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REPRESSION/1606: Erdogan - mißtrauensbildende Maßnahmen ... (SB)



Das beste Mittel, seiner Unabhängigkeit verlustig zu gehen, ist, das Geld auszugeben, das man nicht besitzt
Kemal Atatürk (1881-1938) zur Frage ausländischer Anleihen [1]

Die türkische Republik wurde 1923 von Mustafa Kemal Atatürk als laizistische parlamentarische Demokratie gegründet und im Sommer 2018 von Recep Tayyip Erdogan de facto als solche abgeschafft. Mit seinem Amtseid trat das Präsidialregime in Kraft, das alle staatlichen Gewalten und Institutionen zu Lakaien des Despoten degradiert, deren verbliebene Daseinsberechtigung sich darin erschöpft, ihm zu Willen zu sein. Das Volk hat gesprochen und seinen Feinden eine Abfuhr erteilt, erklärt er in protofaschistischer Manier seinen Aufstieg zur Alleinherrschaft zum Dienst an der Nation, deren Ehre er wiederhergestellt habe und die er zu wahrer Größe führen werde. Wie alle Machthaber, die sich auf dem Weg ganz nach oben jeglicher Opposition auf brachialste Weise entledigt haben, kann er nicht mehr umkehren. Er hat zuviel Blut vergossen, zu viele Gefängnisse gefüllt und zu viele Existenzen zerstört, als daß er sich jemals einer Rückkehr in rechtsstaatliche Verhältnisse und der Abrechnung stellen könnte. Und wie die meisten seiner gewalttätigen Vorgänger in den Präsidentenpalästen wird er die Vision einer glorreichen Zukunft auch für jene Menschen in einen Alptraum verwandeln, die ihm heute zujubeln. Seine Antwort auf alle Probleme heißt Repression und Krieg, wovon er um so rücksichtsloser Gebrauch machen wird, je mehr ihm das Wasser bis zum Hals steht.

Daß der Pegel steigt, kündigt die am Horizont heraufziehende Wirtschaftskrise an, deretwegen Erdogan die Neuwahlen von November 2019 auf Juni 2018 vorgezogen hat. Er weiß nur zu gut, daß die nationalistisch, rassistisch und islamistisch aufgeheizte Euphorie seiner Anhängerschaft der Ernüchterung weichen wird, wenn die Lebensverhältnisse schlechter werden und der Mythos verfliegt, er habe seinen Landsleuten Wohlstand geschenkt. In Zeiten boomender Ökonomie als paternalistischer Landesvater Segen zu spenden, ist eine Sache. Die unbeherrschbaren Kräfte einer kapitalistischen Krisenwirtschaft zu zügeln, verlangt ihm jedoch mehr ab, als Willkür und Befehlsgewalt erzwingen können.

Daß er seiner engsten politischen Umgebung mißtraut, nimmt nicht wunder, bedroht die ihm zur zweiten Natur gewordene Großmannssucht, Unberechenbarkeit und Heimtücke doch auch und gerade die Weggefährten, die ihm zu nahe kommen und seine alleinige Führerschaft in Frage stellen könnten. Deshalb nimmt seine Herrschaft zunehmend dynastische Züge an, wenn er seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zum Finanzminister ernennt, um sich auf diesem riskanten Feld abweichende Meinungen vom Hals zu schaffen. Wenngleich es wie immer auch um persönliche Bereicherung und Vetternwirtschaft geht, schart Erdogan doch mit der Postenvergabe im Familienkreis vor allem die einzigen Akteure um sich, deren Blutsbanden er noch traut.

Daß sich Erdogan angesichts galoppierender Inflation und dramatischen Währungsverfalls halsstarrig jener Kur widersetzt, die Ökonomen mangels wirksamer Heilmittel zumindest zur Milderung der Symptome empfehlen, könnte aus einer irrlichternden Mixtur aus rationalen und irrationalen Facetten im Denken und Handeln des türkischen Präsidenten resultieren. Wer jeden Einwand als Angriff auf seine Ehre interpretiert, hinter jeder Ecke eine Verschwörung wittert und jegliche Opposition als "terroristisch" verfolgt, muß wohl zu der Überzeugung gelangen, daß ihm seine Feinde einen verhängnisvollen Kurs aufschwatzen wollen, um ihn ins Verderben zu locken. Andererseits drängt ihn aber auch die Notwendigkeit, die Komplettierung seiner Herrschaft unablässig voranzutreiben, da dieser hoch aufgeladene Prozeß im Falle einer Stockung umkippen könnte, zu eigenwilligen Lösungsansätzen.

Erdogan setzt voll und ganz auf das Wirtschaftswachstum, obgleich dieses auf tönernen Füßen steht. Kreditfinanzierte Konjunkturprogramme, mit denen er die türkische Wirtschaft nach der Anschlagserie und dem gesteuerten Putschversuch aufpäppeln mußte, um die Wahlen ohne allzu auffällige Manipulationen zu gewinnen, bescherten der Türkei im Jahr 2017 ein Wachstum um 7,5 Prozent - so stark wie in keinem anderen Land der Welt. [2] Die Propaganda, die Türkei könne unter seiner weisen und starken Führung eigenständig alle Stürme erfolgreich abwettern, wenn man ihm nur nicht ins Ruder greife, steht und fällt mit einer ökonomischen Expansion, wie aufgeblasen sie auch sein mag. Damit handelt Erdogan letztlich nicht anders als alle anderen Regierungen, die die Krise nicht bewältigen können, ihre Wiederkehr jedoch möglichst lange zu verzögern versuchen. Die Türkei ist jedoch als Schwellenland wesentlich anfälliger für Verwerfungen als führende westliche Industriestaaten, so daß sie eine erdrutschartige Bewegung in den Hochburgen des Finanzkapitals zu ihren Lasten an den Rand des Abgrund drücken könnte.

Nach den gängigen Parametern der Ökonomen ist die türkische Wirtschaft überhitzt, die Inflation betrug im Juni mehr als 15 Prozent und die Währung verfällt. Als klassisches Instrument zur Inflationsbekämpfung gilt eine Erhöhung der Leitzinsen seitens der Notenbank, die einen abkühlenden Effekt auslösen soll, damit aber auch das Wirtschaftswachstum bremst. Genau das will Erdogan jedoch verhindern, der ein erklärter Gegner hoher Zinsen ist und sogar die Möglichkeit einer Zinssenkung in den Raum gestellt hat. Dabei würde ihm derzeit weder eine unabhängige Notenbank, noch ein marktliberaler Fachminister folgen, weshalb er sich beide vom Hals schafft. Der frühere stellvertretende Ministerpräsident Mehmet Simsek, der international als letzter Rettungsanker der türkischen Finanzpolitik galt, gehört der neuen Regierung nicht mehr an. Erdogans 40jähriger Schwiegersohn Berat Albayrak ist zwar studierter Betriebswirt, doch ist nicht ersichtlich, was ihn zu seinem hochrangigen Posten im Kabinett qualifizieren würde.

Unmittelbar nach seiner Amtseinführung ermächtigte sich Erdogan per Dekret selbst, den Präsidenten und den Vizepräsidenten der Zentralbank allein zu ernennen. Außerdem wird durch das Dekret die Amtszeit der beiden Spitzennotenbanker des Landes von bisher fünf auf nur noch vier Jahre verkürzt. Überdies wurde der Präsident von der Zeitung "Hurriyet" mit den Worten zitiert: "Wir haben viele Instrumente. Ich denke, wir werden die Zinsen in nächster Zeit fallen sehen. Ich bin mir sicher, nicht nur unsere staatlichen Banken, sondern auch unsere privaten Banken werden Verantwortung übernehmen, falls notwendig." [3] Dies nährte in Verbindung mit der Ernennung seines Schwiegersohns zum Finanzminister zwangsläufig den Verdacht, Erdogan wolle auch die Geldpolitik der Türkei allein kontrollieren. Die türkische Währung Lira fiel daraufhin zeitweise auf ein historisches Tief. Im vergangenen Jahr hatte sie etwa 30 Prozent gegenüber dem Dollar abgewertet, seit Jahresbeginn sind es bereits 22 Prozent, wobei sich die Talfahrt nun weiter beschleunigen dürfte.

