Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


RAUB/1244: Brasilien - auf dem Abholzauge blind ... (SB)



Salles zufolge sollte die Regierung es ausnutzen, dass die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf das Coronavirus gerichtet ist, um Umweltvorschriften für Amazonien zu lockern, ohne einen Aufschrei zu erzeugen. "Wir haben in diesem Moment die Gelegenheit, alle Regelungen zu ändern und die Vorschriften zu vereinfachen."
Brasiliens Umweltminister Ricardo Salles in einer Kabinettssitzung [1]

Während der Corona-Pandemie hat die Zerstörung des Tropenwaldes weltweit massiv zugenommen. Das geht aus einer Studie der Umweltstiftung WWF hervor, für die sie Satellitendaten der University of Maryland auswertete. "Alles weist darauf hin, dass wir es bei der explodierenden Waldzerstörung mit einem Corona-Effekt zu tun haben", sagt Christoph Heinrich, Vorstand Naturschutz beim WWF Deutschland. Die Fläche der Tropenwälder in den 18 untersuchten Ländern schrumpfte demnach im März um 6500 Quadratkilometer, was etwa siebenmal der Fläche Berlins entspricht. Dies bedeutet laut WWF-Analyse einen Anstieg der Waldzerstörung um durchschnittlich 150 Prozent im Vergleich zu den Jahren 2017 bis 2019. Am meisten betroffen waren im März Indonesien mit mehr als 1300 Quadratkilometern, der Kongo mit 1000 Quadratkilometern und Brasilien mit 950 Quadratkilometern.

Das nichtstaatliche brasilianische Amazonas-Forschungsinstitut Imazon registrierte in Amazonien für April eine abgeholzte Fläche von 529 Quadratkilometern - ein Anstieg von 171 Prozent im Vergleich zum April des vergangenen Jahres. Dem Institut zufolge könnten viele der Abholzungen in Brasilien von Eindringlingen vorgenommen worden sein, die noch keine Landtitel besitzen. Der Wissenschaftler Carlos Souza, der die Veränderung des Amazonas-Waldes untersucht, sagte: "Zuerst nehmen sie die öffentlichen Flächen ein und danach versuchen sie, diese Gebiete legal zu bekommen." Dies könnte künftig ein sogenanntes Landraub-Gesetz ermöglichen, das Präsident Jair Bolsonaro im Dezember eingebracht hat. Es soll in den kommenden Tagen im Kongreß behandelt werden. Im Falle einer Verabschiedung würde dies die illegale Abholzung und unrechtmäßige Besetzung von öffentlichem Land vor 2018 nachträglich legalisieren.

Während die Umweltbeamten in ihrer Arbeit in Brasilien und anderen Ländern durch die Pandemie stark eingeschränkt werden, machen illegale Holzfäller und Plünderer anderer Ressourcen einfach weiter. Vielerorts nutzen die Menschen den Wald auch aufgrund wegbrechender Jobs als Einnahmequelle. Zum Schutz der Wälder fordert der WWF eine Unterstützung der Entwicklungs- und Schwellenländer. Technische und finanzielle Hilfe könnte dazu beitragen, die illegale Entwaldung einzudämmen. Dazu gehöre nicht nur die bessere Durchsetzung von Gesetzen, sondern auch die Schaffung alternativer Einkommensquellen. Wie bei den verheerenden Bränden in Amazonien im vergangenen Jahr, als führende europäische Politiker damit drohten, das Abkommen zwischen der EU und dem gemeinsamen Markt Südamerikas Mercosur platzen zu lassen, sind die internationalen Handelsbeziehungen einer der entscheidenden Hebel. Hier brauche es dringend bessere und verbindliche Sozial- und Umweltstandards, insbesondere zu entwaldungsfreien Lieferketten. Rund ein Sechstel aller in der Europäischen Union gehandelten Lebensmittel tragen nach WWF-Angaben zur Entwaldung in den Tropen bei. "Der Schutz der Wälder ist eine gemeinsame Aufgabe, der sich niemand entziehen kann", so WWF-Vorstand Heinrich. [2]

Unter Brasiliens rechtsextremem Präsidenten Bolsonaro, der eng mit der Agrarlobby verbündet ist, hat die Abholzung des Regenwaldes im Amazonasgebiet drastisch zugenommen. So vergrößerte sich in seinem ersten Amtsjahr 2019 die Fläche, die geschlagen oder gerodet wurde, um 85 Prozent auf knapp 9166 Quadratkilometer. Die Regierung kritisierte das staatliche Klimainstitut Inpe mehrfach wegen angeblich zu hoher Zahlen. Nachdem im Juli eine Zunahme der Waldvernichtung um 278 Prozent und im August um 222 Prozent im Vergleich zu den Vorjahresmonaten gemessen wurde, entließ Bolsonaro den Leiter des Instituts, Ricardo Galvao. Er habe überhöhte Zahlen publiziert, um dem Präsidenten zu schaden, hieß es. Später erwiesen sich die Zahlen jedoch als korrekt. [3]

