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RAUB/1241: Türkei - Wirtschaftsnot und frühe Last ... (SB)



Das ist meines Wissens weltweit das erste Mal, dass im Tourismus so etwas gemacht wird.
Tourismusminister Nuri Ersoy über die Maßnahmen der Türkei [1]

Die Coronapandemie hat die schon zuvor mit globaler Wucht anrollende Wirtschaftskrise explosionsartig zum Ausbruch gebracht, während zugleich die Klimakatastrophe selbst die düstersten Prognosen in den Schatten stellt. Obgleich daher ein tiefgreifender ökonomischer, ökologischer und gesellschaftspolitischer Kurswechsel unabdingbar wäre, der an den Herrschaftsverhältnissen und der Eigentumsordnung rührt, steht das Gegenteil zu befürchten: Die Rückkehr zu einer Normalität, in der die Fesseln noch enger angezogen sind, wird als Heilsversprechen par excellence gehandelt. Wer aus der Coronakrise am wenigsten beschadet hervorgeht, darf sich ihr Sieger nennen, lautet die Ratio eines konkurrenzgetriebenen und auf maximale Verstoffwechselung setzenden Sturzflugs in den Abgrund, der nur deshalb mit einem Höhenflug verwechselt wird, weil er die wachsende Zahl seiner Opfer ausblendet.

Können wir trotz Corona im Urlaub verreisen? Diese unter dem Lockdown hoch angereicherte existentielle Frage deutscher Befindlichkeit schert sich weder um jene, die sich das sowieso nicht leisten können, noch um den ökologischen Fußabdruck oder die Ausbeutung der Dienerschaft am Urlaubsort, um nur einige bedenkenswerte Pferdefüße der langvermißten Normalität zu erwähnen. Und so schlägt abermals die Stunde der Exekutive, das Rennen freizugeben, an dem so viel hängt. Die Bevölkerung konsumistisch zu bespaßen ist ein bedeutsamer Aspekt, doch als wichtiger noch gilt die arg gebeutelte Branche, die nach der Zwangspause wieder Fahrt aufnehmen soll. Da der Sommer näherrückt, aber angesichts der Ungewißheit niemand gebucht hat, steht ein erbitterter Konkurrenzkampf um die schnellere Öffnung ins Haus, die den Löwenanteil der Beute in Aussicht stellt.

Das gilt um so mehr im Wettstreit der Urlaubsländer und -regionen, in denen der Tourismus maßgeblich zum wirtschaftlichen Ertrag beisteuert und die gravierenden Krisenschäden am schnellsten mildern könnte. Wie schon bei Ausbruch der Pandemie das Primat ökonomischer Erwägungen die meisten Regierungen zögern ließ, bis die Zahl der Infektionen und Todesfälle sprunghaft zunahm und die ergriffenen Maßnahmen zu spät eingeleitet wurden, steht bei der Öffnung dasselbe Grundmuster Pate, um wirtschaftlicher Vorteile willen einige, zumeist ohnehin zur Last fallende Existenzen mehr dafür zu opfern. Wer erfolgreich den Eindruck erwecken kann, bei ihm sei Corona unter Kontrolle, und seine Tore einige Wochen oder auch nur Tage früher als die Konkurrenz für Touristen öffnet, darf auf die große Welle all jener Urlaubenden hoffen, die endlich Planungssicherheit schaffen wollen.

Die Türkei scheint mit bislang rund 3700 Todesfällen von der Coronaviruspandemie weit weniger geplagt als andere Urlaubsländer wie Italien, Frankreich und Spanien zu sein, wo jeweils mehr als 25.000 Menschen starben. Selbst gegenüber Deutschland hat die Türkei bei vergleichbarer Bevölkerungsgröße nur halb so viele Todesopfer zu beklagen. Ankara führt das unter anderem auf eine systematische Aufklärung von Infektionsketten zurück: Tausende Expertenteams im ganzen Land überprüfen regelmäßig die Kontaktpersonen von Infizierten. Weitere Faktoren seien kulturelle Unterschiede bei der Altenbetreuung, die überwiegend zu Hause stattfindet und nicht in Altersheime ausgelagert wird, und die europaweit höchste Zahl von Intensivstationsbetten pro Kopf. Dennoch mutet diese offizielle Erfolgsgeschichte insofern widersprüchlich an, als die Türkei geraume Zeit als das Land mit einer der am schnellsten zunehmenden Infektionsraten galt. Das legt den Verdacht nahe, daß eine hohe Dunkelziffer verschleiert wird, um auf dem Tourismussektor die Konkurrenz auszustechen.

Um sich als sicheres Urlaubsland zu empfehlen, hat die Regierung eine umfassende Initiative gestartet. Mit einem Schreiben an die Regierungen aller Länder, aus denen traditionell Urlauber in die Türkei reisen, will Ankara über die Schutzmaßnahmen informieren. Begleitet werde dies von einer "beispiellosen Telefondiplomatie", so Tourismusminister Nuri Ersoy. Im persönlichen Gespräch würden Außenminister Mevlüt Cavusoglu und die türkischen Botschafter ihre europäischen Ansprechpartner über alle Vorkehrungen in Kenntnis setzen.

