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REPRESSION/1505: Elitenprojekt EU produziert Flüchtlingselend (SB)




Nachdem in der vergangenen Woche vor der italienischen Insel Lampedusa mehr als 300 Asylsuchende aus Afrika bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen waren, wurde in der EU heftig über die europäische Flüchtlingspolitik diskutiert. Nun sind unweit der ersten Unglücksstelle bei einer zweiten Flüchtlingskatastrophe erneut mindestens 34 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Allein in den vergangenen drei Tagen mußten Handelsschiffe mehreren Flüchtlingsbooten mit zusammen mehr als 500 Migranten an Bord zu Hilfe kommen. Soweit bekannt, haben in den letzten zwanzig Jahren bis zu 25.000 Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen, ihr Leben gelassen. Daß sie gefahrvolle Wege einschlagen müssen, ist eine unmittelbare Folge der europäischen Abschottungspolitik.

Angesichts derart katastrophaler Unglücksfälle, die im Gegensatz zum Regelfall eines breiter verteilten Blutzolls von der europäischen Öffentlichkeit wahrgenommen werden, laufen Spitzenpolitiker mit zynischen und heuchlerischen Äußerungen zur Höchstform auf. So verkündete Italiens Ministerpräsidenten Enrico Letta nach dem ersten Unglück, "die Hunderte, die gestern vor der Küste von Lampedusa ihr Leben verloren, sind heute italienische Bürger." [1] Damit nicht genug, erklärte die italienische Regierung, daß die toten Flüchtlinge ein Staatsbegräbnis erhalten würden. Demnach muß ein Flüchtling, der einen legalen Status erhalten will, der seine grundlegenden Rechte sichert, offenbar zuvor unter schrecklichen Bedingungen vor der Küste Europas sterben.

Den Überlebenden der Tragödien, von denen viele Familienangehörige und Freunde verloren haben, droht nach wie vor die Abschiebung. Auf Lampedusa sind die traumatisierten Überlebenden in überfüllten Hütten als "illegale Flüchtlinge" unter schwerer Bewachung eingesperrt. Das Einwanderungsgesetz bedroht sie nicht nur mit Abschiebung, sondern auch mit einer Geldstrafe bis zu 5.000 Euro. Wer als Seemann Flüchtlinge rettet, riskiert nach italienischem Recht eine Anklage wegen Schlepperei. 2002 sorgten Postfaschisten und Lega Nord für eine Verschärfung der Gesetze, woran auch die nachfolgenden Regierungen nichts änderten.

Nach UN-Schätzungen landeten dieses Jahr 32.000 Menschen auf der kleinen Insel Lampedusa und Malta an, deren Aufnahmekapazitäten bis zum Äußersten gespannt sind. Maltas Ministerpräsident Joseph Muscat fühlt sich von der EU im Stich gelassen und fragt verbittert: "Ich weiß nicht, wie viele Menschen noch sterben müssen." Bislang habe es seitens der EU nur leere Worte, aber keine Taten gegeben. "So wie die Dinge sich entwickeln, machen wir aus dem Mittelmeer gerade einen Friedhof." "Wir können nicht mehr weitermachen wie bisher", erklärte auch sein italienischer Amtskollege Enrico Letta. Es müsse etwas auf europäischer Ebene geschehen, weil sein Land überfordert sei. Ähnlich äußerte sich die für Innenpolitik zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malström: "Nach der Tragödie von Lampedusa haben wir Solidaritätsbekundungen aus allen EU-Staaten gehört, aber diese werden leere Hülsen bleiben, wenn ihnen keine Taten folgen."[2]

Eine grundlegende Änderung des europäischen Systems ist jedoch nicht geplant. So ist weiterhin das Land für die Aufnahme von Flüchtlingen und die Bearbeitung ihrer Asylanträge zuständig, in dem Ankömmlinge zuerst die EU erreichen. Daher drechselt man fleißig opportune Sprachregelungen, bezichtigt einander gegenseitig und ist sich dabei doch im Grundsatz einig. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), kritisiert die Bedingungen für Flüchtlinge auf Lampedusa mit den Worten, das sei menschenunwürdig und entspreche nicht den europäischen Standards. "Wenn ein Boot kentert, darf es keine Rolle spielen, ob ein Land mit den Flüchtlingen überfordert ist", erklärt der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, der zugleich einen "fairen Verteilungsschlüssel" fordert. Auf deutscher Seite möchte man die Rosinen herauspicken, indem gut ausgebildeten Wirtschaftsflüchtlingen die Aufnahme erleichtert und das Asylverfahren erspart wird. Dazu Maria Böhmer: "Ich möchte nicht, dass qualifizierte Arbeitskräfte meinen, unbedingt Asyl beantragen zu müssen." Der Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt, regt eine neue Vorstufe des Asylverfahrens an. Darin solle geprüft werden, ob ein Flüchtling als Arbeitsmigrant in Frage kommt.[3]