Im Verlauf der Corona-Krise ist der CO2-Ausstoß wegen der Einschränkungen in vielen Ländern der Welt zurückgegangen, doch in Brasilien könnte er um zehn bis 20 Prozent steigen. Darauf deutet eine Studie des renommierten Observatorio do Clima, eines nichtstaatlichen Klimaschutz-Netzwerks, hin. Demnach gleicht der starke Anstieg der Abholzung im Amazonasgebiet in diesem Jahr den Rückgang der Emissionen aufgrund der verringerten Wirtschaftsleistung aus. Sollte die Entwaldung im Mai, Juni und Juli diesen Jahres der des Vorjahreszeitraums gleichen, könnten in Amazonien 2020 51 Prozent mehr Emissionen als 2018 ausgestoßen werden. [4]

Per Dekret übertrug Bolsonaro die Kompetenz über die Vergabe von Forstkonzessionen im Amazonasgebiet vom Umwelt- an das Landwirtschaftsministerium. Zudem ist die Regierung bestrebt, die Schutzgebiete indigener Völker für die wirtschaftliche Nutzung wie etwa den Bergbau zugänglich zu machen. Umweltpolizisten, die per Verfassung geschützte Gebiete kontrollieren, berichten von einer starken Zunahme illegaler Aktivitäten wie jener der Goldgräber, die Teil umfassender mafiöser Strukturen sind. Finanzstarke Hintermänner sorgen dafür, daß die von Spezialeinheiten zerstörte Infrastruktur des Raubes umgehend ersetzt wird, wobei sie sich der Unterstützung des Präsidenten erfreuen. "Ich werde herausfinden, wer für die überzogenen Razzien verantwortlich ist", drohte Bolsonaro. "Man darf fremdes Eigentum nicht anzünden. Keine Bagger und keine Lkw. So sehe ich das."

Das Budget der Umweltpolizei Ibama für die Überwachung und den Schutz des Amazonasgebiets wurde unter Bolsonaro stark gekürzt. Zudem bleiben verhängte Umweltstrafen für Invasoren wirkungslos, da der Präsident die Eintreibung der Strafen im Oktober 2019 per Dekret blockiert hat. Umweltminister Ricardo Salles hat zwei leitende Beamte nach einer erfolgreichen Razzia auf unbedeutende Verwaltungsposten versetzt, darunter auch den langjährigen Koordinator Hugo Loss. Suely Araujo war Leiterin der Umweltpolizei, bis Bolsonaro sie 2019 feuerte und einen Vertrauten als Nachfolger installierte. Nach knapp eineinhalb Jahren dieser Regierung sieht Araujo den Umweltschutz in Brasilien massiv geschwächt. "Die Regierung will Schutzgebiete verkleinern und hat dafür einen Pakt mit illegalen Goldgräbern geschlossen. Bolsonaros Politik wirft Brasiliens mühsam aufgebauten Umweltschutz um 40 Jahre zurück." [5]

Von der Corona-Pandemie besonders gefährdet sind auch die Ureinwohner Amazoniens, in deren Territorien es nur eine rudimentäre Gesundheitsversorgung gibt. Ihre Dörfer liegen im Durchschnitt 315 Kilometer vom nächsten Gesundheitsposten entfernt. Brasiliens Staatsanwaltschaft warnt vor einem möglichen "Genozid". Einer der wenigen Lichtblicke ist das Urteil eines Richters, das einen umstrittenen Missionar mit sofortiger Wirkung von einem Spitzenposten in einer Regierungsbehörde entfernt hat. Ricardo Lopes Dias, ein evangelikaler Missionar und ehemaliges Mitglied der New Tribes Mission (NTM)/ Ethnos 360, wurde im Februar zum Leiter der Abteilung für unkontaktierte Völker der Behörde für indigene Angelegenheiten (Funai) ernannt. Diese hat in den vergangenen 30 Jahren eine Politik des Nicht-Kontakts vorgehalten, da der Kontakt mit den Weißen verschiedene indigene Völker dezimiert hatte, weil sie keine Abwehrkräfte gegen Krankheiten wie Masern, die Grippe oder einfach nur Schnupfen hatten. Heute hat die Funai mehr als 100 isolierte Völker registriert.

