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REPRESSION/1523: Linke Exilorganisationen durch deutsch-türkische Flüchtlingsabwehr gefährdet (SB)



Am 15. April des letzten Jahres stürmten deutsche Sicherheitskräfte Vereinsräume und Privatwohnungen von Personen aus dem Umfeld der "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK). Sieben ATIK-Mitglieder wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b verhaftet. Laut Anklageschrift soll es sich bei ihnen um Führungskader der kommunistischen Partei TKP/ML handeln. Kurze Zeit später stellte die Bundesanwaltschaft (BAW) Auslieferungsanträge für weitere fünf Personen in der Schweiz, in Griechenland und Frankreich. Inzwischen sitzen die ATIK-Mitglieder Müslüm Elma, Erhan Aktürk, Banu Büyükavci, Sinan Aydin, Haydar Bern, Seyit Ali Ugur, Musa Demir, Sami Solmaz und Deniz Pektas in verschiedenen bayerischen Gefängnissen.

ATIK ist eine legale demokratische Organisation, die für die Rechte von Migranten und Arbeitern in ganz Europa eintritt und sich in Kampagnen und Kongressen gegen rassistisch motivierte Gewalt und Diskriminierung engagiert. Den Inhaftierten wird zur Last gelegt, durch das Sammeln von Spenden und organisierte Veranstaltungen den angeblich militanten Kampf der TKP/ML zu unterstützen, die im Verdacht steht, mit bewaffneten Einheiten der Kurdischen Arbeiterpartei PKK Anschläge in der Türkei durchgeführt zu haben, obgleich die Partei nicht auf der EU-Terrorliste steht. Die Anklage der BAW stützt sich im wesentlichen auf Informationen der türkischen Geheimdienste, die in höchstem Maße fragwürdig sind, weil keineswegs ausgeschlossen werden kann, daß die angeblichen Ermittlungsergebnisse durch die Anwendung von Folter, Geständniserpressung und massiver Einschüchterung zustande gekommen sind.

Daß die in Deutschland anhängigen oder bereits abgeurteilten 129b-Verfahren insbesondere gegen kurdische und linke türkische Aktivisten gerichtet sind, die in der Türkei zum Spektrum der in den Augen der AKP-Regierung mißliebigen Opposition gerechnet werden können und im Ausland den antidemokratischen Kurs des türkischen Präsidenten Erdogan anprangern, läßt auf Einvernehmlichkeit zwischen deutschen und türkischen Sicherheitskräften schließen. Dieser Pakt auf Gegenseitigkeit hat eine lange Geschichte und gründet sich in erster Linie auf die Zerschlagung linker Kräfte zugunsten eines NATO-Staates, der schon im Kalten Krieg den südöstlichen Pfeiler in der sogenannten Sicherheitsarchitektur des Militärbündnisses bildete. Das politische Strafrecht, das die bloße Assoziation mit Organisationen der revolutionären Linken im Ausland oder die Zustimmung zu ihrer Programmatik unter Gesinnungsverdacht stellt und kriminalisiert, ist ein wesentliches Instrument der politischen Repression gegen Menschen, die sich der Ideologie und Praxis imperialistischer Politik nicht beugen wollen.

Ungeachtet der immer wieder verschobenen Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der türkischen Republik nimmt die Türkei eine wichtige Scharnierfunktion für die geostrategischen Interessen der EU im Nahen und Mittleren Osten ein. Als Transitland der Flüchtlingsströme aus Syrien, Irak und Afghanistan hat sich die Türkei zudem für das EU-europäische Krisenmanagement so unverzichtbar gemacht, daß sich seine Regierung in einer starken Verhandlungsposition gegenüber Brüssel und Berlin befindet. Ohne eine durch Kontingente und soziale Selektion regulierte Zuwanderung von Flüchtlingen nach Europa drohen die Hegemonialstellung und Handelspolitik der Bundesrepublik Schaden in einem Ausmaß zu nehmen, der von nationalkonservativen Grenzwächtern und nationalliberalen Kulturkriegern weithin unterschätzt wird.

Daß ein Beitritt in die EU wenig Aussicht auf Erfolg hat und selbst Lockerungen bei der Visumspflicht mit harten Bandagen erkämpft werden müßten, ist der Regierung in Ankara durchaus bewußt. Sie kann jedoch darauf hoffen, daß Europa wegschaut, wenn sie ihr "Kurdenproblem" auf militärischem Wege löst und im selben Atemzug die wachsende linke Opposition im Lande bekämpft. Um zu verhindern, daß türkische und kurdische Exilorganisationen in der EU einen Rückzugsraum bilden, ist sie auf Entgegenkommen bei deren Verfolgung im europäischen Ausland angewiesen. Als verschworene Antikommunisten haben deutsche und türkische Sicherheitsbehörden seit jeher gut zusammengearbeitet, und so verwundert es nicht, daß die deutsche Justiz in den letzten Monaten gegen eine Reihe türkisch-kurdischer Organisationen zu Felde zog. Den hier lebenden Migrantinnen und Migranten wird auf diese Weise mitgeteilt, daß die politische Repression der AKP-Regierung nicht an den eigenen Grenzen haltmacht und Widerstand gegen das Regime von Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ihren Preis hat.

