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REPRESSION/1546: Staatsräson Okkupation - Kein Bruch in der Grundsatzfrage (SB)



Wenn derzeit aus Israel berichtet wird, fällt zwangsläufig das Wort von einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Der von einem Militärgericht wegen Totschlags verurteilte Soldat Elor Azaria wird offenbar von einer Mehrheit im Land nicht als Täter, sondern als Held gesehen. Der zum Tatzeitpunkt 18jährige Kampfsanitäter hatte Ende März 2016 in Hebron den verletzten palästinensischen Angreifer Abdel Fatah Al Sharif, der bereits bewegungslos am Boden lag, mit einem Kopfschuß getötet. Die Tat war von einem Aktivisten der israelischen Menschenrechtsorganisation B'Tselem gefilmt worden. Das Militärgericht entschied, daß die Videoaufnahme als Beweismittel zulässig sei. Die Oppositionspolitikerin Zehava Galon kommentierte diese Entscheidung im Fernsehen mit den Worten:

Ohne diesen Film des B'tselem-Aktivisten hätten wir wahrscheinlich nie von der Tat erfahren. Und das beleuchtet die Realität im Westjordanland. Es zeigt, was den Soldaten dort geschieht. Elor Azaria war in gewisser Weise das Opfer der rechtsradikalen Bewegung, er ist ein Soldat, der unmöglichen Umständen ausgeliefert ist. [1]

In ihrer über zweieinhalbstündigen Urteilsverlesung führte Richterin Col. Maya Heller aus, die Schüsse auf den palästinensischen Attentäter seien unnötig gewesen. Der verurteilte Soldat Elor Azaria habe aus Zorn und einem Verlangen nach Vergeltung geschossen. Im Prozeß habe sich der Angeklagte in Widersprüche und verschiedene Versionen des Tathergangs verstrickt. Heller kritisierte scharf die Verteidiger des Soldaten wie auch das Verhalten und die irreführenden Aussagen israelischer Siedler und des medizinischen Personals, die nach den Schüssen zuerst am Tatort waren. Expertenaussagen von ehemaligen Armeegenerälen zugunsten Azarias stufte sie als bedauerlich und schlecht informiert ein. Das Strafmaß soll am 15. Januar verkündet werden.

Ein erheblicher Teil der israelischen Bevölkerung lehnt den Prozeß als solchen und um so mehr das Urteil zutiefst empört ab. Vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv skandierten Rechtsradikale und Fußball-Hooligans: "Komm nach Hause! Komm nach Hause!" Sie feierten den verurteilten Azaria als Helden. Ihr Haß richtet sich gegen Journalisten, Richter und selbst Mitglieder der Regierungspartei von Ministerpräsident Netanjahu: "Du gehörst nicht zu unserem Volk. Du gehörst dem Volk der Hisbollah. Du und die Likud Partei, ihr müsst gehen. Gründet eine Likud Partei in Gaza."

Die israelische Polizei hat zwei Israelis wegen Hetze im Netz festgenommen. Ihre Botschaften richteten sich gegen die Militärrichter, die Elor Asaria verurteilt hatten. Israelische Nachrichtenseiten berichten von massiven Aufrufen zu Gewalt. Die Juristen wurden im Netz unter anderem mit Hitler-Bärtchen dargestellt, ein noch in Gewahrsam befindlicher Mann habe auf Facebook geschrieben: "Col. Maja Heller wird ihr Jahr nicht beenden." Eine junge Frau sei unter Auflagen wieder freigekommen, teilte eine Sprecherin der Polizei mit.

Diese Stimmung greifen israelische Politiker wie Kulturministerin Miri Regev auf:

Ich werde mit Sicherheit eine Begnadigung fordern. Hier wurde ein Soldat zurückgelassen. Diese ganze Situation übermittelt an unsere Soldaten die falsche Botschaft, nämlich sich nicht für eine Kampfeinheit zu verpflichten. Denn in komplizierten Situationen - und Soldaten befinden sich in komplizierten Situationen - können sie keinen Schritt machen. Denn wenn sie sich bewegen, werden sie gleich in ein Kriminalverfahren gezogen.

Auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, dessen Regierung dank einer Koalition mit rechtsextremen Parteien regiert, sprach sich am Tag des Urteils auf Facebook für eine Begnadigung Asarias aus:

Es ist ein schwieriger und schmerzlicher Tag für uns alle - vor allem für Elor und seine Familie, unsere Soldaten und Zivilisten, mich eingeschlossen. [2]

Als Generalstabschef Gadi Eizenkot und der damalige Verteidigungsminister Mosche Jaalon die Schüsse des Soldaten sogleich als schweren Verstoß eingestuft hatten, fiel ihnen die politische Führung in den Rücken. Jaalon wurde aus dem Amt gedrängt und durch Avigdor Lieberman ersetzt, der sich zuvor zum glühendsten Verteidiger Asarias aufgeschwungen hatte. Aus dem Todesschützen wurde ein aufrechter Kämpfer gegen den Terrorismus, und die Botschaft ans Volk lautet: Im 50. Jahr der Besatzung heiligt der Zweck alle Mittel.

Hat das Gericht in Tel Aviv den Rechtsstaat hochgehalten und sich weder von populistischen Politikern noch von einer aufgeheizten Stimmung im Volk beeindrucken lassen, wie deutsche Kommentatoren schrieben? Ging es in diesem Verfahren, das einer der umstrittensten Prozesse in der Geschichte Israels war, um eine positive Antwort auf die Frage, welche Armee, Moral und Zukunft dieses Land haben will, kurz um das Schicksal Israels?

Gilad Grossman von der israelischen Menschenrechtsorganisation Jesch Din hat da so seine Zweifel. Asaria sei insofern kein Opfer politischer Hetze, die offen zur Tötung von palästinensischen Angreifern aufruft, als die militärischen Regeln eindeutig seien. Er habe schlichtweg Pech gehabt, erwischt worden zu sein. B'Tselem habe allein im Jahr 2015 nahezu 80 Fälle registriert, bei denen israelische Soldaten involviert waren und Palästinenser zu Tode kamen. Nur 25 Fälle seien überhaupt untersucht und dann eingestellt worden, noch bevor es zur Anklage kam. Seit dem Jahr 2000 sei nur ein einziger Soldat wegen Totschlags verurteilt worden, wobei das Opfer ein britischer Staatsbürger war, der bei einer Demonstration im Westjordanland erschossen wurde.

Daher stellten die Anklage und Verurteilung Asarias zweifellos eine große Ausnahme dar. Daß der Schuldspruch grundsätzlich etwas verändern könnte, bezweifelt Grossman jedoch. Da Asaria gefilmt wurde, als er schoß, und diese Aufnahmen um die Welt gingen, habe das Militär kaum eine andere Wahl gehabt, als ihn vor Gericht zu stellen. Nun sei zu befürchten, daß dieser Fall als Paradebeispiel genutzt werde, um zu demonstrieren, daß Fehlverhalten der eigenen Soldaten sehr wohl untersucht und bestraft werde. Wenngleich Asaria bis zu 20 Jahre Haft drohten, sei ein geringeres Strafmaß zu erwarten. Als zuletzt ein Soldat wegen Totschlags verurteilt wurde, habe das Strafmaß zunächst bei acht Jahren gelegen und sei im anschließenden Revisionsverfahren auf sechseinhalb Jahre reduziert worden. [3]

Der zweite Riß, der sich angeblich mitten durch die israelische Gesellschaft zieht und sie in zwei Lager spaltet, betrifft die Siedlungspolitik. Am 7. Dezember hat die Knesset in erster Lesung ein Gesetz gebilligt, mit dem insgesamt 81 Außenposten von Siedlungen im palästinensischen Westjordanland legalisiert werden sollen. 31 davon waren von Israel bereits zuvor anerkannt worden. Zwar sollen die rechtmäßigen palästinensischen Eigentümer des Bodens mit 125 Prozent des Gegenwertes entschädigt werden, ein Einspruch ist aber nicht vorgesehen. Damit wäre die endgültige Übernahme nichts anderes als eine weitere Annexion palästinensischen Landes. Einem Bericht von Peace Now zufolge werden rund 4.000 Wohneinheiten, die Siedler illegal auf palästinensischem Boden gebaut haben, durch das Gesetz legalisiert.

Ein hochrangiges Mitglied der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) wurde mit der Aussage zitiert, daß sich der Konflikt mit den Palästinensern über Generationen verschärfen würde, sollte das Gesetz angenommen werden. Die Welt müsse "eingreifen, bevor es zu spät ist". Benjamin Netanjahu lüge, wenn er von einer Zweistaatenlösung spreche. Man könne nicht über eine diplomatische Lösung reden und gleichzeitig Dutzende Siedlungen legalisieren, die zukünftig zu großen Städten würden.

Als prominentester Kritiker an der Siedlungspolitik tat sich US-Außenminister John Kerry hervor. Er warf der rechtsextremen Siedlerbewegung vor, sie torpediere alle Versuche, zu einem Frieden zwischen Israel und Palästina zu gelangen. Mehr als 50 Prozent der Minister im Kabinett von Premierminister Benjamin Netanjahu hätten sich explizit gegen einen Staat Palästina ausgesprochen. Die scheidende Obama-Administration hinterließ mit ihrer Enthaltung im UN-Sicherheitsrat, der dadurch erstmals die israelische Siedlungspolitik verurteilte, ein Abschiedsgeschenk, das Nachfolger Donald Trump umgehend rückgängig machen will.

Das deutsche Außenministerium zeigte sich "in hohem Maß besorgt". Man habe die "Aussagen israelischer Regierungsmitglieder in der Debatte mit Befremden" vernommen. "Ein solches Gesetz verstößt gegen internationales Recht." Daß diesen Worten entsprechende Taten folgen, ist nicht anzunehmen. Deutschland unterhält enge militärische Beziehungen zu Israel. Bundeswehrsoldaten trainieren dort den Häuserkampf, künftig sollen in Israel deutsche Drohnen stationiert und Drohnenpiloten ausgebildet werden. Den bereits fünf an Israel gelieferten atomwaffenfähigen U-Booten soll demnächst ein sechstes folgen, drei weitere wurden kürzlich geordert. Ähnliches gilt für die USA, die erst kürzlich Militärhilfen von umgerechnet 35,9 Milliarden Euro innerhalb der nächsten zehn Jahre beschlossen haben. [4]

Wie der CDU-Politiker Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [5] von seinen jüngsten Eindrücken in Israel und Palästina zu berichten weiß, sehe man auf israelischer Seite dem Amtsantritt des zukünftigen US-Präsidenten Donald Trump mit großer Vorfreude entgegen. Viele Diskussionen der Regierung seien von dem klaren Bewußtsein geprägt, Trump werde sie bei der Annexion der Westbank voll und ganz unterstützen. Pläne der Regierung, Gesetze zu ändern, um so die eigenen Gerichte auszuhebeln, würden von den Palästinensern als Ende der Zweistaatenlösung eingeschätzt. Die Hoffnung auf eine friedliche Lösung sei damit nicht mehr gegeben. Die israelische Regierung empfinde die zunehmenden Wirren des Umfelds wie insbesondere die Entwicklung in Syrien als lebensbedrohend und setze einzig auf Stärke in Zusammenarbeit mit einem Präsidenten wie Trump.

Die Spaltung der israelischen Gesellschaft, von der dieser Tage allenthalben die Rede ist, scheint sich demnach eher in taktischen Fragen des Umgangs mit den Palästinensern und der sogenannten internationalen Gemeinschaft zu erschöpfen. Militarismus, Rassismus und Nationalismus sind auch in Israel keine Krankheiten, die den "Volkskörper" infiziert haben, sondern Resultat einer jahrzehntelangen Regierungspolitik und deren Akzeptanz in der Bevölkerung, die die Okkupation in den Rang der Staatsräson erhoben hat.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/erschossener-palaestinensischer-attentaeter-israelischer.1783.de.html

[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/israel-nach-urteil-gegen-elor-asaria-richter-erhalten-morddrohungen-a-1128671.html

[3] https://www.taz.de/!5370893&s/

[4] https://www.jungewelt.de/2016/12-14/034.php

[5] http://www.deutschlandfunk.de/israel-und-der-nahost-konflikt-die-hoffnung-auf-trump.694.de.html?

6. Januar 2017


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