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REPRESSION/1578: G20-Proteste - Kumpanei schafft Deutungsmacht (SB)



Welche Folgen der G20-Gipfel in Hamburg zeitigt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es Senat, Polizei und Justiz der Hansestadt gelingt, ihre Deutungsmacht durchzusetzen. Die Linksfraktion in der Bürgerschaft fordert demgegenüber vollständige Transparenz, wofür der gesamte Komplex unter die Lupe genommen werden müsse - von der Entscheidung, den Gipfel mitten in Hamburg abzuhalten, über das Einsatzkonzept der Polizei, die Einschränkungen der Grundrechte und die Beeinträchtigungen für die Bürgerinnen und Bürger bis hin zu jeglichen Gewalttaten. Zu diesem Zweck verlangt sie die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, da nur dieser eine umfassende Aufklärung gewährleiste. Hingegen handle es sich bei dem am 31. August erstmals tagenden G20-Sonderausschuß um einen zahnlosen Tiger, weil er völlig auf das Wohlwollen und mithin den Aufklärungswillen der Regierungsfraktionen angewiesen sei. [1]

Zu den diversen Einzelkomplexen, die einer rückhaltlosen Aufarbeitung harren, gehört der Einsatz des Antiterrorkommandos im Schanzenviertel. Wie in der Sondersitzung des Innenausschusses des Hamburger Landesparlaments am 19. Juli 2017 erstmals zur Sprache kam, wurde dabei auch Gummimunition eingesetzt. Bis heute ist jedoch ungeklärt, ob dies rechtmäßig geschah und wer den Befehl dazu gegeben hat. Laut Einsatzleiter Michael Zorn seien seine Kollegen am Haus Schulterblatt 1 vom Dach aus "mit Eisenstangen, großen Steinen, Paletten und so weiter beworfen worden". Da Lebensgefahr bestanden habe, sei die Dachkante gezielt mit Gummigeschossen aus 40-mm-Waffen beschossen worden. Man habe also keine Personen getroffen oder treffen wollen. Der Vorsitzende des Hamburger Landesverbandes der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Gerhard Kirsch, erfuhr davon erst in der Ausschußsitzung. Er ist der Auffassung, daß es für den Einsatz keine Rechtsgrundlage gegeben habe. Die Pressestelle der Hamburger Polizei bestätigt lediglich den Einsatz von Gummimunition, hüllt sich ansonsten aber unter Verweis auf die Polizeitaktik, zu der man keine Angaben mache, in Schweigen.

Den möglichen Waffengebrauch regelt das Hamburger Landespolizeigesetz, in dem jegliche erlaubten "Hilfsmittel der körperlichen Gewalt" und Waffen dezidiert aufgelistet sind. Gummigeschosse gehören nicht dazu. Die Hamburger Rechtsanwältin Ulrike Donat hält deren Verwendung daher für rechtswidrig. Auch Polizisten aus anderen Bundesländern und Österreich hätten sich an rechtliche Vorgaben des Stadtstaates halten müssen. Dem widerspricht der Anwalt Richard Seelmaecker, justizpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion in der Bürgerschaft. Sofern die Gummigeschosse mit den im Gesetz genannten Waffen abgefeuert worden seien, sei dies grundsätzlich rechtlich möglich. Wenn Wasserwerfer nichts mehr brächten und der Einsatz scharfer Munition nicht in Frage komme, könnten "in Sonderfällen von 30-40 Metern Distanz-Gummi-Wuchtgeschosse ein verhältnismäßiges Einsatzmittel sein". Daß sie in Deutschland so gut wie nie zum Einsatz kämen, liege an ihrem sehr engen Anwendungsspektrum und der Gefahr, Unbeteiligte zu verletzten. Aus ebendiesem Grund lehnt die GdP Gummigeschosse generell ab. Zudem drohe ihre Verwendung eine Gewaltspirale in Gang zu setzen, die niemand wollen könne, so Kirsch.