Der von der Bevölkerung massiv unterstützte Gezi-Aufstand 2013 hat der türkischen Regierung nochmals deutlich vor Augen geführt, daß große Teile der Zivilgesellschaft nicht gewillt sind, auf die säkularen Errungenschaften von Modernität und demokratischen Grundrechten, die in den kemalistischen Zeiten vor allem von seiten der Gewerkschaften und linker Befreiungsbewegungen mit hohen Blutzoll erkämpft wurden, zugunsten einer neoosmanischen Ermächtigungspolitik zu verzichten. Der kurdische Freiheitskampf für das Recht auf eine eigene Sprache und Kultur sowie die Autonomiebestrebungen auf kommunaler Ebene in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Regionen des Landes stellen für den türkischen Staat eine unversöhnliche Herausforderung dar.

Obwohl der auf Imrali inhaftierte PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan in seiner letztjährigen Newrozbotschaft die Guerilla aufgefordert hatte, auf einem eigens einberufenen Kongreß die militärischen Auseinandersetzung innerhalb der Türkei für beendet zu erklären, hat Ankara die ohnehin bis dahin schleppend bis verzögernd verlaufenden Gespräche mit der kurdischen Befreiungsbewegung einseitig abgebrochen. Es folgten massive militärische Angriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak. Zur Zerschlagung des kurdischen Gesellschaftsexperiments im nordsyrischen Rojava wurde der IS zudem mit Waffenlieferungen aufgerüstet und logistische Unterstützung geleistet.

Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 erhielt die AKP erstmals seit ihrem Regierungsantritt 2002 keine absolute Mehrheit. Mehr noch als dies war ihr ein Dorn im Auge, daß die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 13 Prozent die 10-Prozent-Hürde nahm und Erdogans AKP, die viele Stimmen an die ultrarechte MHP verloren hatte, keine Regierungsmehrheit bilden konnte. Bei den Neuwahlen am 1. November gelang es der AKP jedoch wieder, sich als alleinige Macht in der Türkei zu etablieren.

Als in Teilen der kurdischen Städte im Südosten der Türkei wie Diyarbakir, Cizre, Silopi und Sirnak eine demokratische Autonomie ausgerufen wurde, verhängte die türkische Armee tage- und wochenlange Ausgangssperren, unterband die Wasser-, Strom- und Lebensmittelversorgung und setzte die Telekommunikation aus. Hunderttausende Kurdinnen und Kurden wurden so in Kollektivhaft genommen. Im Zuge der Belagerungsoperationen wurden in einer landesweit durchgeführten Verhaftungswelle über 6000 Oppositionelle, darunter Gewerkschaftsmitglieder und Aktivisten zivilgesellschaftlicher Organisationen wie auch viele Mitglieder der HDP samt einiger Funktions- und Mandatsträger, festgenommen. Seitdem herrscht in der Türkei ein latenter Ausnahmezustand und das drohende Abgleiten in einen Bürgerkrieg. Die Entwicklungen der letzten Wochen deuten darauf hin, daß die AKP ein quasi-diktatorisches System einführen will, in dem die demokratischen Rechte ausgesetzt, die Pressefreiheit rigoros beschnitten und die Integrität der Gerichte weitgehend aufgehoben werden sollen.

Wird dies selbst von CSU-Politikern aus durchsichtigen parteipolitischen Gründen als rechtsstaatswidrig kritisiert, so sind die Berliner Regierungsparteien keineswegs bereit dazu, dem angeblich sicheren Herkunftsland Türkei den Status eines Rechtstaates abzuerkennen. Die geostrategischen und migrationspolitischen Implikationen des Schulterschlusses mit der Türkei wiegen weit schwerer als der Anspruch der türkischen und kurdischen Exilgemeinden in der Bundesrepublik auf Schutz vor politischer Verfolgung. So kam es kurz nach der Rückkehr von Kanzlerin Merkel im Oktober 2015 aus der Türkei unter einem Großaufgebot der Polizei zur Durchsuchung eines kurdischen Vereins und mehrerer Privaträume in Dresden. Dabei wurde der Kurde Kenan Bastu festgenommen. Vier Wochen später erfolgte die Verhaftung des langjährigen Vorsitzenden der kurdischen Dachorganisation YEK-KOM, Mustafa Celik, in Stuttgart. Beiden wird Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b vorgeworfen, und auch hier liegen individuelle Straftaten nicht vor. Der Verdacht, als Regional- oder Gebietsverantwortliche der PKK in Deutschland zu fungieren, reichte für den Haftbefehl. Mittlerweile wurden über 20 migrantische Linke mit Hilfe des 129b verurteilt, und das, wie im Fall von Nurham Erdem, zu Haftstrafen von bis zu 6 Jahren und 9 Monaten.

Die Rote Hilfe e.V., die sich um die Interessen der politischen Gefangenen kümmert, fordert daher, die Verfolgungsermächtigungen gegen die PKK und andere revolutionäre türkische Gruppierungen hier in Deutschland einzustellen, das seit 1993 bestehende PKK-Verbot aufzuheben und die Partei von der EU-Terrorliste zu streichen. Am 18. März, dem Aktionstag für die Freiheit der politischen Gefangenen [1], ist auch dieses Jahr festzustellen, daß politische Repression ein eher zu- als abnehmendes Problem auch in der Bundesrepublik darstellt, während das öffentliche Interesse, diese antidemokratische Praxis anzuprangern, kaum vorhanden ist. Wenn politische Aktivistinnen und Aktivisten ebenso wie geflüchtete Menschen immer widerstandsloser unter die Räder exekutiver Ermächtigung geraten, dann werden Menschen, die sich jetzt noch in sicherer Entfernung zu den Brandherden sozialer Verrohung und Zerstörung wähnen, im Ernstfall erst recht allein dastehen.


Fußnote:

[1] REPRESSION/1520: Solidarität mit den politischen Gefangenen! (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1520.html

17. März 2016


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