Ab Ende Mai soll der inländische Reiseverkehr schrittweise wieder aufgenommen werden, im Juni werde es nach und nach wieder internationale Flüge geben. Die nationale Fluggesellschaft Turkish Airlines will dann zunächst 19 ausgewählte Flughäfen anfliegen, darunter Deutschland, die Niederlande, Österreich und Norwegen sowie China, also jene Länder, aus denen ein Großteil der Türkeiurlauber stammt. Weitere Ziele sollen im Juli und August dazukommen. Auf den Flughäfen und an den Grenzen werden alle einreisenden Touristen getestet, was nur zwei bis drei Minuten dauern soll. Die Testergebnisse würden binnen fünf bis sechs Stunden vorliegen, wobei die Reisenden nicht darauf warten müßten, sondern im Falle eines positiven Ergebnisses unter ihrer angegebenen Adresse etwa im Hotel zu erreichen wären. Zu diesen Tests gesellen sich detaillierte Vorschriften für Transport, Unterbringung und Verpflegung der Touristen während ihres Aufenthalts und für die Hygiene in Hotels und Ferienanlagen.

Hotels und Restaurants unterlägen strengen Auflagen, wofür ein Zertifikationsprogramm mit 132 Kriterien entwickelt worden sei. Dazu zählen eine maximale Auslastung von 60 Prozent, Mindestabstände zwischen Tischen und Liegestühlen und Maskenpflicht in gemeinschaftlichen Innenbereichen sowie gründliche Desinfektion und die Abschaffung die Selbstbedienung am Buffet, das Personal erhalte eine Pandemieausbildung. Veröffentlicht wurde sogar eine Übersicht von Krankenhauskapazitäten samt Intensivbetten und Ventilatoren in den Tourismusgebieten.

Der Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der Türkei, die vor der Coronapandemie in diesem Jahr mit 58 Millionen Gästen gerechnet habe, so Ersoy. Man dürfe nun keine zu hohen Erwartungen haben, wenn 50 oder 60 Prozent der Hotels öffneten, sei das eine gute Saison. Sollte die Coronapandemie bis Ende des Jahres 2020 ausgestanden sein, hoffe man für 2021 auf 63 Millionen Touristen. [2]

Daß auch die Konkurrenz Gewehr bei Fuß steht, zeigen Beispiele aus europäischen Ländern. In Griechenland soll der Tourismus zum 1. Juli wiederbelebt werden, Spanien lockert die Schließung von Hotels, Restaurants und Bars, Kroatien verhandelt mit den direkten Nachbarn über Urlaubsreisen per Auto, Österreich will die Grenze zu Deutschland noch vor dem Sommer wieder öffnen, die Niederlande wollen Reisen innerhalb Europas akzeptieren. Die Bundesregierung hat eine weltweite Reisewarnung ausgesprochen, der zufolge bis zum 14. Juni jegliche Urlaubsreisen unbedingt unterlassen werden sollten. Das sieht Tui-Chef Friedrich Joussen natürlich anders, der so bald wie möglich wieder Reisen in den Mittelmeerraum anbieten möchte. An erster Stelle stehe Mallorca, auch Griechenland, Zypern, Kroatien, Bulgarien, Österreich und Dänemark seien gut auf den Sommertourismus vorbereitet. Die EU-Kommission empfiehlt ihren Mitgliedsstaaten eine Verlängerung des Einreisestopps bis zum 15. Juni. Auf Ebene der EU wird eine europaweite Regelung mit gemeinsamen Hygiene- und Schutzstandards favorisiert, wofür Reisezertifikate geschaffen werden könnten. [3]

Die ökonomischen Probleme der Türkei sind nur zum Teil hausgemacht und dürften Vorbote einer sich verschärfenden globalen Krise sein. Durch den Coronaschock steigt weltweit die Nachfrage nach US-Dollars, die Investoren ziehen Milliarden aus den Schwellenländern ab, in der Folge fallen angeschlagene Währungen. Der brasilianische Real, der mexikanische Peso und der südafrikanische Rand haben alle seit Beginn der Coronakrise bis zu einem Drittel ihres Wertes verloren. Viele Schwellenländer leiden unter dem weltweiten Handelseinbruch besonders stark. Rücküberweisungen von im Ausland beschäftigten Arbeitskräften in ihre Heimatländer fehlen, Rohstoffexporteure verlieren an Einkünften, allen voran Erdölproduzenten.

