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RAUB/1242: Schlachtfabriken - Fleischverzicht undenkbar (SB)



Die Skandalisierung der Schlachtfabriken zum jetzigen Zeitpunkt steht in einer Reihe mit dem systematischen Weggucken zuvor. Was als Faktor der Kostensenkung lange Zeit hochwillkommen war und auf dem Rücken unterbezahlter und entsicherter Leih- und WerksvertragsarbeiterInnen ausgetragen wurde, schlägt um in einen Faktor der Kostensteigerung durch produktionsbedingte Infektionsgefahr. Höchste Zeit zu handeln, nicht gegen Ausbeutung von Mensch und Tier, sondern für die fugenlose Aufrechterhaltung der Produktion tierischen Proteins. "Verwurstet" werden nicht nur "Nutztiere", auch die Ware Arbeit wird als Betriebstoff in die Schlachtfabriken eingespeist, so daß am Nahrungsmittel "Fleisch" Blut aus zweierlei Quellen klebt.

Eher unerwähnt in der Berichterstattung über die Mißstände in der Schlachtindustrie bleiben die strukturellen, politisch gewollten Voraussetzungen, unter denen die großen Fleischkonzerne ihre Fabriken mit bis zu 80 Prozent Leih- und vor allem WerkvertragsarbeiterInnen besetzen. Es ist seit langem bekannt, daß das systematische Unterlaufen des Mindestlohns unter anderem mit der Unterbringung der ArbeiterInnen in überteuerten Massenunterkünften betrieben wird. Die dadurch bedingte Ansteckungswahrscheinlichkeit wird durch die körperliche Nähe beim Zerlegen der Tierkadaver und die häufig schwierige Verständigung über Sprachgrenzen hinweg erhöht.

An diesen Verhältnissen, über die in verschiedenen Medien immer wieder berichtet wurde, hat sich seit Jahren fast nichts geändert, was belegt, wie groß die Bedeutung billiger, gewerkschaftlich kaum organisierter Arbeitskräfte für die Profitabilität der Schlachtindustrie ist. Sie sorgen nicht nur dafür, daß Fleischprodukte in der Bundesrepublik konkurrenzlos billig bleiben, ihre Präsenz macht zudem Lohnforderungen der Stammbelegschaften fast unmöglich. Zudem sichern WerkvertragsarbeiterInnen die hohe Exportquote der Fleischindustrie, die bei stagnierender Nachfrage in der Bundesrepublik mindestens ein Fünftel der Gesamtproduktion beträgt. Eine Folge deutscher, mit EU-Subventionen angeheizter Exportstärke besteht in der Zerstörung regionaler Märkte in den Ländern des Globalen Südens, eine andere in der Unterbietung der Fleischindustrien von EU-Staaten, in denen höhere Löhne gezahlt und bessere Sozialstandards geboten werden.

Die vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes, der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, sind zentrale Strukturmerkmale der neoliberalen Konstitution der Europäischen Union. Die dadurch allen EU-BürgerInnen gewährte Arbeitnehmerfreizügigkeit stellt eine erhebliche Flexibilitätsreserve für die Kapitalverwertung in Industrie, Landwirtschaft und Servicesektor dar. Das steile Gefälle im Wohlstandsniveau der einzelnen EU-Mitgliedstaaten ist durch Einkommensunterschiede bedingt, die im Extrem beim Faktor 10 liegen, wenn etwa der Durchschnittslohn in Bulgarien nur ein Zehntel des Verdienstes in Luxemburg beträgt. Weil die Menschen aus armen Regionen notgedrungen dorthin gehen, wo sie mehr oder überhaupt etwas verdienen, haben sich 3,5 der knapp 20 Millionen EinwohnerInnen Rumäniens auf den Weg gemacht, sich als ArbeitsmigrantInnen im EU-europäischen Ausland zu verdingen.

Das Heer der modernen WanderarbeiterInnen besteht allerdings nicht nur, wie häufig suggeriert, aus unterqualifizierten ArbeiterInnen, sondern auch gutausgebildeten Menschen, so daß die Bundesrepublik nicht nur von ihrer Arbeitsleistung, sondern auch den Bildungsinstitutionen der abgehängten Peripherie profitiert. Diese Entwicklung ist gewollt, wie der starke politische Widerstand gegen die Weiterentwicklung der europäischen Integration zur Sozialunion durch die Bundesregierung belegt. Große ökonomische Unterschiede in einem administrativ nach gemeinsamen Standards der Kapitalverwertung durchregulierten Wirtschaftsraum bieten die Grundlage für Profitmargen, die bei einem weitgehend angeglichenen Lohnniveau und entsprechender sozialer Absicherung nicht zu erreichen wären.

Im privatwirtschaftlich organisierten Kapitalismus der EU, in dem eine kleine Minderheit über den größten Teil des des Grundbesitzes und Ackerlandes, der Geldvermögen und technischen Produktionsmittel verfügt, treten die vier Grundfreiheiten nur für die EigentümerInnenklasse als Privilegien in Erscheinung. Der große Rest muß sich nach der stets zu knappen Decke strecken und mit Mobilität wettmachen, was an ökonomischer Sicherheit am eigenen Wohnort fehlt. Was im betriebswirtschaftlichen Kalkül des neoliberalen Kapitalismus positiv zu Buche schlägt, wirkt sich für die soziale Situation der zu Migration gezwungenen Lohnabhängigen durch Verlust der vertrauten Umgebung, des Abschieds von Familie und FreundInnen und der ausbeuterischen Bedingungen am Arbeitsplatz eher negativ aus.

