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REPRESSION/1360: "Heimischer Extremismus" ... soziale Bewegungen im Visier (SB)



Während sich die neue Bundesregierung anschickt, den Extremismusbegriff zu pauschalisieren und auf Links- wie Rechtsradikale unterschiedslos anzuwenden, ist man in Britannien weiter. Dort werden die Aktivisten sozialer Bewegungen in den gleichen Topf des "heimischen Extremismus" geworfen und zum Sicherheitsrisiko erklärt wie aggressive Nazis. Rassistische Überfälle auf ethnische Minderheiten werden gleichgesetzt mit Tierbefreiungsaktionen, Antikriegsdemonstrationen oder Sitzblockaden vor den Toren die Umwelt verpestender Firmen. Indem Tierrechtsaktivisten, Kriegsgegner, Rechts- wie Linksradikale und "Umweltextremisten" gemeinsam kriminalisiert werden, erspart sich der Staat nicht nur, auf die höchst unterschiedlichen Anliegen der einzelnen Gruppen einzugehen. Er etabliert eine Norm politischer Dissidenz, für deren Bekämpfung allein deshalb Handlungsbedarf reklamiert werden kann, weil er die Betroffenen mit der autoritären Willkür eines Despoten ausgrenzt und so selbst die Feinde in die Welt setzt, derer er bedarf, um die Gesellschaft mit Ein- und Ausschließungsprozessen formieren zu können.

Zwar ist die Spezies des "heimischen Extremisten" noch nicht zum Abschuß freigebeben, aber allemal Freiwild für die Agenten der sicherheitsstaatlichen Ermächtigungslogik. Diese hat sich, wie einem Bericht der Tageszeitung The Guardian (26.10.2009) zu entnehmen ist, vor einigen Jahren an der Verfolgung radikaler Tierschützer entzündet und ist seitdem zu einer permanenten Bedrohung aller Menschen ausgewachsen, die ihre Meinung in friedlichem Protest kundtun wollen.

Informationelles Bindeglied der Einrichtungen, von denen die Verfolgung "heimischer Extremisten" ausgeht, ist eine Datenbank, in der die Daten aller sozialen Bewegungen und ihrer Mitglieder gespeichert sind. Ziel der Erfassung, der Analyse und der Verwendung dieser Informationen etwa bei Demonstrationen, bei denen Polizeibeamte mit Fotokarten besonders profilierter Aktivisten ausgestattet werden, ist die Bekämpfung jeder Form von "drohendem Verbrechen oder Bedrohung der öffentlichen Ordnung, die aus heimischem Extremismus oder Protestaktivitäten hervorgeht". Die Erhebung der Daten erfolgt landesweit durch die regionalen Polizeibehörden wie durch Sondereinheiten, die Demonstranten gezielt überwachen und fotografieren.

Laut dem Guardian enthält die Datenbank auch Angaben von Firmen, die private Ermittler angeheuert haben, um gegen ihre Kritiker vorzugehen. Eine derartige Zusammenarbeit mit Unternehmen, die nicht davor zurückschrecken, soziale Bewegungen mit Informanten zu unterwandern und deren Erkenntnisse an die staatlichen Sicherheitsbehörden weiterzuleiten, zeigt, wessen Interessen im Kern geschützt werden, wenn "heimische Extremisten" ausgeforscht und eingeschüchtert werden. So wurde eigens eine Sondereinheit aufgestellt, die Firmen berät, was sie gegen politische Kampagnen, die sich gegen ihre Arbeitsweise und Produkte richten, unternehmen können.

Das aus mehreren Behörden, die über geheimdienstliche Vollmachten verfügen, gebildete Observationsnetzwerk bedient sich unter anderem der automatisierten Kennzeichenerfassung, um die Fahrzeuge von Aktivisten gezielt anzuhalten. Anscheinend verwenden die Beamten auch elektronische Peilsender, um die betreffenden Fahrzeuge auch dort ausmachen zu können, wo es keine automatiserte Nummernschilderfassung gibt. Auf die Frage des Guardian, über wie viele Datensätze von Aktivisten das Netzwerk verfüge, wollte dessen Leiter, der nationale Koordinator für heimischen Extremismus, Anton Setchell, keine Auskunft erteilen, angeblich weil sie nicht leicht zu zählen wären. Er schätzte die Zahl der erfaßten "Extremisten" jedoch auf mehrere Tausend Personen, die sich allerdings keine Sorgen zu machen brauchten: "Nur weil man keine Ermittlungsakte bei der Polizei hat, heißt das nicht, daß man dort kein Interesse an einem hat. Jeder, über den es eine Ermittlungsakte gibt, hatte früher einmal keine".

Wer sich in Zeiten des Terrorkriegs aufmacht, sein demokratisches Recht auf das Kundtun seiner Meinung wahrzunehmen und, da dies im formierten neokonservativen Ständestaat wenig auszurichten vermag, zu Protestformen des zivilen Widerstands greift, gehört nicht nur in Britannien, sondern der gesamten EU zu einer Gruppe von Menschen, für die sich die Sicherheitsbehörden auf jeden Fall interessieren. "Extremismus" ist Terrorverdacht light, da lediglich eine Abweichung von der Norm bürgerlicher Gesinnung und erwarteter Zustimmung zu den herrschenden Verhältnissen vorliegt. Im Unterschied zu sogenannten Terrorverdächtigen erleidet man als "Extremist" nicht von unbedingt die persönliche Freiheit einschränkende Maßnahmen.

Dazu kann es allerdings kommen, sollte eine Protestbewegung einmal so einflußreich werden, daß man ihr mit einer der diversen, sehr auslegungsfähigen Terrorismusdefinitionen entgegenkommt und ihre Protestformen als Versuch wertet, Staat und Gesellschafts auf gewaltsame Weise zu verändern. Das ist keine Orwellsche Fiktion, sondern ergibt sich aus dokumentierten Versuchen, schon bloße Meinungsäußerungen und Einstellungen sogenannter Terrorverdächtiger zu einem Straftatbestand zu erklären.

Als "heimischer Extremist" erfaßt und observiert zu werden stellt nicht nur in Britannien, wo die Anwendung freiheitseinschränkender Mittel im Vorfeld strafbarer Handlungen besonders weit gediehen ist, eine akute Bedrohung jedes davon betroffenen Menschen dar. Diese Bedrohung ist Aktivisten aus politisch radikalen Bewegungen zwar seit jeher vertraut, nicht jedoch Umweltschützern oder sozial engagierten Menschen, die etwa für die Rechte von Erwerbs- und Obdachlosen eintreten. Mit der Kriminalisierung ziviler Protestformen, die im bürgerlichen Verfassungsverständnis einer freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung verankert sind, bereitet sich nicht nur im United Kingdom, das über keine geschriebene Verfassung verfügt und dessen Bewohner eher als Untertanen denn als Bürger zu bezeichnen sind, das Kartell aus Staat und Kapital darauf vor, die Krise des demokratischen Systems und den ökonomisch bedingten Verfall bürgerlicher Zustimmung durch klassische Formen der Unterdrückung zu kompensieren.

29. Oktober 2009