Nach Auffassung des innenpolitischen Sprechers der CDU-Fraktion, Dennis Gladiator, war das gezielte Beschießen der Dachrinne "in einer derartigen Ausnahmesituation gerechtfertigt, um die Gewalttäter vom Dach zum Rückzug zu bewegen". FDP-Fraktion und Grüne erwarten vom Sonderausschuß eine umfassende Aufklärung, wobei ihnen auch Gladiator beipflichtet. Skeptisch ist aus obengenannten Gründen die Linksfraktion. Christiane Schneider, Vizepräsidentin der Bürgerschaft, nennt das Verschießen von Gummimunition "rechtlich zumindest sehr problematisch". Vor dem G20-Gipfel habe der Senat versichert, daß keine Abschußvorrichtungen für Reizgas oder Gummigeschosse zum Einsatz kämen. Daher könne sie sich nicht vorstellen, daß sie verwendet wurden, ohne daß der Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde die Freigabe verfügt oder den Einsatz direkt angeordnet habe. [2]

Zu klären wäre außerdem, was es mit den Steinen, Platten und Paletten auf sich hat, die nach Polizeiangaben auf einem Gerüst bereitlagen und von dort heruntergeworfen wurden. Da es dafür keine weiteren Zeugenaussagen und keinerlei Videoaufnahmen gibt und die monierten Gegenstände nach dem Erstürmen des Gebäudes nicht gefunden wurden, ist bislang unerklärlich, wohin sie so spurlos verschwunden sind.

Ein anderer Aspekt der Auseinandersetzungen, der aktuell für Schlagzeilen sorgt, sind die Vorfälle am Rondenbarg, die ebenfalls von zentraler Bedeutung für die Polizeistrategie, deren Präsentation in der Öffentlichkeit und die Strafverfolgung sind. In dieser Industriestraße in einem Gewerbegebiet trafen am Freitagmorgen um 6:30 Uhr rund 200 Gipfelgegner, die aus dem nahegelegen Protest-Camp kamen, auf Polizisten der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) Blumberg, eine unweit von Berlin stationierte Einheit der Bundespolizei. Wie der für diese Eingreifkräfte zuständige Polizeiführer Norman Großmann im Innenausschuß erklärt hatte, seien die Beamten mehrfach massiv mit Steinen, Flaschen und Pyrotechnik beworfen worden. Die Einheit habe sich "dann irgendwann entschlossen, die Wurfweite zu unterlaufen, der Personengruppe mit hoher Geschwindigkeit entgegenzulaufen, um den Bewurf zu unterbinden". Insgesamt 73 Menschen seien "zu Boden gebracht" worden.

Diese Darstellung stimmt jedoch offenbar nicht einmal mit dem mehreren Medien vorgelegten Video überein, das die Polizei selbst während ihres Einsatzes erstellt hat. Demnach sollen aus der Gruppe insgesamt nur drei Bengalos in Richtung der Beamten und auch nicht in deren Nähe geworfen worden sein, bevor diese die Gruppe überrannten. Die Folgen dieses Vorfalls waren verheerend: Zahlreiche Personen wurden in der direkten Konfrontation mit der Polizei verletzt, weitere stürzten vier Meter in die Tiefe, als eine Mauer einbrach, auf die sie sich geflüchtet hatten. Vierzehn Menschen mußten mit teils schweren Verletzungen in Krankenhäusern behandelt werden, fast 60 Menschen wurden festgenommen. [3]

Unter den 35 Gipfelgegnern, die nach wie vor in Untersuchungshaft festgehalten werden, befinden sich 20 aus dem EU-Ausland. Zu ihnen gehört auch der 18jährige Fabrikarbeiter Fabio V. aus Norditalien, der am Rondenbarg festgenommen wurde. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm aufgrund seiner bloßen Präsenz vor Ort tätliche Angriffe gegen Polizeibeamte und schweren Landfriedensbruch vor, das Hamburger Oberlandesgericht hat die Fortdauer der U-Haft angeordnet. Der Beschluß der drei Richter des 1. Strafsenats unter Vorsitz von Marc Tully, der auch Vorsitzender des Hamburgischen Richtervereins ist, mutet derart aberwitzig an, daß selbst Springermedien wie Die Welt die Hamburger Strafverteidigerin Gabriele Heinecke ausführlich zu Wort kommen lassen. Sie wirft der Hamburger Justiz vor, überhart und ohne ausreichende Beweise gegen ihren Mandanten vorzugehen und ihn ungerechtfertigt in Haft zu lassen. Die Anwältin hat eine Verfassungsbeschwerde für Fabio V. eingelegt und die sofortige Aufhebung der Untersuchungshaft beantragt.

