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REPRESSION/1561: Ökonomischer Papiertiger am Bosporus (SB)



Die Ausflüchte der Bundesregierung, warum sie nicht auf den türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan einwirken und ihm bei der Errichtung einer Präsidialdiktatur in den Arm fallen könne, sind Legion. Legion sind freilich auch die holprigen Deutungsversuche der deutschen Leitmedien, wonach der Machthaber in Ankara die Europäer an der Nase herumführe und die Bundeskanzlerin frei nach dem Motto über den Tisch ziehe, Europa brauche die Türkei mehr als die Türkei Europa brauche. Die Schnittmenge gemeinsamer Interessen ist offenbar zu groß, als daß Erdogans Krieg gegen Teile der eigenen Bevölkerung, die Verfolgung jeglicher Kritiker, die Säuberungswelle nach dem Putschversuch und viele repressive Zwangsmaßnahmen mehr die Berliner Regierungspolitik zur ernsthaften Intervention veranlassen könnte.

Wie es tatsächlich um die Kräfteverhältnisse und Abhängigkeiten zwischen dem Platzhirsch der Europäischen Union und dem ökonomischen Papiertiger am Bosporus bestellt ist, dokumentiert der jüngste klammheimliche Bittgang der AKP-Regierung beim Zwingherrn der Schatzkammer. Offenbar am Rande des G20-Gipfels sprach der stellvertretende türkische Ministerpräsident Mehmet Simsek bei Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble vor, um anzufragen, auf welche Weise Deutschland zur Stabilisierung der türkischen Wirtschaft beitragen könne. Um diese ist es inzwischen so schlecht bestellt, daß die Ratingagentur Fitch die Kreditwürdigkeit des Landes auf Ramschniveau herabgestuft hat. Um der Konjunktur wieder auf die Beine zu helfen, hat sich die türkische Führung an Deutschland gewandt. Im Vordergrund habe die Frage gestanden, wie vor allem wieder deutsche Touristen in das Land gelockt werden könnten. Auch eine bessere Zusammenarbeit der beiden Entwicklungsbanken zur Förderung der Wirtschaft im ländlichen Raum der Türkei sei zur Sprache gekommen. [1]

Die despotischen Träume Erdogans und das Schicksal der AKP sind untrennbar mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Türkei verbunden. Nachdem das Land unter der Regierung von Bülent Ecevit am Rande des Staatsbankrotts gestanden hatte, erlebte es unter Erdogan in den frühen 2000er Jahren ein regelrechtes Wirtschaftswunder mit Wachstumsraten von bis zu neun Prozent, großen Zuwächsen an ausländischen Investitionen und einem deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Das Pro-Kopf-Einkommen verdreifachte sich innerhalb weniger Jahre und der steigende Wohlstand erschloß Erdogan breite und loyale Wählerschichten insbesondere in der ärmeren und konservativen anatolischen Bevölkerung.

Der Regierungschef und seine Partei profitierten einerseits von internationalen Konstellationen und andererseits einem aufholenden Schub in bestimmten Sparten der Türkei, für die ihre Politik nur bedingt verantwortlich war. Das Versprechen, Ankara habe eine krisenfeste ökonomische Alternative entwickelt, die das Land dauerhaft stärken und womöglich sogar zu einem Ausweg aus der weltweiten Talfahrt beitragen könnte, erwies sich als Fiktion. Der Rückstand der Produktivkräfte gegenüber jenen der führenden Staaten Europas war schlichtweg zu groß, als daß er binnen weniger Jahre aufgeholt werden könnte.

Selbst die Auffassung, Erdogan habe seinen Landsleuten zumindest einen gewissen Wohlstand auf Dauer verschafft, ist mit Vorsicht zu genießen. Kritische Untersuchungen kommen zu dem Schluß, daß es sich dabei eher um einen von der AKP sorgsam gepflegten Mythos als um eine konkret spürbare Anhebung des Lebensstandards handelt. Das gilt insbesondere, wenn volkswirtschaftliche Rechenexempel unter Ausblendung der herrschenden Klassengesellschaft mit statistischen Durchschnittswerten jonglieren und zu Schlüssen kommen, die mit den tatsächlichen Besitzständen und Vermögensverhältnissen wenig bis gar nichts zu tun haben. Erdogan hat mit Prunk- und Großprojekten nicht gegeizt, was viele Menschen mit erfürchtigem Glauben an die segenspendende Güte des Landesvaters erfüllt, auch wenn sich diese in der eigenen Tasche kaum wiederfindet.

Kommt es früher oder später dazu, daß die Bevölkerung erkennt, auf welch tönernen Füßen die türkische Wirtschaft und damit auch ihr eigenes Wohlergehen steht, wird Erdogan und der AKP die politische Unterstützung wegbrechen. Das erklärt auch die Eile, mit der Erdogan das Präsidialsystem durchpeitschen möchte, um vollendete Machtverhältnisse zu schaffen, bevor der wirtschaftliche Niedergang auf breiter Front Wirkung zeitigt.

Da die Türkei fast ihr gesamtes Öl aus dem Ausland importiert und einen Großteil der Geschäfte über den Dollar abwickelt, leidet die Wirtschaft massiv unter dem hohen Dollar- und Ölpreis. Ausländische Unternehmen haben ihre Investitionen in vielen Fällen auf Eis gelegt, da ungewiß ist, ob sich diese in einem Umfeld mit schwachem Wachstum noch lohnen und ob das Eigentum ausreichend geschützt bleibt, wenn mehr als tausend Richter suspendiert werden und die Rechtsstaatlichkeit de facto über den Jordan geht. Hinzu kommt noch, daß auch die türkischen Verbraucher wegen der wirtschaftlichen Unsicherheit nicht mehr zu ausgiebigem Konsum neigen und dadurch den Rückgang des Wachstums beschleunigen.

Spätestens seit dem gescheiterten Putsch am 15. Juli 2016 ist die Wirtschaftsflaute zum Dauerzustand geworden. Die wichtige Tourismusindustrie leidet unter den sich häufenden Anschlägen und dem in Europa unpopulären Kurs des autoritären Staatspräsidenten. Vor allem Buchungen aus Deutschland brachen im vergangenen Jahr massiv ein. Da etwa 13 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung und rund drei Millionen Arbeitsplätze am Tourismus hängen, ist allein dies schon ein gravierender Rückschlag für die Konjunktur und sozialen Verhältnisse.

Nach den Konflikten um die Armenien-Resolution des Bundestages und die Stationierung deutscher Tornados auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik schien die türkische Regierung ihren außenpolitischen Eskalationskurs gegenüber Deutschland in jüngerer Zeit wieder etwas zurückzufahren. Hat der Bundesfinanzminister nun die wunderbare Gelegenheit genutzt, dem türkischen Bittsteller bei ihrem vertraulichen Treffen in Berlin die Leviten zu lesen, um die AKP-Regierung womöglich mit einer an Bedingungen geknüpften Aussicht auf wirtschaftliche Unterstützung zum Einlenken zu bewegen? Schäuble wäre nicht Schäuble, hätte er sein Gegenüber nicht barsch dazu verdonnert, zuerst und vor allem seine Hausaufgaben zu machen, bevor er an die deutsche Tür klopft. Wie es hieß, habe er dem Gast klargemacht, daß dessen Regierung entschlossener gegen den Terrorismus vorgehen müsse, um die Sicherheitslage zu beruhigen. [2]

Das ist ein erstaunlicher Rat, wo doch Erdogan mit seiner Ideologie, Propaganda und Praxis, die Kurden seien Terroristen und die Gülen-Anhänger Putschisten, wie auch der langen Unterstützung des IS und schließlich der militärischen Intervention gegen die Kurdengebiete in Nordsyrien maßgeblich zur herrschenden Unsicherheit beigetragen hat. Will Schäuble den Machthaber anspornen, die türkische Innenpolitik noch stärker zu militarisieren und noch repressiver zu durchdringen? Falls die Bundesregierung den Eindruck vermeiden will, sie unterstütze Erdogan in seiner Kampagne für ein Präsidialregime, hat Wolfgang Schäuble ihr soeben einen Bärendienst erwiesen.


Fußnoten:

[1] http://www.focus.de/finanzen/news/vertrauliches-treffen-mit-trump-wegen-wirtschaftskrise-jetzt-bittet-die-tuerkei-in-deutschland-um-hilfe_id_6702762.html

[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-bittet-deutschland-um-hilfe-gegen-die-wirtschaftskrise-a-1136161.html

25. Februar 2017


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