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RAUB/1221: Frankreich 2020 - Wiederkehr der 68er ... (SB)



Man kann ja absolut mit der Politik der Regierung nicht einverstanden sein. Trotzdem bedarf es eines Grundrespekts, der uns ein demokratisches Zusammenleben erlaubt. Was wollen sie sonst? Einen Aufstand? Und wenn die Regierung gestürzt ist, wer ermächtigt dann die neue Regierung?
Staatssekretärin Emmanuelle Wargon im Sender BFMTV [1]

Wenngleich sich der längste französische Streik seit dem Generalstreik vom Mai 1968 dem Ende zuneigt, gehen die Kämpfe gegen die Rentenreform Emmanuel Macrons weiter. Nach mehreren eigenständig organisierten Streiks bei der Eisenbahngesellschaft SNCF riefen die Gewerkschaften vom 5. Dezember an zu einem unbefristeten Streik auf, um die Dynamik dieser Bewegung zu nutzen, ohne die Kontrolle über sie zu verlieren. Zugleich beschlossen die Gelbwesten auf einer großen Versammlung, diese Auseinandersetzung auf der Straße zu unterstützen. Obgleich der Ausstand zu wochenlangen gravierenden Beeinträchtigungen im Nah- und Fernverkehr führte, befürwortet ihn eine klare Mehrheit der Bevölkerung. Wie schon beim gescheiterten Versuch, die Gilets Jaunes aus dem Feld zu schlagen, setzt die Regierung auf drei strategische Säulen. Sie kalkuliert auf den längeren Atem der Administration, spaltet die Gewerkschaften mit vorgeblichen Zugeständnissen und geht mit massiver polizeilicher Repression gegen radikale Fraktionen der Bewegungen vor.

Die Beschäftigten der Pariser Verkehrsgesellschaft RATP haben für die Beendigung des unbefristeten Streiks gestimmt. Nur wenige Metrolinien und eine Schnellzuglinie werden weiterhin bestreikt, auch die Beteiligung am Streik bei der Eisenbahngesellschaft SNCF geht deutlich zurück. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, daß sich die Gewerkschaften in anderen Branchen wie den Häfen, den Raffinerien und der Autoindustrie geweigert hatten, einen unbefristeten Streik zu führen. Zum anderen standen die Streikenden nach sechs Wochen ihres Kampfs und angesichts der geplanten viermonatigen Verhandlungen der Gewerkschaften mit Macron über die Rentenkürzungen aufgrund der sehr geringen Streikgelder unter enormem finanziellen Druck. [2]

Die größte Gewerkschaft CFDT ist ohnehin regierungsnah und verhandlungsbereit, doch auch die Führung der radikaleren CGT hält die Zeit für gekommen, in geordnete Bahnen des Protests zurückzukehren und Verhandlungen mit der Regierung zu führen. Geplant sind nun eintägige Aktionen, die eher den Charakter demonstrativen Protests haben, als das öffentliche Leben wirksam zu blockieren. Die großen französischen Gewerkschaften haben die Muskeln auf eine Weise spielen lassen, wie das in Deutschland undenkbar wäre, aber auch die Kehrseite ihrer Funktion zum Tragen gebracht, den Widerstand der Lohnabhängigen einzuhegen.

Deutlich wurde dies, als Streikende am 17. Januar in die Zentrale der CFDT eingedrungen waren, um gegen deren Unterstützung der Rentenreform zu protestieren, worauf sie von Funktionären als gewalttätig diskreditiert wurden. Auch der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez verurteilte die Aktion und erklärte: "Solche Exzesse werden in einer Demokratie nie eine legitime Ausdrucksform sein. Austausch hebt die Debatten an, doch Gewalt degradiert sie." Damit schloß er sich der Version des CFDT-Sekretärs Laurent Berger an, es sei Gewalt angewendet worden. Demgegenüber beharren Streikende darauf, die an dieser Aktion beteiligt waren, es habe von ihrer Seite weder verbale noch körperliche Gewalt gegeben.

Die Spaltung in legitimen, weil friedlichen Protest, und radikale Gewalttäter, die sich illegitimer Mittel bedienten, wie sie von der Regierung gegen die Bewegungen praktiziert wird, findet durchaus ihren Widerhall in den Gewerkschaftsführungen. Sie fürchten, Einfluß einzubüßen, sollte sich die Offensive des Aufbegehrens ihren Zügeln entziehen. Lohnabhängige, die wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren und den Gewerkschaften die Aufgabe überlassen, in den Verhandlungen mit der Regierung den bestmöglichen Kompromiß herauszuholen, sind ihnen weitaus lieber als jene Streikenden, welche die Rentenreform komplett zu Fall bringen wollen und womöglich auch noch den Präsidenten, wenn nicht gar Schlimmeres. Wenn führende Funktionäre zur Vernunft mahnen, da der unbefristete Streik nicht länger durchzuhalten sei, geht die vorgeblich realistische Einschätzung fast bruchlos in den Umkehrschub über.

