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REPRESSION/1425: "Gedankenverbrechen" - britische Ärzte sollen ihre Patienten bespitzeln (SB)



Wenn es gelänge, eine genetische Disposition für das Böse zuverlässig zu verorten, gäbe es kein Halten mehr für eine administrativ verordnete Selektion unerwünschter Gensequenzen. Und sollten Hirnforscher es jemals unter der Schädeldecke trapanierter, EEG- oder CT-gescannter Personen feststellen, würde die Präventionsdoktrin ähnliche Folgen zeitigen. Es ist wohl lediglich der Unzulänglichkeit neurologischer und mikrobiologischer Konzepte und Modelle zu verdanken, daß die Forschung dem Sicherheitsstaat bislang noch nicht die Mittel an die Hand gegeben hat, mit der er seine Bürger von Grund auf paßförmig, unterwürfig und meinungslos formen kann.

Aber an diesem Menschenbild wird gearbeitet. Beispielsweise in Großbritannien. Innerhalb der Europäischen Union kommt dem Land von jeher die Rolle des Vorreiters in Sachen sozialtechnokratische Bevölkerungskontrolle zu. Hinsichtlich der Kompetenzen, die sich die britische Regierung mit den Anti-Terror-Gesetzen zugeschrieben hat, überbietet sie teilweise sogar ihre amerikanischen Freunde, und was das Ausmaß an Repressionen betrifft, schreitet Großbritannien ebenfalls seinen Verbündeten voran. Es scheint kein Zufall zu sein, daß der dystopische Roman "1984" von einem Briten geschrieben wurde. Dessen Autor George Orwell liefert in der Erzählung selbst, ebenso wie im Anhang Beispiele für die Wandlung der Sprache zu "Neusprech", die seiner Prognose zufolge im Jahr 2050 vollständig die alte Sprache ersetzt und widersprüchliche Gedanken ausgemerzt haben soll. Vernimmt man Verlautbarungen aus britischen Regierungskreisen von heute, entsteht der Eindruck, daß wir uns in der Tat auf dem Weg in jene Zukunft befinden.

Das kann an dem orwellschen Begriff "Gedankenverbrechen" anschaulich gemacht werden. Der konservativ-liberalen Regierung zufolge sollen Ärzte und Krankenhauspersonal dazu angehalten werden, potentielle Terroristen bzw. Personen, "die empfänglich dafür sind, in Terrorismus hineingezogen zu werden", zu identifizieren und den Behörden zu melden, berichtete der "Guardian" [1]. Zusätzlich zur muslimischen Gemeinde sollen in Zukunft auf diese Weise verstärkt Tierrechtsaktivisten und rechtsextreme Gruppen beobachtet werden.

Es geht Innenministerin Theresa May ausdrücklich nicht darum, Terroristen oder potentielle Terroristen ausfindig zu machen, sondern sie will weit im sogenannten Vorfeld Personen oder Gruppen bestimmen, auf deren vermeintlichen Nährboden irgendwann einmal, eventuell, unter bestimmen Umständen, möglicherweise, vielleicht so etwas wie Terrorismus entstehen könnte. Zur Beschreibung dieses Vorhabens wäre der Begriff "Prävention" wohl deshalb unpassend, weil ihm verglichen mit der neuen Spitzelvorgabe noch zu konkrete Verdachtsmomente anhafteten.

Als wegweisend für die Richtung, welche die konservativ-liberale Regierungskoalition einzuschlagen gedenkt, gilt die Rede des britischen Premierminister David Cameron am 5. Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz [2]. Der Premier legte den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die innere Sicherheit und erteilte der Idee einer multikulturellen Gesellschaft eine Absage. Man müsse zur Wurzel des Problems vordringen, und das sei nicht der Islam, sondern die Ideologie des islamischen Extremismus, erklärte Cameron, nur um im nächsten Atemzug die von ihm reklamierte Unterscheidung wieder aufzuweichen: Entlang des Spektrums (an Einstellungen) gäbe es Leute, die Gewalt ablehnten, aber verschiedene Bestandteile der extremistischen Weltsicht akzeptierten. Die "Doktrin staatlichen Multikulturalismus" habe versagt und zu keiner Gesellschaft geführt, mit der sich alle identifizierten, befand Cameron.

In Deutschland würde man von Parallelgesellschaften sprechen, was eine Art Pleonasmus darstellt, da eine Gesellschaft bereits parallele, sehr verschiedene Lebensentwürfe zusammenfaßt, vergleicht man beispielsweise einen Hartz-IV-Empfänger mit einem millionenschweren Börsenspekulanten. Parallelgesellschaften zu konstatieren ist Neusprech, da mit ihnen der grundlegende gesellschaftliche Widerspruch - Marx sprach vom Klassenwiderspruch und als Konsequenz daraus vom Klassenkampf - verschleiert und auf soziale Randgruppen innerhalb der Gesellschaft reduziert wird.

Über die neue Weichenstellung auf der bereits vor Jahren in den Anti-Terror-Gesetzen eingeschlagenen Marschrichtung hin zu einer nur dem Anschein nach widerspruchsfreien Gesellschaft war es zu einer schweren Belastungsprobe der britischen Koalitionsregierung gekommen, da sich die Liberalen - wie in Deutschland - an gewisse Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit gebunden fühlen. Selbst ein Antiterrorkrieger und Geheimdienstexperte wie Charles Farr, Leiter des Büros für Sicherheit und Terrorbekämpfung im britischen Innenministerium, kommentierte den Plan, Krankenhausangestellte für die Regierung spitzeln zu lassen, mit den Worten das sei so, als würde man zu einer "rechten faschistischen Partei werden, um eine gewalttätige, weiße, suprematistische Bewegung zu bekämpfen" [1].

Was wird mit den Patienten geschehen, die von ihren Ärzten angezeigt werden? Werden sie, die ein "Gedankenverbrechen" begingen und so unvorsichtig waren, sich gegenüber der ärztlichen Vertrauensperson zu offenbaren, therapiert, was dann bedeutete, sie einer Gehirnwäsche zu unterziehen? Werden sie von ihrem sozialen Umfeld diffamiert? Müssen sie eine elektronische Fußfessel tragen oder werden sie gar vorsorglich interniert?

Premierminister Cameron und Innenministerin May würden solche Fragen sicherlich als völlig fehlgeleitet bezeichnen, und doch drängt sich der sehr wohl begründete Verdacht auf, daß unter zugespitzten gesellschaftlichen Bedingungen, beispielsweise bei der Ausrufung des Not- bzw. Ausnahmezustands wegen eines Anschlags mit vielen Opfern, eines Staatsbankrotts, einer Beteiligung an einem Krieg gegen einen gleichwertigen Gegner, einer Natur- oder Nuklearkatastrophe oder ähnlichem sofort schärfere Sicherheitsmaßnahmen gefordert werden, die dann auch präventive, verdachtsunabhängige Internierungen vorsehen könnten. Der Sicherheit wegen. Eine Entwicklung, die selbstverständlich auch von Deutschland zu erwarten ist, da beide Staaten Teil der gleichen Wertegemeinschaft sind und das jeweils herrschende Establishment trotz nationaler Eigenheiten eine Vertiefung und dauerhafte Befestigung ihrer privilegierten Position anstrebt.

Fußnoten:

[1] http://www.guardian.co.uk/politics/2011/jun/06/doctors-identify-potential-terrorists-plans?INTCMP=SRCH

[2] http://www.number10.gov.uk/news/speeches-and-transcripts/2011/02/pms-speech-at-munich-security-conference-60293

8. Juni 2011