Die Ernennung von Lopes Dias war höchst umstritten, da evangelikale Missionare unter Präsident Bolsonaro ihre Bemühungen verstärkt haben, Kontakt zu unkontaktierten Völkern aufzunehmen. Der Präsident drängt auf eine Gesetzgebung, die das Land indigener Völker für die kommerzielle Ausbeutung öffnet, und bedient sich dabei auch evangelikaler Unterstützung. Nun hat Richter Antonio Souza Prudente entschieden, daß die Ernennung von Lopes Dias rechtswidrig war, weshalb dieser mit sofortiger Wirkung seines Amtes enthoben werde: Die Ernennung sei "ein klarer Interessenkonflikt" und ein "großes Risiko für die Politik des Verzichts auf erzwungene Kontakte mit [unkontaktierten indigenen] Völkern... und für das Prinzip der Selbstbestimmung". Die Staatsanwaltschaft verfügte demnach über Dokumente, die von internationalen Missionsorganisationen unterzeichnet wurden, mit denen Ricardo Lopes Dias verbunden ist und die die Beteiligung der New Tribes Mission in Brasilien, der er zehn Jahre lang angehörte, an einem Plan zur Herstellung von Zwangskontakten und zur Evangelisierung unkontaktierter Völker belegen.

Die Ernennung von Lopes Dias war eine Kriegserklärung an die unkontaktierten Völker, den Schutz ihrer Territorien und das Recht, unkontaktiert zu bleiben, wenn sie das wollen. Es ist ein wesentlicher Teil der Politik Bolsonaros, die indigenen Völker des Landes zu zerstören, die Teams, die ihre Territorien schützen, aufzulösen und ihr Land an Holzfäller, Bergleute und Viehzüchter zu verkaufen. "Unkontaktierte Völker schützen derzeit riesige Gebiete mit ressourcenreichem, hoch biodiversem Wald. Unter Lopes Dias lief alles Gefahr, erst für evangelikale Missionare und dann für das Big Business geöffnet zu werden. Das hätte sehr wahrscheinlich dazu geführt, dass ganze Völker ausgelöscht worden wären. Jetzt gibt es einen Hoffnungsschimmer, dass dies nicht geschehen wird", erklärt Sarah Shenker, Leiterin der Kampagne von Survivals International. Indigene Organisationen hatten die Kampagne gegen Lopes Dias angeführt, Survival machte sie weltweit bekannt und betrieb monatelang Lobbyarbeit bei den Behörden. "Es bleibt zu hoffen, dass Bolsonaro die Botschaft erhält, dass er, wenn er seine völkermörderische Agenda fortsetzt, bei jedem Schritt mit Widerstand rechnen kann." [6]

Wie notwendig Widerstand gegen dieses Regime ist, unterstreicht die vom Obersten Gerichtshof genehmigte Veröffentlichung eines Videos von der Kabinettssitzung am 22. April. Der kurz darauf zurückgetretene Justizminister Sergio Moro wollte damit den Versuch Bolsonaros beweisen, in die föderale Polizei einzugreifen, um Untersuchungen gegen seine Söhne zu verhindern. Obgleich zu diesem Zeitpunkt bereits Tausende Menschen am Corona-Virus gestorben waren, wurde darüber kaum gesprochen. In erster Linie ging es um ein Investitionsprogramm für die Infrastruktur aus der Feder der Militärs, ein Affront für Wirtschaftsminister Paulo Guedes. Die zweistündige Sitzung zeigte klar, wer das Heft in der Hand hat: das Militär und dessen Sachwalter Bolsonaro. Walter Souza Braga, General und Leiter des Präsidialamts, führte die Sitzung, erteilte und entzog das Wort. Zwar saßen noch weitere sieben Generäle im Kabinett, doch hörten sie schweigend zu, was die ideologischen Einpeitscher von sich gaben. [7]

Bolsonaro pöbelte, drohte und tobte, Dutzende Male benutzte er den Begriff "verdammte Scheiße". Ziel seiner Tiraden waren besonders die konservativen Gouverneure von Sao Paulo und Rio de Janeiro, Joao Doria und Wilson Witzel. Ersteren nannte er "Kacke", letzteren "Gülle". Beide hatten gegen die Ausbreitung des Corona-Virus eine Quarantäne verhängt, die Bolsonaro für diktatorisch hält. Daher sei er auch für die Bewaffnung aller Brasilianer. Sie müßten sich gegen diese Tyrannei wehren können. Bildungsminister Abraham Weintraub sagte wörtlich: "Ich würde diese Penner ins Gefängnis stecken. Beginnend mit dem Obersten Gerichtshof." Er hasse die Kommunistische Partei Chinas, die Brasilien in eine Kolonie verwandeln wolle, und er hasse den Begriff "Indigene Völker", da es nur ein Volk, nämlich die Brasilianer gebe. Die rassistische Familienministerin Damares Alves, eine evangelikale Pastorin, warnte davor, daß zu viele Kinder in afro-brasilianischen Gemeinden geboren würden. "Es geht um Werte", betonte sie. Zynisch berechnend die eingangs zitierte Aufforderung von Umweltminister Ricardo Salles, man solle die Corona-Krise nutzen, um umstrittene Vorhaben unbemerkt durchzubringen. Er selbst hat sich einer solchen Taktik schon mehrfach bedient, um beispielsweise Amnestievorhaben für Umweltsünder durchzusetzen. [8]

