


RAUB/1089: Ist TTIP gescheitert? - Bremsen, um zu überholen (SB)



Das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, von seinen Gegnern auch als "Wirtschafts-NATO" bezeichnet, repräsentiert als ökonomisches Pendant zur militärischen Expansion der westlichen Mächte deren strategischen Entwurf, ihre Kapitalfraktionen in der globalen Konkurrenz mit den sogenannten BRICS-Staaten in die Offensive zu bringen. Im Versuch, die Ideologie des Freihandels in den Rang eines unabweislichen Leitmotivs zu erheben und entsprechende Abkommen durchzusetzen, drängen staatliche Sachwalter hegemonialer Zugriffsentwicklung darauf, dem Kapital neue Profitmöglichkeiten zu erschließen, indem Bereiche der Gesellschaft in privatwirtschaftliche Profitmaximierung überführt werden, die dieser zuvor nicht zugänglich waren.

So fundamental diese Interessen angesichts der Verwertungskrise des Kapitals auch sein mögen, lassen die inneren Widersprüche des ökonomischen Brückenschlags über den Atlantik zwangsläufig Risse in der Konstruktion aufbrechen. Zum einen sind die Europäische Union, die USA und Kanada nicht nur Handelspartner, sondern zugleich Konkurrenten auf dem Weltmarkt. So ist beispielsweise aus US-amerikanischer Perspektive das bereits geschlossene pazifische Freihandelsabkommen TPP wesentlich wichtiger als die europäische Ergänzung TTIP, als deren eigentlicher Motor die EU anzusehen ist. Auch werden in den USA sehr viele Aufträge lokal vergeben, was gegen die WTO-Richtlinien verstößt und der Praxis innerhalb der EU zuwiderläuft. Zum anderen sind die nationalen Kapitalfraktionen kein monolithischer Block, sondern verfolgen nicht selten divergierende, mitunter sogar einander widersprechende Zielsetzungen, was ihre internationale Präsenz betrifft. Auch können kleine und mittelständische Unternehmen hinsichtlich der geplanten Freihandelsabkommen durchaus zu anderen Schlüssen als große Konzerne gelangen.

Beispielsweise versucht die US-amerikanische Agrarlobby im Rahmen der TTIP-Verhandlungen, die Gentechnikfrage in den Mittelpunkt zu stellen, da sie gentechnisch verändertes Saatgut und gentechnisch veränderte Lebensmittel großflächig in der EU verkaufen will. Für die europäische Saatgutindustrie ist Gentechnik jedoch längst nicht so wichtig, zumal eine starke Verbraucherschutzbewegung im Namen von Millionen Menschen Gentechnik in diesem Sektor fundamental ablehnt. Umgekehrt möchte das verarbeitende Gewerbe in Deutschland, das zu den weltweit exportoffensivsten gehört, die bereits in der EU durchgesetzten Standards auch auf die USA übertragen. Das fürchtet jedoch das dortige verarbeitende Gewerbe, weil das hochproduktive deutsche Kapital noch stärker auf den US-amerikanischen Markt drängen und die Konkurrenz verschärft würde.

Angesichts dieser Gemengelage, für die sich zahlreiche weitere Beispiele einander widersprechender Partialinteressen anführen ließen, kommt den Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbänden, vor allem aber der Bewegung gegen die Freihandelsabkommen, die in Deutschland stärker als als irgendwo sonst in der EU Flagge zeigt, eine entscheidende Bedeutung zu. Sollte es ihnen gelingen, diese Risse zu vertiefen und die Deutungsmacht der TTIP-Befürworter in der öffentlichen Diskussion zu brechen, setzt dies die politischen Entscheidungsträger unter Druck, Ausweichmanöver oder einen taktischen Rückzug einzuleiten, um die Freihandelsabkommen nicht komplett gegen die Wand zu fahren.

So hat Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel im Sommerinterview des ZDF das geplante Freihandelsabkommen TTIP in Frage gestellt: "Die Verhandlungen mit den USA sind de facto gescheitert, weil wir uns den amerikanischen Forderungen natürlich als Europäer nicht unterwerfen dürfen. Da bewegt sich nix." [1] Auch in Frankreich wachsen seit Monaten die Zweifel am Erfolg der Verhandlungen. Präsident François Hollande hatte im Mai damit gedroht, das Abkommen abzulehnen. Sein Land werde "niemals akzeptieren, dass die Grundprinzipien für unsere Landwirtschaft, unsere Kultur, für die Gegenseitigkeit beim Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen in Frage gestellt werden". Nun legte Außenhandelsstaatssekretär Matthias Fekl mit den Worten nach, es gebe für diese Verhandlungen keine politische Unterstützung Frankreichs mehr. Grund sei "die derzeitige Einstellung der USA". Europa schlage viel vor und bekomme im Gegenzug "kaum etwas". Daher wolle Frankreich im kommenden Monat die EU-Kommission auffordern, die Verhandlungen zu stoppen und einen "Neustart" einzuleiten. [2]

Wie die französische Regierung lehnt auch Gabriel Freihandelsabkommen als solche keineswegs ab, die er sogar ausdrücklich befürwortet: Deutschland setze sich als exportorientierte Nation für Freihandel ein. Als positives Beispiel nennt er das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada, das fertig ausgehandelt ist und ganz ähnliche Bestimmungen wie TTIP enthält. Bei seiner Spiegelfechterei geht es dem Wirtschaftsminister offensichtlich darum, das Abkommen mit Kanada zu retten, um den USA und letztlich auch TTIP eine Hintertür zu öffnen. Träte CETA in Kraft, könnten US-Konzerne über kanadische Tochterunternehmen beispielsweise EU-Mitgliedsstaaten auf Schadenersatz verklagen, sollten ihren Geschäftserwartungen durch Gesetzesänderungen ein Strich durch die Rechnung gemacht werden. Zudem wäre CETA ein Eisbrecher für TTIP, das zu einem späteren Zeitpunkt mit einigen kosmetischen Änderungen leichter als bislang nachgeschoben werden könnte. [3]

