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RAUB/1236: Agrar - Vexierspiele des Mangels ... (SB)



Der Chef des Welternährungsprogrammes (WFP) David Beasley warnt vor Hungersnöten "biblischen Ausmaßes", die Lebensmittelpreise in der Bundesrepublik steigen um durchschnittlich 10 Prozent, und die Zahl der weltweit ungenügend ernährten und lebensbedrohlich hungernden Menschen nimmt permanent zu. Das ist nicht nur, aber auch der Coronapandemie geschuldet und bedeutet für jeden, der nicht satt wird, eine Katastrophe. Für in Deutschland lebende KonsumentInnen ist der Anblick leerer Regale gewöhnungsbedürftig, niemals zuvor haben jüngere Menschen überhaupt erlebt, irgend etwas nicht kaufen zu können. Die Tafeln werden von bedürftigen Menschen überrannt, sind doch zahlreiche informelle Einkommensmöglichkeiten bis hinunter zum Dosensammeln weggefallen, so daß die bis vor kurzem zu vernehmende Behauptung, in der Bundesrepublik müsse niemand hungern, heute nicht mehr zutrifft.

Zugleich werden weltweit erhebliche Flächen mit sogenannten Energiepflanzen bewirtschaftet, deren Anbau im Zuge der ökologischen Modernisierung erheblich zugenommen hat. Weil Ethanol und Biodiesel in der EU als hundertprozentig klimaneutral gelten, ist ihre Verwendung vom Europäischen Emissionshandelssystem (ETS) begünstigt, was zu einem permanenten Anwachsen der für Energiepflanzen verwendeten Flächen führt. So ist die Anbaufläche für nachwachsende Rohstoffe in Deutschland von 1 Million Hektar 2004 auf 2,45 Millionen Hektar 2018 gestiegen, was einem knappen Fünftel der Ackerfläche entspricht. 1,35 Millionen Hektar wurden für die Biogasproduktion eingesetzt, auf 560.000 Hektar wurde Raps für Biodiesel oder technisches Pflanzenöl angebaut und auf 246.000 Hektar Pflanzen für die Bioethanolherstellung [1].

In den USA gehen ganze 40 Prozent der Maisernte in die Ethanolproduktion. Da es sich um diejenige Nutzpflanze handelt, deren Anbau den größten Teil der dort zur Verfügung stehenden Ackerfläche belegt, ist der Einfluß dieser Verwendungsform auf die Menge verfügbarer Nahrungsmittel erheblich. Gleiches gilt für Brasilien, wo neben Mais vor allem Soja und Zuckerrohr als Nutzpflanzen für Energiezwecke immer größere Flächen in Beschlag nehmen. Die Brandrodungen, die zur Erweiterung dieser Flächen vorgenommen werden, verkleinern den Amazonischen Regenwald immer weiter zugunsten von Äckern und Weiden, die entweder für Mobilitätszwecke oder die Fleischproduktion in Anspruch genommen werden. In Malaysia und Indonesien werden die Urwälder für Palmöl gerodet, das ebenfalls für Energiezwecke eingesetzt wird.

Was hierzulande unter dem Begriff "Bioökonomie" als grüne, vor allem Biomasse betreffende Wirtschaftsform propagiert wird, könnte mithin auch als grünes Hungerprogramm bezeichnet werden. Die vor einigen Jahren unter dem Titel "Teller oder Tank" geführte Debatte hat nicht verhindern können, daß der Anteil an Ackerflächen, auf denen Nahrungsmittel für Menschen angebaut werden können, tatsächlich jedoch Energiepflanzen wachsen, immer weiter zunimmt, obwohl immer mehr Menschen hungern. Um Nutzpflanzen als Ersatz für fossilen Treibstoff und als Ressource für die industrielle Güterproduktion anzubauen reichen die Flächen in der EU bei weitem nicht aus. So haben EU-europäische Unternehmen zwischen 2009 und 2013 sechs Millionen Hektar Ackerfläche im Subsaharischen Afrika, dem größten Hungergebiet der Welt, gekauft, um dort Agrotreibstoffe für den Export anzubauen [2].

