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REPRESSION/1599: Erdogan - die vorletzte Schlacht ... (SB)



Recep Tayyip Erdogan träumt von einer Zukunft, wie er sie in seiner "Vision 2023" ausgemalt hat. Zum 100. Jahrestag der Republikgründung soll die Türkei eine der zehn größten Volkswirtschaften der Welt und ein bedeutender geopolitischer Spieler sein - mit ihm als Präsidenten an der Spitze, versteht sich. Wenngleich die Wirtschaftsdaten des Landes derzeit eher auf einen kurz bevorstehenden Absturz katastrophalen Ausmaßes hindeuten, setzt Erdogan gerade deswegen alles auf eine Karte, um seinen Machterhalt auf lange Sicht zu zementieren. Seine Mission wäre gescheitert, wenn er bei den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni aus dem Amt gejagt würde. Das durch Repression und Manipulation erzwungene Ergebnis des Referendums vom 16. April 2017 wäre Makulatur, das Präsidialsystem fände nicht statt.

Setzt sich Erdogan abermals durch, wird sein Traum mehr denn je zum Alptraum der türkischen Gesellschaft. Dann könnte er zugleich als Staats- und Regierungschef amtieren und weitgehend per Dekret regieren. Der Posten des Ministerpräsidenten würde abgeschafft, das Parlament entmachtet. Erdogans Einfluß auf die Justiz würde weiter zunehmen, so daß ein Ende der formalen Gewaltenteilung abzusehen wäre. Die Amtszeiten des Präsidenten wären zwar weiterhin auf zwei begrenzt, die Zählung würde jedoch mit der Wahl im Juni neu beginnen. Dank einer Hintertür in den Verfassungsänderungen könnte er im schlimmsten Fall bis zum Jahr 2032 im Amt bleiben, sofern er die jeweiligen Wahlen gewinnt.

Um das Präsidialregime endgültig zu etablieren und nicht auf den letzten Metern seiner Einführung zu straucheln, läßt Erdogan nichts unversucht, die Wählerschaft zu seinen Gunsten zuzurichten, wie er das schon seit Jahren praktiziert. Von Wahlen im rechtsstaatlichen Sinne kann ohnehin keine Rede sein, da die HDP seit Juni 2015 massiven Repressionen ausgesetzt ist. Fast 10.000 Parteimitglieder, rund hundert Bürgermeister und neun Parlamentarier sitzen im Gefängnis, darunter seit Herbst 2016 auch die Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Die Wahlen finden unter dem Ausnahmezustand statt, der wichtige Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit einschränkt und polizeiliche Übergriffe legitimiert. Zudem sind die Medien weitgehend gleichgeschaltet, massive Behinderungen der Opposition zu erwarten. Überdies öffnet das im März verabschiedete neue Wahlgesetz die Tür zur Manipulation. So dürfen Beobachter der AKP in den Wahllokalen die Urnen an sich nehmen, ungestempelte Wahlzettel, die beim Verfassungsreferendum 2017 mutmaßlich zur Fälschung genutzt wurden, sind nun offiziell zugelassen.

Das neue Wahlgesetz ermöglicht Parteienbündnisse, deren Stimmen gemeinsam gewichtet werden. Dies verhindert, daß die ultrarechte MHP an der Zehn-Prozent-Hürde scheitert und der AKP als Bündnisparter verlorengeht. Allerdings macht sich auch die in der Vergangenheit zersplitterte Opposition diese Möglichkeit zunutze und hat ihrerseits zumindest in Teilen ein Wahlbündnis geschlossen. Entscheidend wird jedoch die Präsidentschaftswahl sein, da Erdogan im Falle seiner Wiederwahl die erweiterten Machtbefugnisse nutzen und an einem Parlament vorbeiregieren könnte, in dem AKP und MHP die Mehrheit verloren haben. Um die Oberhand zu behalten, hat er seinen früheren Weggefährten und heutigen Kritiker Abdullah Gül weggebissen, der als aussichtsreicher Gegenkandidat gehandelt wurde. Erdogan schickte seinen Generalstabschef Hulusi Akar heimlich nach Istanbul, wo er Gül drei Stunden lang bearbeitet haben soll. Danach verzichtete dieser auf eine Kandidatur, wofür er offiziell eine fehlende breite Unterstützung in Oppositionskreisen als Begründung anführte. Überdies setzt die Regierung auf Stimmenkauf und bedenkt die etwa zwölf Millionen Rentner im Land eine Woche vor der Juni-Wahl mit einem Geldgeschenk von umgerechnet rund 200 Euro, später soll eine zweite Tranche folgen.

