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REPRESSION/1634: Innenministerium - der große Bruder darf horchen ... (SB)



Die Pläne zum Ausbau der Befugnisse von Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst von Horst Seehofer sind ein erneuter radikaler Angriff auf die Bürgerrechte durch den für den Schutz unserer Verfassung verantwortlichen Minister. Bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der Online-Durchsuchung bestehen seit Jahren erhebliche Zweifel. Derzeit liegen dem Bundesverfassungsgericht gleich mehrere Verfassungsbeschwerden gegen den "Staatstrojaner" vor. Nun soll der Einsatz auf den gesamten Geheimdienstbereich ausgeweitet werden. Das ist ein Affront gegenüber dem höchsten deutschen Gericht.
Konstantin von Notz (stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag) [1]

Das jeglicher Herrschaft inhärente Bestreben, sie zu vervollkommnen und unumkehrbar zu machen, kulminierte im NS-Staat zu einem Zwangsregime, in dem Geheimdienst und Polizei zu einem einzigen Repressionsapparat verschmolzen. Nach dem Zusammenbruch des imperialistischen Raubzugs, dem viele Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren und der die systematische Massenvernichtung perfektioniert hatte, bedurfte es eines fiktiven Schlußstrichs, um den Nachfolgestaat auf westlicher Seite in Gestalt der Bundesrepublik zu einer neuen und ganz anderen Konstruktion der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erklären. Der festgeschriebene Fortbestand des Kapitalverhältnisses und der Eigentumsordnung gab indessen den Rahmen vor, der die Kontinuität der herrschaftsförmigen Verfügung über den nunmehr freiheitlich-demokratisch grundgeordneten Staatsbürger sicherstellte.

Ohne die Gewaltenteilung und strikte Trennung von Geheimdienst und Polizei als Rechtsprinzipien in Abrede zu stellen, erweist sich doch in zunehmendem Maße, daß sie wie sämtliche Rechtsansprüche ihrem Wesen nach stets ein bloßes Lehen bleiben, das angesichts staatlicherseits reklamierten Bedarfs auch wieder entzogen werden kann. Daß alle Gewalt vom Volke ausgehe, wie es im Grundgesetz heißt, kodifiziert die Ausblendung der Machtfrage, worauf sich alle gleichberechtigt wähnen können, obgleich sie es angesichts höchst ungleich verteilter Mittel, ihre Interessen durchzusetzen, keineswegs sind.

Auch der neue Staat brauchte seinen Geheimdienst, den aufzubauen es wie in zahlreichen anderen Institutionen altgedienter Experten bedurfte, die durch die riesigen Maschen der Entnazifizierung geschlüpft waren. Wenngleich es in dieser klandestinen Sphäre besonders markant anmutet, war es natürlich kein Ausnahmefall. Hätten die Sieger des Zweiten Weltkriegs alles verworfen, was im Dienst des gestürzten NS-Staats gestanden oder mit ihm sympathisiert hatte, wäre kaum etwas übriggeblieben, womit man die Bundesrepublik errichten konnte. Gegründet von Fachleuten der früheren SS und Gestapo, waren Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst von jeher ein Staat im Staate, der sich seiner Natur nach der vorgesehenen parlamentarischen Kontrolle entzog.

Die Kontinuität des Personals korrespondierte zwangsläufig mit einem Fortbestand der Gesinnung, zumal die Tradition natürlich in Auswahl und Ausbildung des Nachwuchses ihren Niederschlag fand. Das dürfte die Praxis erleichtert haben, außerhalb geltender Gesetze zu agieren, wie es gelegentlich trotz aller Vertuschungsmanöver an die Öffentlichkeit drang, als Skandal wahrgenommen wurde und mitunter sogar die Gerichte beschäftigte. All diese rechtlichen Bremsen wie die Trennung von Geheimdienst und Polizei, die unterschiedlichen Aufträge der drei Dienste und die nicht auszuschließende Strafverfolgung sollen endlich aus der Welt geschafft werden. Das sieht der Entwurf eines "Gesetzes zur Harmonisierung des Verfassungsschutzrechtes" [2] vor, den Bundesinnenminister Horst Seehofer ins Kabinett eingebracht hat.

Er setzt etwas fort, was seine Amtsvorgänger seit Jahren vorgedacht und vorangetrieben haben, nämlich gewissermaßen einen nachholenden rechtlichen Freibrief für Praktiken zu schaffen, die bislang im Geheimen, in einer sogenannten Grauzone oder auch ganz offen zur gezielten Demonstration des Machbaren angewendet wurden. So innovativ Seehofers Vorstoß also im Sinne eines weiteren repressiven Schubs sein mag, sattelt er doch auf eine seit langem forcierte Verschärfung der legalisierten Handlungsmöglichkeiten von Polizeien und Geheimdiensten auf. Diese richten sich gegen aktuelle Widerstandspotentiale der Linken, gegen Basisbewegungen wie die der Klimagerechtigkeit, insbesondere aber präventiv gegen künftige Revolten, die angesichts verfallender Lebensverhältnisse auch in Deutschland nicht ausbleiben werden. Wo die Finger beider Hände nicht ausreichen, um alle Krisen aufzuzählen, welche die Menschheit und das Leben auf dem gesamten Planeten bedrohen, bleiben auch die Metropolen an der Spitze der Ausplünderungskette auf Dauer nicht verschont.

Der vielzitierte Polizeistaat ist folglich keine überschießende Allüre reaktionärer Heißsporne, von denen es freilich in den einschlägigen Sparten und politischen Sektoren durchaus wimmelt. Er gedeiht auf dem kühl kalkulierenden Ausblick der einflußreichsten gesellschaftlichen Kreise, die Herrschaft als Wesenskern ihrer Vorteilserwägung zu Lasten einer von katastrophalen Verwerfungen heimgesuchten Heerschar von Ausgebeuteten und für überflüssig Erachteten sichern und fortschreiben wollen. Um Überwachung, Steuerung, Einschüchterung, Kriminalisierung und Bestrafung auch unter chaotischen Bedingungen von Massenprotesten und Unruhen zu gewährleisten, sind institutionelle und ideologische Instrumente verschiedenster Art erforderlich, die in ihrem Zusammenwirken den Kontrollanspruch von kalten Technokraten und hitzigen Hardlinern durchsetzen sollen.

Seehofers Entwurf sieht im Kern die Aufhebung der Trennung von Geheimdiensten und Polizeien vor. So sollen alle Dienste zu einem "erweiterten nachrichtendienstlichen Informationsverbund" zusammengefaßt werden, der Polizei und Regierungsbehörden als "technischer Dienstleister" zur Beschaffung geheimer oder privater Daten von Staatsbürgern und Unternehmen in permanenter Amtshilfe zur Verfügung steht. Ermöglicht werden soll der offizielle Einsatz des BND im Inneren gegen die eigenen Bürger, wobei rechtswidrige Aktivitäten von Geheimdienstagenten vor einer Strafverfolgung geschützt wären. Geplant ist ein uneingeschränkter Einsatz von Staatstrojanern und anderer Angriffssoftware zum Hacken und Abgreifen privater Kommunikation und Daten und zum Eingriff in Fahrzeuge.

Der Phantasie des Staatsschutzes möchte Seehofer freien Lauf lassen. So macht der exzessive Wunschzettel, den der Bundesinnenminister mit dem Etikett "rechtssicher" versehen will, selbst vor dem Ausspionieren von Handys junger Schüler und elektronischen Spielzeugen von Kleinkindern nicht halt. Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis wie auch die Unverletzlichkeit der Wohnung sind kein Thema mehr. Nach der Polizei sollen auch BND und Verfassungsschutz mit Staatstrojanern "deutschen Staatsangehörigen", "inländischen juristische Personen" und "sich im Bundesgebiet aufhaltenden Personen" nachstellen dürfen. Ob Handys, Laptops und andere IT-Systeme oder Autos mit Internet-Zugang, nichts soll vor dem Zugriff sicher sein. Soziale Medien wie Whatsapp, Skype und sichere Messenger-Dienste wie Signal oder Telegram werden geknackt, und grünes Licht für die Hacker-Angriffe gibt nicht ein Richter, sondern einfach das Kanzleramt. [3]

Der politisch längst totgesagte Seehofer gibt derzeit den Rammbock ab, an dem sich Kollaborateure wie Kritiker abarbeiten können. Wie bei allen derartigen Vorstößen geht es nicht nur darum, möglichst große Portionen unmittelbar durchzusetzen, sondern auch um Akzeptanzmanagement und die unablässige Verschiebung der Grenzen in Richtung Sicherheitsstaat. Was heute empört zurückgewiesen wird, soll morgen als alter Hut wahrgenommen und durchgewinkt werden. Noch sperrt sich der Koalitionspartner und erklärt, die SPD lehne den Gesetzentwurf in der vorliegenden Form in Gänze ab, so Burkhard Lischka, innenpolitischer Sprecher der Sozialdemokraten im Bundestag. Auch Justizministerin Katarina Barley lehnt eine Prüfung des Entwurfs ab und will nicht über Einzelmaßnahmen diskutieren. Stattdessen soll Seehofer nacharbeiten und einen neuen Vorschlag vorlegen. Das Innenministerium gibt sich gelassen: "Natürlich nehmen wir den Entwurf nicht zurück, nur weil irgendjemand meint, Anmerkungen zu haben." Ob Barley ihr Veto nicht als Justizministerin, sondern als Spitzenkandidatin für die Europawahl einlegt, wird sich nach der Wahl Ende Mai an der Haltung der SPD erweisen.


Fußnoten:

[1] netzpolitik.org/2019/staatstrojaner-fuer-verfassungsschutz-nicht-vom-koalitionsvertrag-gedeckt/

[2] netzpolitik.org/2019/wir-veroeffentlichen-den-gesetzentwurf-seehofer-will-staatstrojaner-fuer-den-verfassungsschutz/

[3] www.wsws.org/de/articles/2019/04/03/gehe-a03.html

4. April 2019


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