Was die TTIP-Verhandlungen mit den USA betrifft, gibt Gabriel den aktuellen Stand durchaus angemessen wieder. Laut der kürzlich veröffentlichten Zwischenbilanz des Wirtschaftsministeriums gibt es bislang "in keinem der 27 bis 30 Kapitel, die das TTIP-Abkommen am Ende umfassen könnte, eine Verständigung in der Sache". So weigern sich die USA im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe, europäische Firmen mit amerikanischen gleichzustellen, und wollen an dem Prinzip "buy American" festhalten. Umgekehrt will die EU teilweise an Zöllen für bestimmte Agrarprodukte wie Rind-, Schweine- und Geflügelfleisch sowie Milchprodukte festhalten. Die USA sind hier nur zu Zugeständnissen bereit, sollten sie ihre Autoindustrie durch Importzölle gegen die europäische Konkurrenz schützen können. Das Ministerium schätzt die Möglichkeit einer Einigung bis Ende des Jahres als gering ein und geht davon aus, daß sich die Konflikte eher noch verschärfen werden. Im US-Präsidentschaftswahlkampf hätten sich beide Kandidaten kritisch zu Freihandelsabkommen geäußert.

Gabriels Positionierung, die nicht zuletzt auch der Befindlichkeit in der der eigenen Partei und in den Gewerkschaften geschuldet ist, rief seitens des Koalitionspartners heftigen Widerspruch auf den Plan. So erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert, die gesamte Bundesregierung halte einen zügigen Abschluß des TTIP-Abkommens für ein zentrales Vorhaben. TTIP sei zwar eine Sisyphosarbeit, aber noch lange nicht gescheitert, erklärte der wirtschaftspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Joachim Pfeiffer. "Ich erwarte von dem Wirtschaftsminister, dass er sich im Interesse der exportorientierten deutschen Wirtschaft an die Spitze der Bewegung stellt und nicht die Flinte ins Korn wirft." Und der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Michael Fuchs verwahrte sich dagegen, daß TTIP "mit unwahren Behauptungen kaputt geredet werden" solle. "Die Gewichte in der Welt verschieben sich immer mehr Richtung Asien. Wir haben jetzt die Wahl: Wollen wir Handelsregeln weiter mitbestimmen oder machen wir uns zu Zaungästen?"

Der Wirtschaftsminister handelte sich auch scharfe Kritik von Wirtschaftsverbänden ein. Die Verhandlungen seien "noch nicht gescheitert", betonte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Martin Wansleben. Gabriel sei gut beraten, sich für die Interessen der Wirtschaft einzusetzen. Die EU-Kommission hält die Verhandlungen weiterhin für offen: "Wenn die Bedingungen stimmen, ist die Kommission bereit, dieses Abkommen bis Ende des Jahres unter Dach und Fach zu bringen", sagte der Kommissionssprecher Margaritis Schinas in Brüssel. Irritiert reagierte die US-Regierung: So erklärte der Sprecher des US-Handelsbeauftragten Michael Froman, die Verhandlungen machten "in Wahrheit ständig Fortschritte". Es liege in der Natur von Handelsgesprächen, daß nichts vereinbart sei, bis alles vereinbart sei.

Solche Verbalakrobatik kann indessen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die transatlantischen Konflikte verschärfen. Die USA haben mit TPP ihr vordringliches handelspolitisches Ziel erreicht, und mit Großbritannien verläßt ein wichtiger Handelspartner demnächst die EU. Hierzulande mehren sich Stimmen, die deutsche Wirtschaft solle sich stärker auf Asien orientieren und von den USA keine Bedingungen diktieren lassen. Europa müsse sich unter deutscher Führung als eigene Weltmacht etablieren. Sowenig sich die Bewegung gegen die Freihandelsabkommen diesen Streit unter imperialistischen Blöcken strategisch zu eigen machen sollte, liefert er doch in taktischer Hinsicht durchaus Munition, die wachsenden Risse zum Bruch von TTIP und CETA zu vertiefen.

Nach der großen bundesweiten Demonstration am 10. Oktober 2015 mit 250.000 Menschen in Berlin und der Demonstration mit 90.000 Menschen in Hannover anläßlich des Treffens zwischen Obama und Merkel am 23. April 2016 ruft ein Bündnis von über 30 Organisationen für den 17. September zu zeitgleichen Protesten in sieben deutschen Großstädten auf. Am 19. September sollen ein SPD-Konvent und vier Tage später die EU-Handelsminister auf einem Treffen in Bratislava das fertig ausgehandelte Freihandelsabkommen mit Kanada billigen. Dort soll der Weg für die Unterzeichnung und eine vorläufige Anwendung freigemacht werden. Da letztere aktuell die größte Gefahr darstellt, käme eine Ablehnung von CETA seitens der SPD-Delegierten einem Meilenstein gleich: Dann nämlich könnte Gabriel in Bratislava nicht zustimmen.


Fußnoten:

[1] https://www.wsws.org/de/articles/2016/08/30/ttip-a30.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/freihandelsabkommen-ttip-in-bedraengnis.1818.de.html?d

[3] Siehe dazu:
RAUB/1088: Gabriels Schmierenkommödie in Sachen Freihandel (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1088.html

30. August 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang