Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


RAUB/1220: Chile - über Bildungsfragen aufgerollt ... (SB)



Das Recht auf Bildung wird in Chile nicht garantiert. Heute gibt es kein öffentliches Bildungssystem. Es ist falsch, dass es sich in einer Krise befindet oder nicht gut funktioniert, das öffentliche Bildungssystem wurde zerstört. Hier wurde ein weltweit einzigartiges Experiment gemacht, indem extreme marktwirtschaftliche Maßnahmen und Privatisierungen vorgenommen wurden. Die Folgen davon, kein öffentliches Bildungssystem zu haben, sind brutal und das sehen wir heute im sozialen Umbruch.
Rodrigo Cornejo (Chilenisches Observatorium für Bildungspolitik) [1]

Was wäre es doch für eine Ironie der Geschichte, würde der Neoliberalismus ausgerechnet in jenem Land erstmals zur Strecke gebracht, in dem er einst seinen Anfang nahm! Chiles Eliten sitzt die Angst im Nacken, daß ihr Regime, das den Menschen unter der Diktatur aufgezwungen wurde, von einer massenhaften sozialen Erhebung weggefegt werden könnte. Sie haben die Panzer und sind bereit, sie durch die Straßen rollen zu lassen. Doch die heute aufwachsende Generation ist weder im Schatten der Junta groß geworden noch gewillt, wie die Eltern zu schweigen, denen das Wegducken in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wer glaubt heute noch, daß dies ein Musterland mit einem kleinen Schönheitsfehler sei, wie es deutsche Medien nach wie vor im Reflex kolportieren? Paradiesisch ist Chile allenfalls für eine kleine Minderheit, die von einem extrem neoliberalen System profitiert, das den durch Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und Ausplünderung natürlicher Ressourcen erwirtschafteten gesellschaftlichen Reichtum höchst ungleich verteilt.

Wenngleich das keine Frage der Generationen, sondern das Resultat einer neofeudalen Klassengesellschaft ist, spielt das Lebensalter doch eine zunehmend wichtige Rolle. Die chilenische Jugend sieht vielfach keine persönliche Zukunft für sich mehr und ahnt darüber hinaus, daß dieses Wirtschaftssystem eher früher als später in die Krise stürzen wird, während der hereinbrechende Klimawandel das aufgrund seiner Lage besonders gefährdete Land zu verwüsten droht. In diesem zum Paradebeispiel an Wachstum, Wohlstand und Stabilität in Lateinamerika verklärten Staat kann von dem vielbeschworenen freien Markt noch viel weniger als irgendwo sonst auf der Welt die Rede sein. Sechs bis acht Familienkonzerne kontrollieren das Land, während ein Wettbewerb zwischen Unternehmen kaum existiert. Die Wirtschaft konzentriert sich seit langem auf den Export von Kupfer, Lithium sowie Fisch und Früchten, alles ist auf kurzfristige Renditen abgestellt. Diese Abhängigkeit vom Weltmarkt für Rohstoffe ist auf Dauer verhängnisvoll, da keine nennenswerte industrielle Entwicklung und Diversifizierung in Angriff genommen wurde. Es fehlt an Alternativen, ein zukunftsfähiges Wirtschaftsmodell ist nicht in Sicht.

Wie nahezu alle Lebensbereiche ist auch das Bildungssystem weitgehend privatisiert, nur eine kleine Elite kann sich eine gute Ausbildung leisten. Lediglich 32 Prozent der Schülerinnen und Schüler besuchen eine öffentliche Schule, doch der Besuch einer Privatschule kostet bis zu 800 Euro im Monat. Da die Hälfte der Bevölkerung in Chile weniger als 500 Euro im Monat verdient, aber die Lebenshaltungskosten ähnlich hoch wie in Deutschland sind, ist bereits der Schulbesuch für viele Familien nahezu unerschwinglich. Nur ein Drittel der Schülerinnen und Schüler von öffentlichen Schulen bekommt danach auch einen Studienplatz an einer der Universitäten, die wiederum zu 85 Prozent in privater Hand sind. Plätze an staatlichen Universitäten sind begehrt und knapp. Familien verschulden sich auf Jahre, damit ihre Kinder studieren können. Die Studiengebühren liegen je nach Universität und Studiengang zwischen 5.000 und 10.000 Euro im Jahr. Zwar gibt es einen staatlich geförderten Bildungskredit, doch führt dieser dazu, daß inzwischen 446.000 Menschen dadurch verschuldet sind.

Wer das Studium abgeschlossen hat, ist also auf unabsehbare Zeit verschuldet und muß in Kürze anfangen, den Bildungskredit zurückzuzahlen. Wer das nicht kann, verliert die Kreditwürdigkeit, so daß der Start ins Berufsleben unter dem Damoklesschwert drohender existentieller Gefährdung bis hin zum Ruin mit düsteren Aussichten befrachtet ist. In Chile sind 80 Prozent der über 18jährigen auf die eine oder andere Weise verschuldet, und da nicht nur die Bildung, sondern auch Renten, Gesundheitswesen, Strom, Gas und öffentlicher Nahverkehr weitgehend privatisiert und entsprechend kostspielig sind, bleibt angesichts niedriger Einkünfte oftmals kaum Spielraum, Kredite zurückzuzahlen, wenn nicht gar weitere Verschuldung folgt. So treten die Jüngeren mit hohen Ausbildungsschulden ins ungewisse Berufsleben ein, an dessen Ende sie vielfach Altersarmut erwartet. Zahllose Menschen, die arbeiten und Steuern zahlen, kommen selbst bei überdurchschnittlichen Einkünften nicht über die Runden, das Aufstiegsversprechen hat längst auch für die sogenannten Mittelschichten ausgedient.