Auch die Gelbwesten waren in Paris wieder auf der Straße. Während die Medien von einigen Tausend sprachen, nahmen nach den Zahlen des Twitterauftritts des Nombre Jaune, der mit der Bewegung der Gilets Jaunes verbunden ist, am acte 62 "mindestens 36.795" Personen teil. Die Gelbwesten verbanden sich wie angekündigt mit dem Protest der Gewerkschaften gegen die Rentenreformen und sind eigenen Angaben zufolge bereit, diesen Kampf weiterzuführen. [3]

Die eingangs zitierte Staatssekretärin Wargon brachte die Nervosität der politischen Führung des Landes zum Ausdruck, welcher der Zorn wachsender Teile der Bevölkerung dicht auf den Pelz rückt. Das bekam auch Präsident Macron zu spüren, als er sich gemeinsam mit seiner Gattin Brigitte im berühmten Pariser Théâtre des Bouffes du Nord amüsieren wollte. Kaum hatte sich die Nachricht in den sozialen Netzwerken verbreitet, als sich auch schon gut 100 Protestierende vor dem Theater einfanden und "Macron tritt zurück" skandierten. Als die Menge versuchte, ins Innere vorzudringen, mußte der Präsident die Vorstellung vorübergehend fluchtartig verlassen, während Polizeikräfte den Sturm auf das Theater nur mit Mühe in Schach halten konnten.

Noch in derselben Nacht schlugen Unbekannte in der Rotonde die Scheiben ein und legten in den Räumen Feuer. Die historische Brasserie ist bei französischen Politikern und Künstlern beliebt, Macron hatte dort den Einzug in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl gefeiert. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß sein Lieblingslokal zerstört werden sollte. Zudem hatten am Vortag einige Dutzend Reformgegner stundenlang das Louvremuseum blockiert, und die teils großflächige Unterbrechung der Stromversorgung gehörte schon zu Beginn der Streiks zum Repertoire der radikalen Gewerkschaften.

Mit dem Rückhalt der Bewegungen in weiten Kreisen der französischen Gesellschaft geht inzwischen auch ein gewisser Umschwung in der Berichterstattung der großen Medien einher, die zunehmend die polizeiliche Repression in den Fokus nehmen. So informierte Le Monde über neue Gewaltakte, die gegen die Demonstranten begangen wurden. Hatten die Schlagzeilen lange Zeit Stimmung gegen die Gelbwesten gemacht, so wächst nun die Kritik an dem brutalen Vorgehen der Polizei. Ein besonders eklatanter Fall war der Tod eines 42jährigen infolge einer Polizeikontrolle Anfang des Monats. Videoaufnahmen von Zeugen zeigen, wie sich drei Polizisten auf den Rücken des Mannes setzen, der danach ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wo er zwei Tage später verstarb. Die Autopsie ergab unter anderem einen Kehlkopfbruch.

Hatte Innenminister Castaner stets die brutalen Polizeieinsätze gegen "Randalierer" gerechtfertigt, so mußte er in diesem Fall zugeben, daß es "legitime Fragen" zum Einsatz von Gewalt durch die Polizei gebe. Macron hatte zuvor schon von seinem Innenminister konkrete Vorschläge gefordert, um "das Berufsethos der Polizisten zu verbessern". Le Monde dokumentierte in einem Videobeitrag, wie die Polizei bei einer Gelbwesten-Demonstration in Bordeaux einem Mann mit einem Kopfschuß aus einer LBD-Waffe, die schon zu vielen Erblindungen geführt hat, schwerste Verletzungen beibrachte. Zuletzt wurden auch in den großen Medien und in Nachrichtenagenturen Videobilder verbreitet, die einen Polizisten zeigen, der auf einen Mann mit blutigem Gesicht einschlägt. Die Nachrichtenagentur AFP veröffentlichte weitere Aufnahmen, auf denen Polizisten zu sehen sind, die den blutenden Mann, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt sind, bäuchlings am Boden schleifen. Die widersprüchlichen Erklärungen der Polizei zu derartigen Vorfällen laufen inzwischen nicht nur ins Leere, sondern heizen die Empörung weiter an. Angesichts der enormen Beachtung, die derartige Szenen derzeit in den Medien finden, sehen sich die Behörden bis hinauf zum Innenminister gezwungen, Untersuchungen in Aussicht zu stellen.

Der lange Streik hat nicht nur für chaotische Verhältnisse im Schienenverkehr gesorgt, sondern auch zu massiven wirtschaftlichen Einbußen geführt. So gab die Staatsbahn SNCF bekannt, daß sie der Ausstand bisher knapp eine Milliarde Euro gekostet habe. Im Frühjahr finden Kommunalwahlen statt, die angesichts der politischen Verwerfungen der letzten Jahre an Bedeutung gewonnen haben. Die Aussichten für die Präsidentenpartei La République en Marche sind schlecht. Dessen ungeachtet schwört Macron seine Landsleute unentwegt auf die Notwendigkeit von Reformen ein. "Gute Nachrichten kommen nicht einfach von allein. Es gibt sie, weil unser Land sich reformiert, sich bewegt", sagte er vor Mitarbeitern einer Firma in Dünkirchen. Zudem versammelte er rund 180 internationale Unternehmenschefs in Versailles, um für Frankreich als Wirtschaftsstandort zu werben. [4]

Die Unnachgiebigkeit und Arroganz des "Jupiterpräsidenten", der dem massenhaften Protest nicht weicht, sondern ihn in die Knie zwingen will, korrespondiert mit wachsenden Widerstand, dessen Beharrlichkeit und Zusammenführung der verschiedenen Kämpfe den Eliten der Grande Nation schlaflose Nächte bereiten dürfte.


Fußnoten:

[1] www.tagesschau.de/ausland/streiks-frankreich-131.html

[2] www.wsws.org/de/articles/2020/01/21/pari-j21.html

[3] www.heise.de/tp/features/Frankreich-Ein-neuer-Fall-von-Polizeigewalt-4643067.html

[4] www.n-tv.de/politik/Frankreich-goennt-sich-eine-Streikpause-article21521302.html

23. Januar 2020


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