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RAUB/1123: "Aber was ist mit den Hühnern?" (SB)



"Du, ich habe im Fernsehen gesehen, daß die Arbeiter, die das Milbenmittel in Hühnerställen versprühen, durch das das Fipronil in die Eier gekommen ist, Schutzanzüge tragen." "Dann sind ja sicher nicht nur die Eier, sondern auch das Fleisch kontaminiert." "Aber was ist mit den Hühnern?"

Was soll mit den Hühnern sein? Als Subjekte mit eigenen Interessen und Neigungen, Ängsten und Hoffnungen existieren sie aus menschlicher Sicht nicht, so daß sie ungestraft ausgebeutet und getötet werden dürfen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes "vogelfrei", auch wenn der gesetzliche Tierschutz Einschränkungen bei ihrem Verbrauch aufzeigt. Wenn anläßlich des Fipronil-Skandals gefordert wird, nun gehe es darum, "so schnell wie möglich wieder Vertrauen in die Eier, die Hühner und die ganze Branche herzustellen" [1], dann sind damit Tiere gemeint, die ganz und gar Adressaten eines ihnen fremden Interesses sind, die nicht einmal über einen Restbestand an von Vernutzung durch andere freies Leben verfügen. Für die Produktion von Eiern und Fleisch geboren ist das auf diesen Zweck zugerichtete Huhn mehr ein technisch-wissenschaftliches Artefakt als ein Tier im landläufigen Sinne. So schwer, daß der Hahn unter seines Fleisches Last zusammenbricht, so überstimuliert, daß die Henne von der Vielzahl gelegter Eier ausgezehrt und lange vor Ablauf ihrer biologisch möglichen Lebenszeit restverwertet wird, sind diese Tiere ihrer ursprünglichen Natürlichkeit in einem Ausmaß entfremdet, daß ihr Dasein als industrieller Betriebsstoff sogar als artgerecht und angemessen bezeichnet werden kann.

Das meint zumindest die Co-Leiterin des Wissenschaftlichen Geflügelhofes des Bundes Deutscher Rassegeflügelzüchter und anerkannte Hühnerexpertin Dr. Inga Tiemann. Ihrer Antwort auf die Frage eines DLF-Moderators danach, wie sie über die Hühnerhaltung in Ställen denkt, ist die positive Bewertung der Domestizierung sogenannter Nutztiere implizit, sprich die Forscherin handelt nach bestem Wissen und Gewissen: "Ich bedaure die industrielle Tierhaltung nicht - mit Einschränkungen -, denn die Tiere sind seit fast 70 Jahren perfekt darauf gezüchtet, in beengten räumlichen Verhältnissen klar zu kommen. (...) Sie sind perfekt auf diese Umwelt angepaßt." [2] Der Erfolg der Zurichtung auf einen Lebenssinn, der allein im Verzehr durch andere aufgeht, besteht aus dieser Sicht darin, daß die Hühner es einfach nicht besser wissen. Mit züchterischer Intelligenz der letzten Impulse verbliebener Wildheit beraubt sind sie nun sehr viel leichter zufriedenstellen, als wenn sie sich stets an den Gitterstäben ihrer Käfige rieben.

Wie sollte ein Mensch sein Leben als Gefangenschaft erkennen und den Ausbruch planen, wenn er keinen Begriff von Freiheit hat? Die Begrenzung seines Horizontes auf selbstgenügsames Funktionieren war stets der Schlüssel zu erfolgreicher Herrschaftsausübung und ist es heute noch. Das andere Wesen in seinen Fesseln zu bestätigen und sie damit enger zu ziehen, anstatt es solidarisch dabei zu unterstützen, sie zu sprengen, ist die Voraussetzung dafür, es im eigenen Interesse manipulieren, benutzen und verbrauchen zu können, ohne daß es dagegen Widerstand leistet. Stimmt es seiner Unterwerfung sogar bereitwillig zu, dann feiert die sozialdarwinistische Logik, durch die Vertiefung herrschender Gewaltverhältnisse bis in die elementaren Reflexe biologischer Determination hinein insgesamt größeren Nutzen zu erwirtschaften, Triumphe. Es ist die faschistische Doktrin vom organischen Ganzen des Volkes, der Rasse, der Spezies oder Art, dem sich der oder die einzelne zum Zwecke, ein höheres Ziel zu erreichen, auf Gedeih und Verderb zu unterwerfen hat.

So wenig, wie das Volk, die Nation, die Menschheit als selbstbestimmt handelndes Subjekt in Erscheinung tritt, so wenig sagt "das Huhn" etwas über das einzelne Wesen aus, das sich unter den 400.000 Hühnern befindet, die in einer großen Schlachtfabrik täglich getötet und verarbeitet werden. Unter den Tieren des Landes sind Hühner "das größte, am schnellsten expandierende Universum des Schmerzes und Leidens auf dem Planeten" [3]. Allein gelassen nicht nur von den "Verbrauchern", sondern auch von Philosophen wie Peter Singer, der 1975 mit "Animal Liberation" die Bibel der Tierrechtsbewegung vorgelegt hat. Auch er ist der Ansicht, daß es ethisch konform sei, Hühner zu schlachten, verfügten diese doch über kein Selbstbewußtsein und hegten demgemäß keine Erwartungen an die Zukunft.

Was also ist mit den Hühnern? Eben das, was alle menschlichen und nichtmenschlichen Tiere wissen und miteinander gemein haben, wenn ihnen aus dem bodenlosen Faß des Schmerzes eingeschenkt wird.


Fußnoten:

[1] https://www.tag24.de/nachrichten/de-volkskrant-hollands-gefluegelbranche-muss-vertrauen-herstellen-d276223

[2] http://www.deutschlandfunk.de/zwischen-sojaschrot-und-stallpflicht-auf-der-suche-nach.1775.de.html?dram:article_id=383120

[3] http://www.upc-online.org/thinking/peter_singer.html

11. August 2017


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