Um nichts dem Zufall zu überlassen, mobilisiert Erdogan nun auch die Auslandstürken. Da er beim umstrittenen Verfassungsreferendum trotz massiver Verfolgung der Opposition nur eine knappe Zustimmung herbeimanipulieren konnte, steht der von ihm geplante Umbau des Staates zu einem Regime mit diktatorischen Zügen noch auf der Kippe. Beim Referendum waren etwa drei Millionen Auslandstürken als stimmberechtigt registriert, immerhin rund fünf Prozent aller türkischen Wahlberechtigten. Die größte Gruppe unter ihnen bildeten die 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken aus Deutschland. Im Juni könnten die Auslandstürken, die tendenziell pro Erdogan stimmen, den Ausschlag geben, ob sich der Präsident durchsetzt oder scheitert.

Vor dem Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr sorgten Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Europa und insbesondere in Deutschland für heftige Kontroversen. Die Bundesregierung konnte nicht umhin, die desolate Menschenrechtslage in der Türkei zu kritisieren, und wünschte nicht, daß die dafür verantwortlichen Politiker hierzulande für sich werben. Erdogan warf Kanzlerin Merkel daraufhin "Nazi-Methoden" vor, weil diese die freie Meinungsäußerung unterdrücke. Ihm deswegen vorzuwerfen, er spreche mit gespaltener Zunge, hieße indessen, Eulen nach Athen tragen. Im Sommer 2017 verfügte das Auswärtige Amt praktisch ein generelles Verbot von Wahlkampfauftritten ausländischer Politiker. In einer Notiz an die Botschaften in Deutschland hieß es, daß Auftritte jeder Art der Genehmigung bedürfen und mindestens zehn Tage zuvor angemeldet werden müssen. Die Genehmigung werde grundsätzlich nicht erteilt, wenn der Auftritt in einem Zeitraum von weniger als drei Monaten vor dem Termin von Wahlen oder Abstimmungen liegt.

Nach Auftrittsverboten in Deutschland, den Niederlanden und Österreich waren Wahlkampfveranstaltungen türkischer AKP-Politiker in diesen Ländern nicht mehr möglich. Deshalb absolvierte Erdogan nun seinen wohl einzigen Auftritt in Europa in Sarajevo. Offizieller Anlaß seines Besuchs in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas war ein bilaterales Treffen, doch erregte seine Rede in der Sporthalle Juan Antonio Samaranch die größte Aufmerksamkeit. Dort fand die Generalversammlung der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), einer Lobbyorganisation mit engen Verbindungen zur türkischen Regierungspartei AKP, statt, die erstmals nicht in Deutschland einberufen wurde. Sie hatte den Auftritt Erdogans organisiert und eigenen Angaben zufolge mehr als 10.000 Auslandstürken aus ganz Europa, darunter rund 5000 aus Deutschland und 3000 aus Österreich, in Sarajevo versammelt. Medienberichten zufolge waren Tausende von der UETD mit Bussen herangeschafft worden, um dem türkischen Präsidenten eine gewaltige Kulisse zu garantieren.

Dessen Wahlkampfauftritt war auch in Bosnien-Herzegowina nicht unumstritten, zumal das Land ein potentieller EU-Beitrittskandidat ist. Dem könnte eine zu große Nähe zur Türkei eher abträglich sein. Erdogans Auftritt mitorganisiert hatte Bakir Izetbegovic, der Vertreter der Muslime im dreiköpfigen bosnischen Staatspräsidium, dem auch ein Kroate und ein Serbe angehören. Das kroatische Mitglied des Gremiums, Dragan Covic, sagte, er habe von Erdogans Auftritt aus den Medien erfahren. Der Besuch füge seinem Land erheblichen Schaden zu. Seines Erachtens spielten Izetbegovic und Erdogan einander die Bälle zu. Izetbegovic hole den unter konservativen Muslimen populären Erdogan ins Land, um seinen eigenen Wahlkampf für die Parlamentswahlen im September zu unterstützen. Als Geschenk brachte der türkische Präsident die Zusage mit, daß sein Land den Bau der schon lange geplante Autobahn zwischen Sarajevo und Belgrad finanzieren wird.