Die forcierte Abholzung des Tropenwaldes während der Corona-Krise ist im Falle Brasiliens ein von der Regierung begrüßter und beabsichtigter Prozeß. Diese treibt die Vernichtung indigener Völker und die Zerstörung eines Ökosystems voran, das für Brasilien selbst wie auch global von lebensnotwendiger Bedeutung ist. Da der Regenwald das Klima hervorbringt, welches für seine Existenz unabdingbar ist, führt ein ungebremster Schwund des Waldes absehbar zu einem Zusammenbruch des Wettersystems in der Großregion mit verheerenden Folgen. Wann dieser Kippunkt erreicht ist, weiß man erst dann, wenn die daraus resultierende unumkehrbare Entwicklung ihren Lauf nimmt und jedes Rettungsmanöver zu spät kommt.

Die führenden britischen Supermarktketten haben Brasilien mit einer Auslistung von Produkten aus dem südamerikanischen Land gedroht. Zu einem solchen Boykott sehen sie sich nach eigenen Angaben gezwungen, wenn ein von Präsident Jair Bolsonaro unterstütztes Gesetzesvorhaben angenommen wird, das "zu weiterem Landraub" im Amazonas-Regenwald ermutige. Das Gesetz würde die illegale Abholzung und unrechtmäßige Besetzung von öffentlichem Land vor 2018 - insgesamt 570.000 Quadratkilometer, mehr als die Fläche Spaniens - nachträglich legalisieren.

In einem offenen Brief an brasilianische Abgeordnete und Senatoren äußern sich die Unternehmen "tief besorgt" über den Erlaß 910, der die Landnahme von öffentlichen Flächen nachträglich legalisieren würde. Unterzeichnet wurde das Schreiben unter anderem von den Einzelhandelsriesen Tesco, Asda, Waitrose, J Sainsbury und Marks & Spencers, auch Unternehmen wie Burger King UK schlossen sich an. "Wir rufen die brasilianische Regierung auf, ihre Haltung zu überdenken und hoffen, auch weiterhin mit unseren Partnern in Brasilien zusammenarbeiten zu können." Wirtschaftliche Entwicklung und der Schutz der Umwelt müßten sich nicht gegenseitig ausschließen. [9]

Um diese These mit Leben zu füllen, bedarf es allerdings weit mehr als einer Boykottdrohung europäischer Supermarktketten, die dabei die Wünsche ihrer Kundschaft, ihr Unternehmensprofil und ihre Profite im Blick haben. Folgt man allein den oben genannten Zahlen des WWF, wonach etwa ein Sechstel aller in der EU gehandelten Lebensmittel zur Entwaldung in den Tropen beiträgt, gilt es der Forderung nach entwaldungsfreien Lieferketten gründlich auf den Zahn zu fühlen. Druck auf die brasilianische Regierung auszuüben, erschöpft sich im gängigen Umlastungsprozeß, solange Produktionsweise, Lebensstandard und Konsum im globalen Norden unangetastet bleiben.


Fußnoten:

[1] www.kleinezeitung.at/politik/5817953/Kritik-an-Brasiliens-Umweltminister_Greta-Thunberg_Unsere-Zukunft

[2] www.spiegel.de/wissenschaft/natur/wwf-warnt-vor-corona-effekt-abholzung-der-regenwaelder-verdoppelt-a-e7f4f848-dc2c-4f95-85b6-cef1e23693abc:

[3] www.tagesschau.de/ausland/amazonas-abholzung-107.html

[4] www.rnd.de/wissen/brasilien-hohere-co2-emissionen-wegen-regenwald-abholzung-UOH5VRKNCQBKIUD4XH2CKI6PRE.html

[5] www.tagesschau.de/ausland/brasilien-coronavirus-amazonas-101.html

[6] www.survivalinternational.de/nachrichten/12402

[7] www.dw.com/de/kommentar-das-kabinett-des-grauens-in-brasilien/a-53557657

[8] www.tagesspiegel.de/politik/chaotische-kabinettssitzung-in-brasilien-die-verbalgranaten-des-jair-bolsonaro/25854436.html

[9] www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/regenwald-zerstoerung-britische-supermaerkte-drohen-mit-brasilien-boykott-a-4eec673d-6032-4a41-bed2-4c30a06774ef

26. Mai 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang