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REPRESSION/1584: Erdogan - Sprachregulation und Rechtswillkür ... (SB)



Seit Verhängung des Ausnahmezustands in der Türkei am 20. Juli 2016 regiert Recep Tayyip Erdogan mittels Dekreten, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten und nicht vor dem Verfassungsgericht angefochten werden können. Eine Zustimmung des Parlaments ist erst nachträglich nötig und findet faktisch nur selten statt. Der Präsident hat inzwischen 30 Dekrete erlassen, von denen lediglich fünf im Parlament debattiert wurden und die zu 369 neuen Gesetzen geführt haben. Schon aus diesem Grund kann von einer parlamentarischen Demokratie kaum noch die Rede sein. Zudem hat das AKP-Regime die Führung oppositioneller Parteien wie insbesondere der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) festnehmen lassen und ins Gefängnis geworfen. Aufhebung der Gewaltenteilung, Ausschaltung der Opposition, Beseitigung der Pressefreiheit, massive Angriffe bis hin zum offenen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden haben die Türkei in ein Staatswesen verwandelt, das unter einer bloßen Hülle demokratischen Scheins in wachsendem Maße die Züge diktatorischer Ermächtigung unter dem Präsidialsystem erkennen läßt. Begründet wird die Repression stets mit dem Vorwurf des "Terrorismus" oder "Putschismus", was einmal mehr belegt, wie schnell und gründlich auch das Erdogan-Regime die Lektion der Kodifizierung und Legalisierung jeglicher Angriffe auf politische Gegnerschaft seitens westlicher Regierungen übernommen hat und zur Anwendung bringt.

Am 24. Dezember wurde der Ausnahmezustand abermals verlängert - auch dies kein Alleinstellungsmerkmal der Führung in Ankara, die sich in Durchsetzung der Staatsräson prinzipiell im selben Boot mit den Administrationen westeuropäischer Länder weiß. Zugleich erließ Erdogan mehrere Dekrete, deren Tragweite heftigen Widerspruch auf den Plan rief, wobei selbst Organisationen ihre Stimme erhoben, die bislang geschwiegen haben. In dem aus oppositionellen Kreisen am entschiedensten monierten Dekret 696 werden nicht nur Handlungen gegen den Putschversuch und die "terroristischen Taten" vom Juli 2016 straffrei gestellt, sondern auch solche, die sich gegen "die Fortsetzung davon" richten. In der damaligen Putschnacht hatten sich nach einem Aufruf des Präsidenten Tausende Menschen in mehreren Städten des Landes auf die Straßen begeben und den Soldaten entgegengestellt, die sich teils freiwillig am Putsch beteiligten, teils lediglich Befehle ihrer Vorgesetzten befolgten. In diesem Zusammenhang soll es zu massiven Übergriffen und Gewaltakten auch gegen unbewaffnete Soldaten gekommen sein, wofür nun eine Generalamnestie erlassen wurde. [1]

Der Passus "Fortsetzung" im Gesetzestext legt nahe, daß auch eine künftige Anwendung intendiert ist. Diese Befürchtung wiesen Justizminister Abdulhamit Gül und der Sprecher der regierenden AKP, Mahir Ünal, entschieden zurück. Ihren Worten zufolge sollten "Helden" straffrei ausgehen, die in der Nacht des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 und am darauffolgenden Tag aktiv in den Kampf gegen Putschisten eingegriffen hätten. Das Dekret beziehe sich also auf eine Situation in der Vergangenheit. Ein solcher Erlaß sei bereits zuvor für Beamte verfügt worden, er werde nun auf alle Personen ausgeweitet. Behauptungen, das Dekret würde auch derzeitige und künftige Formen der Selbsthilfe gegen tatsächliche oder angebliche Terrorakte straffrei stellen, seien "bloße Desinformation", so Ünal auf einer Pressekonferenz.

Doch selbst der frühere Präsident Abdullah Gül, ein Gründungsmitglied der AKP und lange Verbündeter Erdogans, sieht den Wortlaut des Dekrets nicht eindeutig auf die Vergangenheit beschränkt. Der Text müsse dringend präzisiert werden, twitterte Gül: "Ich hoffe, dass es überprüft wird, damit es keine Ereignisse und Entwicklungen ermöglicht, die uns in Zukunft alle beunruhigen würden." Auch die Juristenvereinigung und der Unternehmerverband Tüsiad forderten Erdogan auf, das Dekret klarer zu formulieren, damit keine Mißverständnisse entstehen könnten. [2]

Der Kolumnist der Tageszeitung Hürriyet, Ahmet Hakan, befürchtet, durch das Dekret könnten bürgerkriegsähnliche Verhältnisse heraufbeschworen werden. "Was passiert, wenn jemand einen anderen erschießt und sagt: Ja, ich habe ihn erschossen, aber er war ein Terrorist?" Er könne sich auf das präsidiale Dekret berufen. "Damit", so Hakan, "gibt der Staat sein Gewaltmonopol auf". Die letztgenannte Auffassung ist insofern unzutreffend, als das Erdogan-Regime dieses Gewaltmonopol keineswegs aufgibt, sondern es im Gegenteil auf seine Anhängerschaft in der Bevölkerung auszuweiten trachtet. Während Schlägerbanden aus Kreisen der AKP ihr Unwesen bislang informell oder zumindest ohne direkt ersichtliche Anweisung von höherer Stelle trieben, geht es dem Präsidenten offenbar darum, solche Übergriffe zu legalisieren und auszuweiten. Viele Kommentatoren erinnerten an den gewaltsamen Einsatz von Regierungsanhängern während der Gezi-Proteste im Jahr 2013. Damals waren Erdogan-Anhänger mit Stöcken und Döner-Messern auf Demonstranten losgegangen, ein Ladenbesitzer schlug einen Studenten so brutal, daß dieser starb.

Stichhaltig ist jedenfalls die vorgebrachte Kritik, daß hier abermals ein Verstoß gegen die Gewaltentrennung vorliegt, da auf dem Wege einer Regierungsverordnung verbindliche Regeln für das Gebaren der Justiz in Bezug auf die Strafverfolgung geschaffen werden. Der Vorsitzende der regierungskritischen Anwaltskammer, Metin Feyzioglu, sagte in einer Videobotschaft an die Adresse Erdogans: "Ich bin darüber entsetzt. Die Menschen werden anfangen, einander auf der Straße in den Kopf zu schießen." Das Dekret stelle Zivilisten straffrei, "die sich gegenseitig töten und lynchen".

Die Vorsitzende der neuen Mitte-Rechts-Opposition "Die gute Partei" (IYI Parti), Meral Aksener, erklärte per Twitter: Zivilisten mittels eines Regierungsdekrets das Recht zu erteilen, von der Waffe Gebrauch zu machen unter dem Prätext, Verteidigung gegen einen Putschversuch auszuüben, bedeute, das Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Bei einer so weitreichenden Norm trotz eigener Mehrheit das Parlament zu umgehen und stattdessen eine Regierungsverordnung zu erlassen, könne noch wesentlich ernstere Konsequenzen haben. [3]

Ähnlich sieht es Oppositionschef Kemal Kiliçdaroglu, Parteivorsitzender der CHP, der das Dekret als einen Blankoscheck für Regierungsanhänger bezeichnet, Oppositionelle auch in Zukunft gewaltsam anzugreifen: "Was passiert mit jemandem, der einen regierungskritischen Demonstranten erschlägt, der leicht als Terrorist denunziert werden kann?", fragte Kiliçdaroglu auf einer Pressekonferenz. "Der Mann geht straffrei aus, genauso wie diejenigen, die am 15. Juli 2016 bereits entwaffnete Rekruten gelyncht haben."

Bülent Tezcan, ein Sprecher der CHP, spricht von einem "neuen Putschmemorandum". Es lasse eine Interpretation dahingehend offen, das Putschgeschehen infolge des Ausnahmezustandes als immer noch nicht abgeschlossen zu betrachten. Die Regierung könnte auch künftige Proteste der Bevölkerung gegen Wirtschaftsbedingungen, Streiks oder andere Akte des Widerstandes als Folgeakte des Putsches einordnen: Militärputschisten regieren das Land durch das Kriegsrecht, zivile Putschisten durch Dekrete im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand. So etwas geschehe in Diktaturen, welche die Gesellschaft mit einer zivilen Miliz einschüchtern und terrorisieren wollen, so Tezcan.

Nicht minder scharfe Kritik kommt aus den Reihen der HDP. Sie sieht in dem Dekret nicht nur die Absicht, einzelne gewaltsame Übergriffe auf Oppositionelle zu legitimieren, sondern begreift es als Rechtsgrundlage für organisierte Parteimilizen der Regierung, die gezielt gegen deren Gegner eingesetzt werden sollen. Bereits jetzt kursierten Berichte, wonach die Regierung ihre Anhänger bewaffne. Offenbar versuche Erdogan eine schwindende Unterstützung in der Bevölkerung durch den Einsatz bewaffneter Banden zu kompensieren.

Im Umgang mit den politischen Gefangenen läßt sich Erdogan von Guantánamo inspirieren. So enthält das umstrittene Dekret 696 auch die Anordnung, daß sich männliche Angeklagte, denen vorgeworfen wird, "Terror" zu unterstützen oder Mitglieder einer "Terrororganisation" zu sein, in braunen oder grauen Overalls vor Gericht antreten. Der Präsident zog selbst eine Parallele zum umstrittenen US-Gefangenenlager Guantánamo Bay, verwies aber darauf, daß im Gegensatz dazu Gefangene in der Türkei nicht in Hand- oder Fußfesseln vor den Richter treten müßten, als mache dies den entscheidenden Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einer Willkürherrschaft aus. Der seit mehr als einem Jahr inhaftierte Kovorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, kündigte nach Parteiangaben an, dem Dekret nicht Folge zu leisten: "Wenn wir Uniformen bekommen, dann werden wir sie in Stücke reißen und in den Müll werfen. Wir lassen uns lieber in Leichentüchern hinaustragen, als uns dem Faschismus zu beugen, indem wir Uniformen tragen."

Neben dem Erlaß 696 trat noch ein weiteres Dekret in Kraft, mit dem die Massenentlassungen wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung fortgesetzt werden. Mehr als 2700 Staatsbedienstete wurden per Dekret entlassen, darunter Angehörige der Justiz und der Sicherheitskräfte, aber auch Akademiker. 115 zuvor suspendierte Staatsbedienstete wurden nach angeblicher Aufklärung der gegen sie erhobenen Vorwürfe wieder eingestellt. Seit dem Putschversuch und der Verhängung des Ausnahmezustands im Juli 2016 wurden mehr als 150.000 Staatsbedienstete suspendiert oder entlassen, Zehntausende Menschen inhaftiert.

Erdogan regiert mit harter Hand und zieht dabei alle Register eines brachial-machiavellistischen Despoten. Während unter vielen anderen auch vier Mitarbeiter der regierungskritischen türkischen Zeitung "Cumhuriyet" teilweise seit über einem Jahr wegen "Terrorpropaganda" in Untersuchungshaft sitzen, haben türkische Gerichte seit Ende Oktober bei vier deutschen politischen Geiseln die Haftentlassung oder die Aufhebung ihrer Ausreisesperre angeordnet. Deniz Yücel und mehrere andere Bundesbürger sitzen aber weiter hinter Gittern. In seinem Machtkalkül vordergründig um bessere Beziehung zum Westen bemüht, geht Der türkische Präsident geht nach einem Jahr voll erbitterter Wortgefechte und Beleidigungen wieder auf Deutschland und andere EU-Staaten zu. "Natürlich hoffen wir, gute Beziehungen zu haben", so Erdogan in einer aktuellen Stellungnahme auf seiner Afrikareise. "Wir haben keine Probleme mit Deutschland, den Niederlanden oder Belgien. Im Gegenteil sind die Regierenden in diesen Ländern meine alten Freunde", so Erdogan. "Ich sage immer, wir müssen die Zahl unserer Feinde verringern und die Zahl unserer Freunde erhöhen." [4] Wenngleich die "alten Freunde" das zweifellos von sich weisen würden, steht für die Feinde Erdogans Schlimmstes zu befürchten, kann er sich doch ungeachtet aller Zerwürfnisse im Detail mit den westeuropäischen Staatsführungen des grundlegenden Pakts der Herrschenden sicher sein.


Fußnoten:

[1] http://www.taz.de/!5470138/

[2] http://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_82957710/in-der-tuerkei-herrscht-angst-vor-tod-und-gewalt.html

[3] https://deutsch.rt.com/der-nahe-osten/62761-turkei-heftige-debatte-um-notstandsdekret/

[4] https://www.welt.de/newsticker/news1/article171964897/Diplomatie-Erdogan-hofft-auf-bessere-Beziehungen-zu-Deutschland.html

28. Dezember 2017


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