Als Land ohne große Rohstoffressourcen und mit wenig Hochtechnologie ist die Türkei auf weltweiten Handel angewiesen. Kernproblem der türkischen Wirtschaft, die wesentlich mehr importiert als exportiert, ist ein großes Handelsbilanzdefizit. Die hohe Verschuldung türkischer Firmen in Euro und vor allem US-Dollar führt angesichts des dramatischen Kursverlustes der Landeswährung Lira zu einer wachsenden Zinslast. Werden die Kosten nicht an den Verbraucher weitergegeben, drohen massenhafte Insolvenzen. Das führt zu einem Anstieg der Preise, die Inflation stieg auf bis zu 20 Prozent. Um die Währung zu stützen, wäre nach konventionellem Krisenmanagement eine massive Anhebung der Leitzinsen notwendig gewesen, die aber nur sehr zögerlich erfolgte, da Präsident Erdogan und sein Schwiegersohn, Finanzminister Berat Albayrak, auf keinen Fall das Wirtschaftswachstum abwürgen wollten. Daher warf die türkische Zentralbank ihre Reserven auf den Markt, um den Kurs zu stützen. Die Devisenreserven sind dadurch von 40 Milliarden US-Dollar Anfang des Jahres auf 25 Milliarden gesunken, so daß die Zentralbank ihr Pulver weitgehend verschossen hat und jede weitere Verschärfung der Krise zum vollständigen Absturz zu führen droht.

Eine Hilfe des Internationalen Währungsfonds lehnt Ankara entschieden ab, da diese Kredite mit massiven Auflagen verbunden sind. Erdogan weiß dies aus eigener Erfahrung, da er Anfang der Nuller Jahre die Rückzahlung bewältigen mußte, nachdem die Vorgängerregierung Hilfe beim IWF in Anspruch genommen hatte. Nachdem die Landeswährung seit Beginn der Coronakrise mehr als 20 Prozent ihres Wertes verloren und mit über 7 Lira pro Dollar einen neuen Tiefstand erreicht hatte, reagierte die Regierung mit einer drastischen Maßnahme und verbot den Banken BNP Paribas, Citigroup und UBS den Handel mit türkischer Lira. Es seien ausländische Finanzinstitutionen, die den Kurs der Währung "manipulierten", bediente sich die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu des üblichen Musters. Wer sich daran beteilige, dem drohen Strafen und ein Ausschluß vom türkischen Markt. [4]

Für die Landwirtschaft, die mit einer Rekordernte rechnet, dürften die durch den Wechselkurs vergleichsweise niedrigen türkischen Exportpreise von Vorteil sein. Zudem sind auf Basis des US-Dollars die Produktionskosten der Textilindustrie im Vergleich zum Konkurrenten China zuletzt um 36 Prozent gesunken. Unternehmen und Konsumenten sollen günstige Kredite aufnehmen können, um so die Wirtschaft anzukurbeln. Laut der Zentralbank stieg das Volumen neuer Kredite zwischen Ende Januar und Ende April um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, bei Unternehmenskrediten liegt das Plus sogar bei 80 Prozent. Viele Unternehmen nutzen die niedrigen Zinsen, um ältere teurere Kredite umzuschulden, andere verschaffen sich Liquidität, um die Krise durchzustehen. Zudem hat die Regierung die Rückzahlung staatlicher Kredite auf das Jahresende verschoben, doch was dann geschehen wird, ist ungewiß. [5]

Die einzige Hoffnung der Türkei bleibt daher, daß es zu keiner zweiten Welle der Pandemie kommt und die internationalen Reisebeschränkungen wieder aufgehoben werden. Dann könnte die taumelnde Währung sogar vom Fluch zum Segen werden und ein boomender Tourismus wieder neue Devisen ins Land spülen. Mit diesem Tanz auf dem Vulkan einer nicht auszuschließenden rasanten Zunahme der Todesfälle in Folge einer vorzeitigen Wiederaufnahme massenhafter Urlaubsreisen steht das Land nicht allein, soll nach dem Willen der Regierung aber als Vorreiter der Konkurrenz das Wasser abgraben. Inzwischen stuft selbst die Bertelsmann-Stiftung die Türkei "aufgrund massiver Einschränkung der Pressefreiheit, grober Missachtung von Bürgerrechten und Aushebelung der Gewaltenteilung" erstmals als "Autokratie" ein [6]. Das Erdogan-Regime ist schon über so viele Leichen gegangen, daß es auch Coronatote nicht um ihrer selbst willen, sondern allenfalls im Kalkül seines Machterhalts für bedeutsam erachtet.


Fußnoten:

[1] www.tagesspiegel.de/politik/tourismus-trotz-corona-die-tuerkei-will-urlauber-bei-der-einreise-testen/25816808.html

[2] www.n-tv.de/panorama/Tuerkei-plant-Urlaubssaison-trotz-Corona-article21770941.html

[3] www.merkur.de/welt/coronavirus-sommerurlaub-oesterreich-reise-schleswig-holstein-deutschland-tourismus-urlaub-mallorca-zr-13750823.html

[4] www.capital.de/wirtschaft-politik/vorbote-einer-globalen-rezession

[5] www.handelsblatt.com/politik/international/coronakrise-die-tuerkei-bereitet-sich-auf-das-ende-des-lockdowns-vor-und-setzt-voll-auf-den-tourismus/25807360.html

[6] www.tagesspiegel.de/politik/tuerkei-erstmals-als-autokratie-eingestuft-erdogans-regierung-teilt-erneut-gegen-zivilgesellschaft-aus/25796090.html

11. Mai 2020


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