Das ist nur ein besonders spektakuläres Beispiel von vielen für eine Politik kapitalistischer Landnahme, die dazu geführt hat, daß nicht einmal die Hälfte der globalen Getreide, Reis- und Maisproduktion direkt als menschliches Nahrungsmittel Verwendung findet, während das Gros für die Energieproduktion, für Mobilitätszwecke und als Tierfutter verheizt wird. Letzteres trägt zwar mittelbar zur menschlichen Ernährung bei, insbesondere in den Hungergebieten der Erde spielt tierisches Protein jedoch nur eine marginale Rolle. Dort wurden die Menschen, ohne sich das aussuchen zu können, auf eine sehr reduzierte Diät pflanzlicher Art gesetzt, bei der es bestenfalls zur gelegentlichen Ergänzung mit Milch, Eiern oder Fleisch kommt.

Der Verzehr tierischen Proteins als Hauptbestandteil menschlicher Ernährung trägt generell zum Hunger auf der Welt bei, das gilt insbesondere für die Verwertung von Rindern für Nahrungsmittelzwecke. Sie verfügen über das ungünstigste Verhältnis von Futtermittel und Fleischerzeugung, verbrauchen das meiste Wasser unter allen sogenannten Nutztieren und setzen am meisten Treibhausgase frei [3]. Da 1,8 Milliarden Rinder weltweit etwa anderthalbmal soviel Biomasse auf die Waage bringen wie 7,5 Milliarden Menschen, sticht das von ihrer agrarischen Bewirtschaftung verursachte sozialökologische Problem aus den verschiedenen Formen der Tierverwertung hervor.

Die Produktion von Biomasse und Futtermitteln läuft mithin nicht nur auf ein "Bio-Massaker" [4] hinaus, bei dem sich das Ende der letzten Wildtiere bereits am Horizont abzeichnet, sie steht auch für eine Form des sozialdarwinistischen Überlebenskampfes, bei dem die Hungernden mehr oder minder absichtsvoll in den Abgrund gestoßen werden. Ernährungssicherheit ist für sie ein hohles Versprechen, um von Ernährungssouveränität als menschliches Grundrecht ganz zu schweigen. Solange allein in Deutschland auf der für die landwirtschaftliche Nutzung zur Verfügung stehenden Fläche, die mit 16,7 Millionen Hektar etwas weniger als die Hälfte das gesamten Bundesgebietes ausmacht, zu 60 Prozent Futtermittel, zu 14 Prozent Energiepflanzen und zu 2 Prozent Industriepflanzen angebaut werden [5], stellt das Beklagen des Welthungers wenig mehr als ein Ablenkungsmanöver dar. Der Zusammenhang von eigener Sattheit und Hunger des anderen ist mehr als nur ein moralisches Dilemma und hat gerade deshalb nicht zu interessieren.

Um so mehr ist zu hoffen, daß die Diskussion um Biomasseproduktion vor dem Hintergrund der sich mit immer größerer Dringlichkeit stellenden Frage nach der Überwindung der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung und der kapitalistischen Verwertungslogik neuen Auftrieb nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes, sondern der Ernährung aller Menschen erhält. Einen guten Anlaß dafür bietet der seit einer Woche im Netz frei verfügbare Film Planet of the Humans [6], in dem die Frage nach der tatsächlichen Nachhaltigkeit erneuerbarer Energien mit Blick auf die Verwertung von Biomasse kritisch beleuchtet wird.


Fußnoten:

[1] https://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/agrarsprit-und-bioenergie.html

[2] http://www.carbontradewatch.org/downloads/publications/Extractive_energy_report.pdf

[3] https://albert-schweitzer-stiftung.de/aktuell/1-kg-rindfleisch

[4] https://www.heise.de/tp/features/Unser-taeglich-Bio-Massaker-4259312.html

[5] https://www.weltagrarbericht.de/fileadmin/files/weltagrarbericht/Weltagrarbericht/16AgrarspritBioenergie/FNR2019.pdf

[6] https://www.youtube.com/watch?v=Zk11vI-7czE

27. April 2020


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