Die Ratingagentur Moody's rügte die Ernennung eines Familienangehörigen zum wichtigsten Minister. Das werfe Fragen auf, was die Unabhängigkeit der Zentralbank angehe: "Für die Herausforderungen der strauchelnden türkischen Wirtschaft ist es negativ, wenn Fragen über die Unabhängigkeit der Zentralbank aufgeworfen werden." Albayrak bemühte sich in einem von der Nachrichtenagentur Anadolu zitierten Interview umgehend, diesen Eindruck zu entkräften: "Es ist nicht akzeptabel, dass die Unabhängigkeit der Zentralbank und die Entscheidungsmechanismen Gegenstand von Spekulationen sind", erklärte er. "Wir werden Maßnahmen ergreifen, um die Inflation so schnell wie möglich auf einen einstelligen Wert und dann auf unser Ziel zu reduzieren", erklärte der neue Finanzminister.

Wenn er diesen Worten nicht bald Taten folgen läßt, könnte das Szenario eintreten, das eine Devisenexpertin der Commerzbank in düsteren Farben an die Wand malt: Die nächste Zinsentscheidung der Notenbank am 24. Juli sei "die Stunde der Wahrheit für die Lira". Sollten die Zinsen in der Türkei tatsächlich sinken, sei der Absturz der Landeswährung, wie man ihn zuletzt gesehen habe, wahrscheinlich nur "ein lächerlicher Abklatsch" dessen, was ihr künftig drohen könnte. [4] Die Ratingagentur Fitch hat bereits reagiert und die Türkei auf die Stufe BB herabgestuft, der weitere Ausblick sei negativ. Die Glaubwürdigkeit der türkischen Wirtschaftspolitik habe gelitten, die ersten Schritte Erdogans nach der Wiederwahl hätten die Verunsicherung verstärkt. Die US-Agentur sieht die größte Gefahr in dem erheblichen Außenhandelsdefizit des Landes, da die Türkei deutlich mehr importiert, als sie exportiert. Für den überwiegenden Teil dieses Defizits müsse das Land neue Schulden aufnehmen, was die Stabilität gefährde. Die Analysten bezweifeln grundsätzlich, daß die türkische Führung in der Lage ist, die Probleme zu bewältigen. [5]

Daran ändert auch nichts, daß Erdogan den siebenmal verlängerten Ausnahmezustand zum 18. Juli aufheben will. Wie Regierungssprecher Ibrahim Kalin jedoch warnte, könne er im Falle "sehr, sehr außergewöhnlicher Umstände" wieder eingeführt werden. [6] Seit dem Sommer 2016 wurden nach offiziellen Angaben mehr als 70.000 Menschen verhaftet, über 110.000 Staatsbedienstete entlassen, Medienhäuser geschlossen und Bürgermeister ausgetauscht. Vor wenigen Tagen verloren mit einem neuen Erlaß weitere rund 18.000 Lehrer, Polizisten oder Soldaten ihre Arbeit. Erdogan hat in den vergangenen beiden Jahren vor allem durch Notstandsdekrete regiert. Das hat er nun unter dem Präsidialsystem insofern nicht mehr nötig, als er fortan der personifizierte Ausnahmezustand ist.


Fußnoten:

[1] www.aphorismen.de/suche?f_autor=864_Kemal+Atatürk

[2] www.handelsblatt.com/finanzen/maerkte/devisen-rohstoffe/berat-albayrak-erdogans-neuer-finanzminister-stemmt-sich-gegen-das-misstrauen-der-maerkte/22794190.html

[3] www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-erdogan-lira-101.html

[4] www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/tuerkische-lira-faellt-wegen-erdogans-wachsender-kontrolle-auf-rekordtief-a-1218101.html

[5] www.handelsblatt.com/politik/international/experten-sind-pessimistisch-ratingagentur-stuft-die-tuerkei-herab-erdogan-muss-jetzt-liefern/22801448.html

[6] www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-hebt-ausnahmezustand-zum-18-juli-auf-a-1218385.html

14. Juli 2018


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