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RAUB/1184: SPD - kosmetische Aussichten ... (SB)



Ich würde mir wünschen, dass die SPD so mutig gewesen wäre, statt eines Bürgergeldes (...) eine solidarische Bürgerversicherung (zu fordern). Das wäre eine Lösung, alle einzubeziehen, auch Freiberufler, Selbstständige, Abgeordnete, Beamte und Minister (...) und damit den Sozialstaat wieder auf ein festes finanzielles Fundament zu stellen.(...) In Form eines inklusiven Sozialstaats eine soziale Grundsicherung, die armutsfest ist, die bedarfsdeckend ist und die repressionsfrei ist, also ganz ohne Sanktionen auskommt.
Christoph Butterwegge [1]

Die SPD droht in Bedeutungslosigkeit zu versinken, weil sie sich aus Sicht der Wählerschaft überflüssig gemacht hat. Sozialdemokratie steht nicht für Sozialstaat, sondern für dessen Abbau, was auch für eine Reihe anderer Parteien gilt. Im Unterschied zur konservativen und liberalen Konkurrenz kam der SPD jedoch seit jeher die Aufgabe zu, ihre Kernklientel in Gestalt der lohnarbeitenden Bevölkerung einzuspinnen und ruhigzustellen. Da sie diese Funktion nicht länger erfüllt, weil ihre Glaubwürdigkeit in den Keller gestürzt ist, ringt sie verzweifelt um die Wiederherstellung ihrer Bindekraft. Daß sie nun eine Kehrtwende simuliert, die als Linksruck mißdeutet wird, heißt denn auch nur soviel, daß sie sich abermals für die staatstragende Aufgabe ins Zeug legt, die sie schon immer wahrgenommen hat: Sie sondert kosmetische Korrekturen ab, um die verheerende Wucht von Hartz IV und Altersarmut nicht zum Bumerang für die herrschende Ordnung werden zu lassen.

Entgegen anderslautenden Gerüchten hat die SPD keineswegs vor, Hartz IV abzuschaffen und ein armutsfestes Rentensystem zu schaffen. Das ist aus zwei Gründen in dieser Gesellschaft nicht vorgesehen. Zum einen soll die Umverteilung von unten nach oben eine Einbahnstraße bleiben, zum anderen die Kontrolle, Ausbeutung und Verfügung verschärft werden. Das hohe Produktivitätsniveau als Grundlage der deutschen Exportstärke zu Lasten schwächerer Volkswirtschaften setzt den größten Niedriglohnsektor Europas voraus, der mit Hungerlöhnen und Ausgrenzung für überflüssig erklärter Bevölkerungsteile ein Zwangsregime etabliert hat. Bloße Umverteilungsansätze, die diesem System von Herrschaftssicherung und Kapitalverwertung nicht Rechnung tragen, greifen zwangsläufig zu kurz, soweit sie auf gesamtgesellschaftliche Vernunft zum Wohle aller rekurrieren. Wer auf dem Rücken des andern reitet und ihn gnadenlos antreibt, hat zwangsläufig keinen Sinn dafür, die Plätze zu tauschen oder auch nur Seite an Seite voranzuschreiten.

Die SPD hat im Verbund mit den Grünen die Agendapolitik durchgesetzt und damit den deutschen Führungsanspruch beflügelt. 20 Millionen Menschen haben seit 2005 Hartz IV bezogen, sind verelendet und erniedrigt worden. Sie führen das nicht zu Unrecht vor allem auf die Sozialdemokraten zurück, obgleich CDU/CSU und FDP das Gesetzespaket sogar noch verschärft haben. Soweit das Wahlvolk nicht grundsätzlich die Frage aufwirft, ob seine Interessen in der repräsentativen Demokratie tatsächlich in Händen politischer Vertreter gut aufgehoben sind, neigt es dazu, enttäuschtes Vertrauen und gebrochene Versprechen auf die Dauer selektiv abzustrafen. Die bloße Stimmabgabe für eine andere Partei in einem solchen Szenario mit Einflußnahme zu verwechseln liegt dabei auf der Strecke.