Wie Die Welt bilanziert, werde Fabio V. nicht etwa vorgeworfen, "Supermärkte geplündert, Autos angezündet oder Scheiben eingeworfen zu haben". Auf dem Polizeivideo sei er erst nach der Demonstration zu sehen. Das Video habe bei der Entscheidungsfindung der Gerichte bislang überhaupt keine Rolle gespielt. Vielmehr hätten die Richter aller drei Hamburger Instanzen den Vermerk eines LKA-Beamten übernommen, der den Film ausgewertet hatte, ohne sich ein eigenes Bild zu machen. Von dem "massiven Beschuß" seitens der Gipfelgegner, mit dem die gesamte Begründung der Polizeistrategie am Rondenbarg, der daraus resultierenden Gerichtsbeschlüsse über die U-Haft und der nachfolgenden Prozesse steht und fällt, ist darauf offenkundig nichts zu sehen.

In seiner abwegigen Begründung erklärt der OLG-Senat, der "erkennbar rücksichtslosen und auf eine tief sitzende Gewaltbereitschaft" schließen lassende Tatausführung komme "besondere Bedeutung" zu. V. habe sich an "schwersten Ausschreitungen" beteiligt, dies verdeutliche eine "charakterliche Haltung, welche die Annahme der Schuld rechtfertigt". Weiter schreibt Tully von "schädlichen Neigungen" und stellt "erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel fest, die ohne längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen". Da sich der nicht vorbestrafte Inhaftierte bislang jedoch überhaupt nicht geäußert hat, bleibt völlig offen, auf welche faktische Grundlage die Richter ihren Beschluß stellen. Dennoch glaube der OLG-Senat schon zu wissen, daß bei dem Verfahren "eine absehbar empfindliche Freiheitsstrafe" herauskommen wird, als könne man getrost auf eine Hauptverhandlung verzichten, wundert sich Die Welt. Der Beschluß mache ihren Mandanten für alles verantwortlich, was in Hamburg zum Gipfel passiert ist, so Gabriele Heinecke. "Bei den Ausführungen des Senats handelt es sich um Vorurteile gespeist mit Vermutungen." [4]

Bei den hier geschilderten Aspekten wie dem polizeilichen Vorgehen im Schanzenviertel, den Auseinandersetzungen am Rondenbarg und der Begründung der U-Haft insbesondere bei ausländischen Gipfelgegnern handelt es sich offenbar nicht etwa um bloße Details, die im Gesamtzusammenhang von marginaler Bedeutung wären. Vielmehr zeichnen sich Muster im Umgang mit den G20-Protesten ab, die auf systematisch geplante und gezielt umgesetzte Strategien schließen lassen. Selbst den Konzernmedien, denen man sicher keine Sympathien für linke Gipfelgegnerinnen und -gegner, geschweige denn autonomen Straßenprotest attestieren kann, fallen zunehmend Widersprüche zwischen der offiziellen Darstellung und den verfügbaren Beweismitteln, zumindest aber die zahlreichen offenen Fragen auf. Diese hinreichend zu klären wird im G20-Sonderausschuß nicht gelingen, da dort die regierenden Fraktionen mit ihrer Mehrheit alle unliebsamen Initiativen abwürgen und ihre Version durchsetzen können. Das Resultat wäre verheerend, könnte doch die politische Aufarbeitung des Gipfels unter Ausblendung aller brisanten Fragen eben jene Deutung der Ereignisse dauerhaft verankern, die Senat, Polizeiführung und Gerichte nicht nur für Hamburg, sondern weit darüber hinaus als einzig gültige Bilanz und Grundlage verschärfter sicherheitsstaatlicher Maßnahmen durchsetzen wollen.


Fußnoten:

[1] http://www.linksfraktion-hamburg.de/2017/07/31/warum-fordert-die-linke-einen-untersuchungsausschuss/

[2] http://www.n-tv.de/politik/Das-grosse-Raetseln-um-die-Gummigeschosse-article19980252.html

[3] https://www.welt.de/regionales/hamburg/article167470151/Polizeivideo-laesst-Zweifel-an-Darstellung-der-Behoerden-aufkommen.html

[4] https://www.welt.de/politik/deutschland/article167538292/Sind-Hamburgs-Richter-ueberhart-gegen-die-G-20-Haeftlinge.html

14. August 2017


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