Unterdessen hat das EU-Parlament das Europäische Grenzüberwachungssystem EUROSUR auf den Weg gebracht, mit dessen Hilfe die Abschottung perfektioniert wird. Es soll dazu beitragen, "die Zahl unentdeckt in die EU einreisender illegaler Flüchtlinge zu verringern", und ist "darauf ausgelegt, die Mitgliedsstaaten dabei zu unterstützen, die Zahl illegaler Einwanderer zu verringern, indem ihre Außengrenzen besser überwacht werden können und die Reaktionsmöglichkeiten ihrer Grenzkontrollbehörden verbessert werden." Bislang werden die insgesamt fast 15.000 Kilometer langen Außengrenzen der EU vorwiegend von den nationalen Grenzdiensten der Mitgliedsländer kontrolliert, unterstützt durch die europäische Grenztruppe FRONTEX. Zusammen mit den europäischen Stellen sind gut 50 verschiedene Behörden damit beschäftigt, die Zuwanderung zu verhindern. EUROSUR vernetzt diese Behörden, baut ein einheitliches Kommunikationssystem auf und macht die Überwachung per Satellit, Aufklärungsdrohnen, Offshore-Sensoren und anderen Aufklärungsgeräten zum Standard. Für die nächsten neun Jahre hat das EU-Parlament dafür knapp 340 Millionen Euro eingeplant, doch gehen Grüne und linke Kritiker davon aus, daß das Projekt eher eine Milliarde kosten wird.

Daß die parlamentarische Abstimmung über das Projekt ausgerechnet inmitten der Kontroverse um die jüngsten Flüchtlingskatastrophen stattfand, war insofern reiner Zufall, als die Planung bereits seit 2008 läuft und das System ab Dezember in sieben an das Mittelmeer angrenzenden Ländern eingesetzt werden soll. Die zeitliche Koinzidenz unterstreicht jedoch die Entschlossenheit, die Außengrenzen der EU noch unüberwindlicher zu machen, indem man noch skrupelloser und effizienter gegen Flüchtlinge vorgeht. Zwar wurde in unvermeidlicher Reaktion auf die aktuellen Ereignisse vor Lampedusa auch die Rettung in Not geratener Menschen in die EUROSUR-Verordnung aufgenommen, doch handelt es sich dabei lediglich um ein Verschleierungsmanöver. Prüft man Details wie etwa Fragen der Kapazitäten und der Kooperation, wird deutlich, daß es keinesfalls um Seenotrettung geht.

Bezeichnenderweise scheiterten Grüne und Linke mit ihren Änderungsanträgen, die das System in ein Rettungsprogramm umwandeln sollten. Die Mehrheit des EU-Parlaments will verhindern, daß Flüchtlinge in größerer Zahl von EUROSUR geortet und von FRONTEX gerettet werden: "Das europäische Modell kann ja nicht heißen, wer es schafft, möglichst in die Nähe europäischer Küsten zu kommen, der hat ein Aufenthaltsrecht in der Europäischen Union, dem wird geholfen. Damit würden wir das zynische Geschäftsmodell der Schlepperbanden noch befördern. Das kann nicht Aufgabe europäischer Politik sein", so der CSU-Europaparlamentarier Markus Ferber.[4]

Daß in Seenot geratene Flüchtlinge im Falle ihrer Entdeckung bessere Rettungschancen haben, muß grundsätzlich bezweifelt werden. In Seenot ist ein Boot nach offizieller Lesart erst im Falle der Manövrierunfähigkeit. Solange es fährt, ist es nicht in Seenot. Die Frage, ob ein Boot zu klein und zu brüchig ist, um den nächsten Sturm zu überstehen, ist damit nicht beantwortet, und ebensowenig, ob die Passagiere ausreichend Lebensmittel haben. Als vor zwei Jahren ein mit 72 Menschen überladenes Boot nach Hilfe funkte, kamen nicht nur Fischerboote, sondern selbst die italienische Küstenwache und sogar ein NATO-Hubschrauber vorbei. Sie brachten Kekse und Wasser, worauf sie wieder abdrehten. Als das Boot zwei Wochen später vor Libyen wiederentdeckt wurde, waren von den 72 Passagieren noch neun am Leben.

Sind die Flüchtlingsströme in Richtung Europa seit jeher nicht zuletzt eine Folge wirtschaftlicher und politischer Ausbeutung und Zurichtung seitens der westlichen Führungsmächte, so haben deren Kriege und Einflußnahmen in Libyen, Somalia, Syrien und anderswo die Region in jüngerer Zeit regelrecht verwüstet. In Syrien sind nach drei Jahren eines von den USA und den europäischen Mächten provozierten Stellvertreterkriegs 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Von den mehr als 30.000 Flüchtlingen, die dieses Jahr nach Italien gekommen sind, waren allein 7500 Syrer und 7500 Eritreer auf der Flucht vor einem brutalen Regime. 3000 Somalier flohen vor der alltäglichen Gewalt in ihrem Land.

Wer die räuberischen Bestrebungen der Großmächte leugnet, ihre Interventionskriege unterstützt und das Elitenprojekt der Europäischen Union verteidigt, mag weiterhin Krokodilstränen über Flüchtlingsschicksale vergießen. An der Produktion des Elends zugunsten des hiesigen Wohlstands ändern will er mit Sicherheit nichts.


Fußnoten:

[1] http://www.wsws.org/de/articles/2013/10/12/lamp-o12.html

[2] http://de.reuters.com/article/worldNews/idDEBEE99C01920131013

[3] http://www.sueddeutsche.de/panorama/fluechtlingsdrama-vor-lampedusa-wir-machen-unser-mittelmeer-zum-friedhof-1.1793171-2

[4] http://www.dw.de/eurosur-dein-feind-und-helfer/a-17150631

13. Oktober 2013