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REPRESSION/1355: Was haben kolumbianische Guerillakämpfer im Kopf? (SB)



Manchmal machen absurde Extreme besonders deutlich, wie es um die weithin akzeptierte Normalität bestellt ist. NZZ Online berichtet in der heutigen Ausgabe über eine Studie spanischer Wissenschaftler an kolumbianischen Guerillakämpfern, was Anlaß zur Vorfreude auf ein mindestens kontroverses, wenn nicht gar anregend und aufschlußreich dargebotenes Thema sein könnte. Daß es dabei um Lesenlernen geht, dämpft allerdings die Erwartungen schon beträchtlich, wenngleich man sich mit der Erinnerung an Paulo Freires "Pädagogik der Unterdrückten" über Wasser halten könnte. Vorausgesetzt, man stuft Pädagogik nicht prinzipiell als ein Werkzeug der Infiltration von Herrschaft ein, wofür es gute Gründe gibt, liest sich Freire als ambitionierter Versuch, Alphabetisierung unter Parteinahme für die Unterdrückten in ein Werkzeug der Aufklärung und politischen Bewußtwerdung zu verwandeln. Anstelle des unter Vortäuschung semantischer Neutralität zwangsläufig indoktrinierten Herrschaftswissens soll dabei im Prozeß des Lesenlernens die gezielt parteiische Konfrontation mit den gesellschaftlichen Verhältnissen treten.

Doch auch darum ging es den spanischen Forschern nicht, die sich ausschließlich für die Frage interessierten, zu welchen manifesten Veränderungen im Gehirn Lesenlernen führt. Wie die Wissenschaftler des Zentrums für Hirn- und Sprachforschung in San Sebastian herausgefunden haben wollen, werden dabei die Nervenzellen einzelner Gehirnareale stärker verknüpft, wodurch sich die graue Hirnsubstanz verdichtet. Für die Studie wurde 20 erwachsenen Guerillakämpfern das Lesen beigebracht, wobei man die Veränderungen, die dabei in ihrem Gehirn auftraten, mit der Magnetresonanz-Tomografie visualisierte. Diese Bilder verglichen die Forscher mit jenen von 22 anderen Guerillakämpfern, die Analphabeten blieben.

Warum in aller Welt ausgerechnet kolumbianische Rebellen dafür besonders geeignet sein sollen, erklären die Forscher damit, daß Kinder im Normalfall neben dem Lesen zahlreiche andere Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, weshalb es unmöglich sei, den Anteil des Lesens an den Veränderungen im Hirn zu ermitteln. Ziehe man aber leseunkundige Erwachsene in hochentwickelten Gesellschaften heran, so litten diese häufig an schweren Krankheiten oder allgemeinen Lernproblemen. Somit bildeten die Guerillakämpfer eine ungewöhnliche, aber dem Thema angemessene Gruppe von Versuchspersonen.

Diese Beschau des Gehirns von Guerilleros läßt tief blicken, geht daraus doch vor allem hervor, was im Kopf der spanischen Wissenschaftler vorgeht. Gleichsam ein Universum von jeder Kontaktnahme mit diesen Menschen in außergewöhnlichen Lebensverhältnissen entfernt, unterwerfen sie ihre Versuchsobjekte einer sezierenden Penetration, ohne sich im mindesten dafür zu interessieren, was die kolumbianischen Rebellen in ihrem Kampf bewegt. Welche Gelegenheit wird hier gleichgültig versäumt, etwas in Erfahrung zu bringen, das bedeutsam für das Verständnis des jahrzehntelangen Aufbegehrnes gegen die Herrschaftsverhältnisse sein könnte oder gar die Chance eröffnet, Rückschlüsse auf die eigenen Lebensverhältnisse und deren Zwänge zu ziehen. Dies zeichnet Wissenschaft als praktizierte Herrschaftssicherung aus, daß ihr Blick das Objekt der Unterwerfung zu durchbohren trachtet, ohne auch nur das Geringste erkennen zu wollen und zu können, das dieser Ausweglosigkeit im Streit die Stirn bietet.

16. Oktober 2009