Daß die SPD ihr Profil verloren hat, zeichnet sich nicht erst seit gestern ab. Vor zwei Jahren scheiterte der Versuch, sich in der Euphorie um den vermeintlichen Heilsbringer Martin Schulz am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Seither taumelte die Partei dem Abgrund entgegen, da jede Wahl oder Schreckenszahl der Demoskopen von ihrer anwachsenden Krise zeugte. Plötzlich ist Hochstimmung angesagt, gibt sich die Führungsriege geschlossen. Nach zahllosen Fehlversuchen, die Kurve zu kratzen, kommt der Grundrentenvorstoß von Arbeitsminister Hubertus Heil offenbar ebenso gut an wie das Konzept, Älteren länger Arbeitslosengeld I zu zahlen, 12 Euro Mindestlohn zu fordern, die Sanktionen zu reduzieren, eine neue Kindergrundsicherung einzuführen und ein Recht auf Homeoffice zu verankern.

Nach dem qualvollen Hin und Her um Hartz IV, dem Unmut über Parteichefin Andrea Nahles und Vizekanzler Olaf Scholz, den Attacken von Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel scheinen diese Probleme fast über Nacht wie weggewischt. Die Reihen zeigen sich geschlossen, flügelübergreifend von Juso-Chef Kevin Kühnert bis Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil loben Sozialdemokraten ihre Vorsitzende: Kühnert spricht von einem "wichtigen Befreiungsschlag", Weil von "einem wichtigen Schritt nach vorne". Dies sei "ausdrücklich auch das Verdienst von Andrea Nahles". Grenzt sich die SPD klar von der Union ab, zeigt sie ein eigenständiges Profil, kehrt sie am Ende gar dorthin zurück, wo sie angeblich einmal gewesen ist? Hält sie dem Gegenwind stand, der ihr seitens des Seniorpartners im Kabinett postwendend ins Gesicht fährt? Wird gar die Große Koalition auf den Prüfstand gestellt? Oder wird diesem Rausch der nächste Kater folgen?

In den Reihen der Linkspartei sorgt der neue Kurs der SPD für Irritationen. Jahrelang gehörte es zu ihrer Wahlkampfrhetorik, den Sozialdemokraten die Agenda-Reformen um die Ohren zu hauen. Schärft die SPD nun ihr soziales Profil, liegen zwei divergierende Reaktionsweisen nahe. Orientiert sich die Partei weiter nach links, um sich abzugrenzen, oder sieht sie Spielräume für eine künftige Zusammenarbeit in einem Mitte-Links-Bündnis? Fraktionschef Dietmar Bartsch hatte Heils Rentenvorstoß noch als "Erfolg der Linken" bezeichnet, doch die angebliche Abkehr der SPD von Hartz IV wird als "Mogelpackung" bezeichnet, da Regelsätze und Sanktionen kaum angetastet werden sollen. Die Forderung der Sozialdemokraten nach 12 Euro Mindestlohn, wie dies auch die Linkspartei verlangt, will diese mit einem Vorstandsbeschluß von 13 Euro kontern. Das dürfte die bei weitem leichteste Übung sein, zumal die strategische Frage, welcher Kurs angelegt werden soll, ein neuerliches innerparteiliches Zerwürfnis auf den Plan rufen könnte. [2]

Mit ihrer Kritik an sogenannten Mängeln des Sozialstaats, die es auszubügeln gilt, steht die SPD im bürgerlichen Lager nicht allein. Niemand will sich nachsagen lassen, er halte die aktuelle Situation für angemessen und gerecht, jeder will seine soziale Ader markant hervortreten lassen, und sei sie noch so schwach ausgeprägt. Keiner ist sich vor der Wahl zum Europäischen Parlament und dem diesjährigen Urnengang in Bremen, Sachsen, Brandenburg und Thüringen der Wählergunst sicher. Die FDP läßt kein gutes Haar an der Grundrente der SPD und legt die Basisrente als Gegenmodell vor. Wer gearbeitet und vorgesorgt habe, müsse stets mehr als die Grundsicherung und auch immer mehr als jemand, der das nicht getan hat, bekommen. Die Basisrente erhalte auch nur, "wer auch wirklich bedürftig ist". Das koste nur einen Bruchteil jener fünf bis sechs Milliarden, die für die SPD-Grundrente ins Kontor schlagen würden. [3]