Um sich als ökonomischer Akteur von Gewicht am Weltmarkt behaupten zu können, ist die Beschäftigungspolitik der EU ganz darauf ausgerichtet, eine den ArbeiterInnen zugutekommende Lohnentwicklung und Arbeitszeitregelung so zu begrenzen, daß das einzig wirksame Mittel der Lohnabhängigenklasse, der Streik, von der Konkurrenz um die knappe Ressource Arbeit unterlaufen wird. ArbeiterInnen fast nach Belieben entlassen zu können, ihnen lediglich befristete Arbeitsverträge zuzugestehen oder sie gänzlich auf informelle Weise zu beschäftigen, die Arbeitszeit und -intensität zu erhöhen und sie mit dem Absturz ins ökonomische Elend zu bedrohen sind Mittel einer Politik der Kostensenkung, die in den Schlachtfabriken auf drastische Weise in Erscheinung tritt.

Insbesondere die Einführung des EU-weit abzuschließenden Werkvertrages hat dazu beigetragen, vertraglich noch gut abgesicherte Stammbelegschaften immer weiter zurückzudrängen. Im Unterschied zu der im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geregelten Leiharbeit, die bereits ein großes Einfallstor für Lohndumping und Klassenspaltung darstellt, treten die häufig schlechter entlohnten und sozial weniger gut abgesicherten WerkvertragsarbeiterInnen in keine offizielle Arbeitsbeziehung zu den Unternehmen, bei denen sie im Rahmen eines Werkvertrages tätig sind. Wenn ein Unternehmen einen Werkvertrag mit dem Anbieter eines bestimmten Werkes abschließt, dann ist dieser vollständig für die Erbringung dieser Leistung und damit auch für die dazu von ihm eingestellten ArbeiterInnen zuständig. Die Werkvertragsfirma ist für alles verantwortlich, was Organisation und Ausführung der Arbeit betrifft, deren erfolgreiche Bewältigung der Auftraggeber lediglich in Empfang nimmt, wobei er die dafür anfallenden Kosten als Sachkosten und nicht als Arbeitskosten verbucht, was weitere Kostenvorteile wie etwa eine Befreiung von der EEG-Umlage haben kann.

Im Falle der Fleischindustrie werden den jeweiligen Werkvertragsfirmen bestimmte Aufgaben zugewiesen, die ansonsten von Festangestellten in einem integrierten Gesamtablauf zu vollziehen wären. Was als Ausnahme zur Bewältigung von Produktionsspitzen oder Sonderaufgaben gedacht ist, kann so zur dauerhaften Kostensenkung und zum Abschieben der Verantwortung an die Werkvertragsfirma genutzt werden. Wie diese mit den bei ihnen angestellten ArbeiterInnen umgeht, ob sie ihren Lohn pünktlich und vollständig erhalten, ob sie sozialversichert sind und Anspruch auf Überstundenzuschläge oder Urlaub haben, ist nicht mehr Sache des Auftragsgebers, sondern der Werkvertragsfirma. Da der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei der Werkvertragsarbeit nahe Null liegt und osteuropäische WanderarbeiterInnen durch Sprachbarrieren isoliert sind, bleiben die sozialen und arbeitstechnischen Bedingungen der Werkvertragsarbeit häufig intransparent.

Das zu Lasten der ArbeiterInnen in Werkvertragsunternehmen ausgetragene Lohndumping steigert den Profit großer Unternehmen, die in der Bundesrepublik über weit mehr politischen Einfluß verfügen als jene GewerkschafterInnen, die sich aus Gründen prinzipieller Solidarität für die Rechte der WanderarbeiterInnen aus Polen, Rumänien oder Bulgarien stark machen. Unterminiert wird diese Solidarität zudem aus den gleichen Gründen, aus denen in die sogenannte Sozialpartnerschaft von Arbeit und Kapital eingebundene Lohnabhängige die fremdenfeindliche Ratio nationaler Standortkonkurrenz mitvollziehen, anstatt sich in internationalistischen Bündnissen und transnationalen Arbeitskämpfen zu organisieren. So handelt es sich bei Werkvertrags- und Leiharbeit um Flexibilitätsressourcen, die als Vorteil der Lohnabhängigen auszuweisen im besten Falle der Logik des kleineren Übels geschuldet ist, irgendeinen Job zu haben, anstatt vollständig arbeitslos zu sein.

Vor dem Hintergrund des Zusammenbrechens der Lieferketten der hochgradig arbeitsteilig organisierten Fleischproduktion werden derartige Arbeitsressourcen eher wichtiger, denn diese ArbeiterInnen lassen sich aufgrund kaum vorhandenen Widerstands schnell und unbürokratisch im Betriebsablauf hin- und herschieben oder weit über die herrschenden Arbeitszeitregelungen hinaus einsetzen. Zugleich deckt die Pandemie auf, daß die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft in dieser Industrie so durchrationalisiert ist, daß der Gedanke, hier werden Mensch und Tier gleichzeitig in das Endprodukt "Fleisch" eingespeist, nicht so abwegig ist.

Würden die externalisierten sozialen und ökologischen Kosten der Produktion tierischen Proteins auf das Produkt aufgeschlagen, wäre es für viele Menschen kaum erschwinglich. So unvorstellbar ein Verzicht auf Fleisch für das Gros der Menschen erscheint, so wäre es zugunsten der davon betroffenen Tiere und der Abschaffung einer Arbeit, die einen besonders hohen Grad an Entfremdung aufweist, von Vorteil, über Alternativen nachzudenken. Wenn menschliche Tiere über viele Stunden und Tage hinweg mit den Körperflüssigkeiten, Geweben und Knochen ihres Lebens kurz zuvor beraubter nichtmenschlicher Tiere konfrontiert sind, dann kann sie das bis in ihre Träume hinein verfolgen, so cool und abgebrüht sie sich auch immer geben mögen.

12. Mai 2020


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