Die Schüler und Studierenden haben bereits 2006 und 2011 ihren Protest auf die Straße getragen und sich insbesondere für ein öffentliches Bildungssystem stark gemacht. Bildung sollte kostenlos und für alle zugänglich sein, auch müsse die Regierung die Bildungsschulden erlassen. Doch geändert hat sich seitdem kaum etwas. Deshalb wird heute abermals die Forderung laut, die Haushaltsmittel, die in die Banken für Bildungskredite und in gewinnorientierte Institutionen fließen, in die öffentliche Bildung zu investieren. Nur so könne das Recht auf Bildung für alle garantiert und eine demokratische, feministische und umweltbewußte Bildung aufgebaut werden - als Grundrecht und nicht als Konsumgut. Die Profitorientierung sei das grundlegende Problem in allen Lebensbereichen, so auch in der Bildung: Ein Privileg für diejenigen, die mehr haben, doch kein Zugang zu qualifizierter Bildung für alle anderen, die weniger haben.

Unter der bis Anfang 2019 regierenden Präsidentin Michelle Bachelet wurden zumindest einige Reformen hin zu mehr öffentlicher und kostenloser Bildung angestoßen, sogar ein Anlauf zu einer umfassenden Verfassungsänderung war vorgesehen. Doch der Regierungswechsel zum konservativen Unternehmer Sebastian Piñera machte dieses Vorhaben zunichte. Das chilenische Verfassungsgericht erklärte eine zentrale Änderung des Bildungssystems für verfassungswidrig, so daß private Bildungseinrichtungen weiterhin hohe Gewinne erzielen durften. [2]

Ungeachtet massenhaften Protests macht das Bildungsministerium keinerlei Anstalten, auf die Forderungen der Schüler und Studierenden einzugehen. Ganz im Gegenteil kündigt Bildungsministerin Marcela Cubillos ein Gesetzesvorhaben an, das auf eine Kriminalisierung der Protestbewegung hinausläuft:

Als Regierung werden wir ein Gesetzesprojekt unterstützen, das die politische Indoktrinierung an den Schulen als schwerwiegende Rechtsverletzung klassifiziert. Wenn sich ein solches Verhalten wiederholt, sollen Sanktionen über die Schule verhängt werden und die Schule soll ihre Anerkennung verlieren.

Seit der größte Massenprotest in der Geschichte Chiles, bei dem Millionen Menschen auf die Straße gingen, das Land bis an den Rand einer Staatskrise erschüttert hat, pendelt die Regierung zwischen massiver Repression und vorgeblicher Einsicht in die Probleme der Mehrheitsbevölkerung. Ausgelöst durch eine Erhöhung der U-Bahnpreise hatten sich die Proteste binnen kürzester Zeit zu landesweiten Unruhen und Streiks ausgeweitet. Diese brachten den Zorn angesichts steigender Kosten in vielen Bereichen, aber bald auch die extreme Ungleichheit und die staatliche Gewalt zur Sprache. Als sich Berufsverbände dem Protest anschlossen, Lehrer, Krankenhauspersonal und Bergarbeiter streikten wie auch wichtige Verkehrsadern blockiert wurden, sprach der Präsident von "Krieg", verhängte den Ausnahmezustand, ließ 20.000 Polizisten und Soldaten gegen die Proteste vorgehen und Panzer durch die Hauptstadt rollen. Mindestens 19 Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt und mehr als 7.000 festgenommen.

Als die Massenproteste dennoch weiter anschwollen, sah sich Piñera zu einer Kehrtwende gezwungen. Er bat seine Landsleute um Verzeihung, entließ sein Kabinett und stellte diverse Sofortmaßnahmen in Aussicht, deren Umsetzung und Finanzierung jedoch in den Sternen steht. Diesem Versuch, Normalbetrieb vorzugaukeln, war kein Erfolg beschieden. So mußte die Weltklimakonferenz, zu der Anfang Dezember 30.000 Teilnehmende in Chile erwartet wurden, abgesagt werden. Nun bangen jene 0,1 Prozent der Superreichen, die 19,5 Prozent des Gesamteinkommens auf sich vereinen, und jenes eine Prozent, das 35 Prozent des Reichtums besitzt, um den Fortbestand ihrer Pfründe und Macht im "ungleichsten Land der Welt".

Salvador Allendes Gesellschaftsentwurf wurde durch den von Washington orchestrierten blutigen Militärputsch am 11. September 1973, gefolgt von der Schreckensherrschaft Augusto Pinochets, zu Grabe getragen. Das brachiale neoliberale Experiment, wie es nur unter der Diktatur möglich war, die jeglichen Widerstand im Keim erstickte, verschränkte als Gegenentwurf zu den sozialistischen Bestrebungen in Lateinamerika Herrschaft und profitgetriebene Ökonomie auf eine innovative Weise, die vielerorts Schule machte. Daß diese Zauberformel nie etwas anderes als die brutale Fortschreibung kapitalistischer Verwertung und Zurichtung auf verschärftem Niveau war, wird den Menschen in Chile in wachsendem Maße bewußt.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/chile-die-wut-auf-ein-ungerechtes-bildungssystem.680.de.html

[2] www.deutschlandfunk.de/studentenproteste-in-santiago-de-chile-das-geschaeft-der.680.de.html

10. Januar 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang