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REPRESSION/1577: Tod im Mittelmeer - Lagerhölle in Libyen (SB)



In den ersten sieben Monaten des Jahres 2017 sind fast 2.500 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, so viele wie nie zuvor in einem Jahr. In libyschen Lagern lebten im Juli 42.028 registrierte Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen. [1] Da die Europäische Union die Rettungsmaßnahmen der NGOs auf See einzuschränken versucht und wesentlich mehr geflohene Menschen bereits an der libyschen Küste abfangen will, steht zu befürchten, daß die Todeszahlen auf See wie auch an Land erheblich zunehmen und Flüchtlinge in dramatisch wachsender Zahl den katastrophalen Zuständen in den Lagern überantwortet werden.

Die NGOs retten rund 40 Prozent aller Flüchtlinge, die im Mittelmeer in Seenot geraten. Um sie an ihrer offenbar unerwünschten Arbeit zu hindern, haben die EU-Innenminister Anfang Juli 2017 bei einem Treffen im estnischen Tallinn einen "Verhaltenskodex" beschlossen, den die italienische Regierung nun durchzusetzen versucht. Im Februar hatte Carmelo Zuccaro, Staatsanwalt im sizilianischen Catania, den Vorwurf erhoben, einige Rettungsschiffe arbeiteten den Schleppern zu. Wenngleich er keine gerichtsfesten Beweise vorlegen konnte, griff insbesondere Bundesinnenminister Thomas de Maizière diese Behauptung auf und trug maßgeblich zum Beschluß von Tallin bei. Dieser läuft im wesentlichen darauf hinaus, die NGOs an der Rettungsarbeit zu hindern und direkter polizeilicher Kontrolle an Bord zu unterstellen.

Würden sich die NGOs dem Verhaltenskodex fügen und die aufgenommenen Flüchtlinge nicht mehr wie bislang an größere Schiffe übergeben, sondern selbst nach Italien bringen, könnten sie weniger Menschenleben retten und zugleich dokumentieren, was andere Akteure in diesen Gewässern treiben. De Maizière, seine Kollegen aus anderen EU-Ländern und die Regierung in Rom leisten demnach gezielt Vorschub, daß noch mehr Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken.

Die Vorwürfe gegen die NGOs, sie arbeiteten mit Schleppern zusammen, haben sich als haltlos erwiesen. Die Staatsanwaltschaft in Trapani auf Sizilien hatte das Schiff "Iuventa" der Berliner Flüchtlingsorganisation "Jugend rettet" auf See abgefangen, beschlagnahmt und nach Trapani transportieren lassen. Die Ermittler werfen den Helfern vor, Flüchtlinge an Bord genommen zu haben, ohne daß sich diese in Seenot befunden hätten. Inzwischen sind jedoch gravierende Zweifel an den Vorwürfen publik geworden. Die Bilder und Informationen, auf die sich die Staatsanwaltschaft stützt, sollen von einem verdeckt ermittelnden Agenten stammen, der offenbar einer der Sprecher der rechtsradikalen "Identitären Bewegung" ist. Zudem war er bei einer Firma beschäftigt, die ebenfalls den "Identitären" nahestehen soll. Erst vor kurzem war bekannt geworden, daß die "Identitären" ein eigenes Boot namens "C-Star" gechartert haben, um die Flüchtlingsrettung der Hilfsorganisationen im Mittelmeer zu behindern. Auf den Beweisfotos sind nach Angaben der Crew der "Iuventa" keine Schlepper zu sehen, sondern sogenannte "Engine fisher", die Jagd auf die Motoren der leeren Flüchtlingsboote machen.

Obgleich die Vorwürfe gegen die "Iuventa" unter diesen Umständen kaum aufrechtzuerhalten sein dürften, wird inzwischen auch gegen die internationale Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" ermittelt, die im Mittelmeer zwei der größten NGO-Schiffe betreibt. [2] Unterdessen wartet ein Schiff der spanischen Organisation "Proactiva Open Arms", die ebenfalls den Verhaltenskodex nicht unterzeichnet hat, mit drei Flüchtlingen an Bord in internationalen Gewässern auf Anweisungen, wo es landen soll. Weder Malta noch Italien wollten dem Schiff die Genehmigung zur Landung geben. [3] Daß Italien laut einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags mit dem geplanten "Verhaltenskodex" gegen das Völkerrecht verstößt, [4] scheint die Regierung in Rom nicht zu irritieren.

In einem Lagebericht vom Januar hatten deutsche Diplomaten "KZ-ähnliche Zustände" mit allen erdenklichen Torturen bis hin zu regelmäßigen Erschießungen von Flüchtlingen in von Schlepperbanden betriebenen libyschen Lagern angeprangert. Berichte verschiedener Hilfsorganisationen haben seither die extrem schlechten Bedingungen in verschiedenen Flüchtlingslagern bestätigt. Nun hat die Organisation Oxfam eine Untersuchung veröffentlicht, welche die Lebensumstände der Migrantinnen und Migranten dokumentiert. Dafür seien zwischen Oktober 2016 und April 2017 insgesamt 158 Flüchtlinge befragt worden, die in Sizilien angekommen waren. Diese berichteten von Schreckensszenarien und insgesamt menschenunwürdigen Bedingungen. Menschenhändler, Schmuggler, Milizen und kriminelle Banden sähen in den Migranten "bares Geld", Folter, Gewalt, sexueller Mißbrauch und selbst Morde stünden in den Lagern auf der Tagesordnung.

Wie Oxfam warnt, gefährde der Versuch der Europäischen Union sicherzustellen, daß Menschen Libyen nicht verlassen können, mehr Männer, Frauen und Kinder, mißbraucht oder ausgebeutet zu werden. Würden Menschen an der Flucht aus dem Krisenland gehindert, entstehe ein nicht zu vertretender Schaden. Der Geschäftsführer von Oxfam Italien, Roberto Barbieri, fordert die EU auf, sichere Korridore zu schaffen, über die diese Menschen nach Europa kommen können, um dort ein faires und transparentes Asylverfahren zu erhalten. [5]

Laut der Genfer Flüchtlingskonvention darf kein Vertragsstaat einen Flüchtling in Gebiete zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit bedroht werden. Nähmen die Regierungen der EU das humanitäre Völkerrecht ernst, dürften angesichts der weithin bekannten Zustände in den libyschen Lagern keine Menschen dorthin gebracht werden. Dabei stehen führende europäische Mächte in einer zweifachen Verantwortung, da sie mit dem Angriffskrieg gegen Libyen im Jahr 2011 maßgeblich dazu beigetragen haben, das Land zu verwüsten und einander bekämpfenden Fraktionen zu überantworten. So gibt es dort nach wie vor keine demokratisch legitimierte Regierung, die für ganz Libyen sprechen und international tätig werden könnte.

Dennoch hat Italien unter Berufung auf ein Hilfeersuchen Fajes Al-Sarradschs das erste von mehreren Kriegsschiffen in libysche Hoheitsgewässer entsandt, was eine Verletzung der Souveränität seiner ehemaligen Kolonie darstellt. Zuvor hatte das italienische Parlament ein entsprechendes Gesetz mit der Begründung gebilligt, es gelte die libysche Küstenwache zu unterstützen. Zum einen ist Sarradsch jedoch kein legitimer Regierungschef, sondern eher eine Marionette bestimmter ausländischer Interessen. Zum anderen steht die Küstenwache wie die dortigen Streitkräfte insgesamt im Ruf, Menschen unter Gewalt und Folter festzuhalten und zur Zwangsarbeit zu zwingen oder sie solchen Verhältnissen auszuliefern.

Der Menschenhandel in allen erdenklichen Formen ist zu einem maßgeblichen Gewerbe im kriegszerstörten Libyen geworden. Dessen ungeachtet hat die von der EU ausgebildete und ausgerüstete libysche Küstenwache seit Anfang August bereits mehr als 1100 Menschen aus den Hoheitsgewässern zurück ins Land gebracht. Die italienische Marine will mit Schiffen, Flugzeugen und Hubschraubern dieses Abfangnetz massiv ausbauen wie auch die Küstenwache mit technischen und logistischen Hilfsmitteln unterstützen. Der allenthalben ins Feld geführte Vorwand, man wolle den Menschenhändlern im Mittelmeer und in Nordafrika das Handwerk legen, fällt auf fatale Weise auf die Regierungen der EU zurück.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/315911.feindbild-flüchtling.html

[2] http://www.focus.de/politik/ausland/dubiose-quelle-der-italienischen-staatsanwaelte-schlepper-vorwuerfe-wurden-deutsche-fluechtlingsretter-von-rechtsextremen-verraten_id_7443575.html

[3] http://diepresse.com/home/ausland/welt/5265386/Drei-Fluechtlinge-an-Bord_NGOSchiff-darf-nicht-landen

[4] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-und-retter-im-mittelmeer-muessen-wir-helfen-a-1161209.html

[5] http://www.n-tv.de/politik/EU-darf-Libyen-Flucht-nicht-verhindern-article19974406.html

8. August 2017


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