Die CDU schlägt ihrerseits eine Modifikation von Hartz IV vor, jedoch mit anderer Stoßrichtung als die SPD. Sie will Arbeitslosen teilweise mehr abverlangen, die Betroffenen aber auch deutlich stärker fördern, damit sie wieder einen Job finden. Das Prinzip von "Fördern und Fordern" müsse gewahrt bleiben, betont ihr Entwurf verpflichtende Ansätze. "Personen, die das 40. Lebensjahr nicht vollendet haben, müssen eine Berufsausbildung in Angriff nehmen", heißt es in einem Vorschlag. Zudem sollten Anreize für geringfügige Beschäftigung vermindert und die Hartz-Leistungen stärker pauschal berechnet werden, statt wie heute vor allem auf Basis der individuellen Bedarfe. Die Jobcenter müßten zudem bei der Verwendung ihrer Mittel flexibler werden. [4]

Mit der Grundrente wollen Union und SPD laut Koalitionsvertrag Lebensleistung würdigen. Die gemeinsamen Pläne sahen dabei vor, daß geprüft wird, ob Begünstigte die Grundrente wirklich brauchen. Auf diese Prüfung will SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil nun aber verzichten. Seinen Angaben zufolge würden drei bis vier Millionen Menschen von seinem Konzept profitieren, davon drei Viertel Frauen. Weniger Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger bei Auflagenverstößen, einen längeren Bezug des Arbeitslosengeldes für Ältere und mehr gezielte Qualifizierung will die SPD erreichen. Die Union macht deutlich, daß sie daraus kein aktuelles Regierungshandeln machen will. Über die Vorschläge zur Qualifizierung könne man "noch mal reden", so CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer.

Politiker der Union kritisierten die Reformpläne der SPD heftig. CDU- Vize Bouffier nannte sie eine "Beerdigung der sozialen Marktwirtschaft". Der stellvertretende Vorsitzende der CSU- Landesgruppe, Hans Michelbach, bezeichnete das Vorhaben als "völlig unrealistisch, unbezahlbar und angstgetrieben". Andrea Nahles trat Mutmaßungen über ein mögliches vorzeitiges Ende des Bündnisses mit der Union dennoch entschieden entgegen. "Ich wüsste nicht, was die Beschlüsse dieses Wochenendes mit der Frage Verbleib oder Nichtverbleib in der Koalition zu tun hätten." Das sei kein Thema, ein "Nullthema, um genau zu sein". [5] Nach ihren jüngsten Profilierungsversuchen rangen die Spitzen von CDU, CSU und SPD stundenlang um gemeinsame Weichenstellungen in der Koalition. Die erste Sitzung des Koalitionsausschusses im neuen Jahr ging gegen Mitternacht auseinander, über konkrete Ergebnisse wurde nichts bekannt. Ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums erklärte lediglich, es werde in der ersten Jahreshälfte einen Referentenentwurf für ein Gesetz zur Grundrente geben, der dann in die übliche Abstimmung der Bundesministerien gehe. [6]

Der Vorschlag der SPD geht nicht auf die Abschaffung von Berufs- und Qualifikationsschutz ein, daß man also jede Arbeit annehmen muß, egal ob sie tariflich oder ortsüblich bezahlt wird oder nicht. Auch ändert die Umbenennung des Arbeitslosengeldes II in Bürgergeld nichts an Hartz IV, wenn es mehr oder weniger auf gleicher Höhe belassen wird. Der entscheidende Bruch, mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe eine den Lebensstandard sichernde Lohnersatzleistung für Langzeitarbeitslose zu entsorgen, wird nicht angepackt. Erforderlich wäre eine solidarische Bürgerversicherung, die auch Freiberufler, Selbständige, Abgeordnete, Beamte und Minister einbezieht und eine Grundsicherung schafft, die armutsfest, bedarfsdeckend und ganz ohne Sanktionen auskommt. Soviel steht fest: Die "Ursünde", wie Andrea Nahles Hartz IV einmal selbst bezeichnet hat, wird auf diese Weise nicht aus der Welt geschafft.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/butterwegge-zu-sozialstaatskonzept-spd-ist-auf-halbem-wege.694.de.html

[2] www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-abkehr-von-hartz-iv-genossen-berauschen-sich-am-linksruck-a-1252668.html

[3] www.n-tv.de/politik/FDP-wirbt-fuer-alternatives-Renten-Konzept-article20853523.html

[4] www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/hartz-iv-cdu-praesentiert-eigenen-vorschlag-zur-reform-der-grundsicherung-a-1253147.html

[5] www.sueddeutsche.de/politik/spd-sozialstaat-hartz-iv-buergelgeld-1.4325822

[6] www.n-tv.de/politik/Hat-die-Koalition-eine-gemeinsame-Linie-article20856635.html

14. Februar 2019


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