Auf einer riesigen Bühne schritt Erdogan über den roten Teppich zum Mikrofon und heizte die Menschenmenge immer wieder mit der zentralen Botschaft seiner Tirade auf, es gelte, sich gegen fremde Mächte zusammenzuschließen. Er sprach von einem "zweiten Befreiungskrieg" und von "Fallen", die der Nation gestellt würden, um die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Landes gegeneinander aufzubringen. "Einige Leute versuchen, die Türkei zu bremsen", wetterte er und verwies dabei auch auf Kräfte im Europäischen Parlament. Immer wieder fielen Sätze wie: "Einige Leute versuchen uns zu spalten." Oder: "Es ist Zeit, sich zu vereinen. Wir müssen eins werden." [1]

Er warb aber auch mit konkreten Projekten für sich und verwies auf 41 Botschaften der Türkei im Ausland und 54 Flughäfen. Er berichtete von neuen Brücken und Tunneln in Istanbul, wie überhaupt Großprojekte, die er in paternalistischem Gestus seinem Land schenkt, zentrale Elemente seines autokratischen Führungsstils sind. Wenn er viele seiner Landsleute glauben macht, ihre Lebensverhältnisse hätten sich in seiner Regierungszeit und Präsidentschaft erheblich verbessert, ist dieser Mythos nicht zuletzt mit pompös gefeierten Megaprojekten erkauft. So wird derzeit nördlich von Istanbul der größte Flughafen der Welt unter einem mörderischen Termindruck gebaut, der schon zahlreiche Arbeiter das Leben gekostet hat.

"Seid ihr bereit, der ganzen Welt die Stärke der europäischen Türken zu demonstrieren?", schwor Erdogan die Auslandstürken darauf ein, als sein langer Arm zu fungieren. "Gebt von Deutschland, Belgien, Österreich, den Niederlanden aus eine Antwort, die überall in Europa gehört werden kann." [2] Er rief seine Anhänger im Ausland dazu auf, dort ihren Einfluß auszuweiten: "Nehmt unbedingt die Staatsangehörigkeit der Länder an, in denen ihr lebt", sagte er. "Ich bitte euch, dass ihr eine aktive Rolle in den politischen Parteien in den Ländern übernehmt, in denen ihr lebt. Ihr solltet ein Teil dieser Parlamente sein, nicht diejenigen, die ihr Land verraten." Unter Verräter subsumiert er bekanntlich alle türkischstämmigen Kritiker wie etwa den Grünen-Politiker Cem Özdemir, den er in der Vergangenheit heftig angegriffen hatte. [3]

"Seid ihr bereit, den Terrororganisationen und ihren lokalen und ausländischen Handlangern eine osmanische Ohrfeige zu verpassen?", kam Erdogan unter dem Jubel seiner Anhänger zum Kern seiner Rede. "Seid ihr bereit, mich mit einer Rekordzahl an Stimmen in der Präsidentenwahl zu unterstützen?" Bei den Wahlen am 24. Juni gehe es um eine Entscheidung "für das nächste Jahrhundert unseres Landes". In Erdogans Vision existiert keine legitime Opposition, da er seine Gegner allesamt zu Terroristen und deren Handlangern erklärt. Das von ihm angestrebte Präsidialregime ist keine Konservierung des Status quo, was schlimm genug wäre. Vielmehr droht eine Ära noch schärferer Repression und forcierter Kriegsführung.


Fußnoten:

[1] www.n-tv.de/politik/Seid-ihr-bereit-fuer-die-osmanische-Ohrfeige--article20443573.html

[2] www.abendblatt.de/politik/article214340943/Erdogan-fordert-von-Auslandstuerken-Rekordzahl-an-Stimmen.html

[3] www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_83804076/-seid-ihr-bereit-eine-osmanische-ohrfeige-zu-geben-.html

22. Mai 2018


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