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REPRESSION/1650: Radikal - rechtsinnovativ ... (SB)



Vor allen Dingen das ehemalige FAP-Umfeld. Die FAP ist 1995 aus guten Gründen verboten worden. Die handelnden Personen, die uns dann auch später wieder im NSU-Ausschuss beschäftigt haben in Hessen. Bis hin zur Struktur jetzt, über die wir reden müssen, wegen des Lübcke-Mordes - das sind tatsächlich Zusammenhänge, die gibt es schon seit Jahrzehnten, vor allem über Nordrhein-Westfalen, Nordhessen und Thüringen.
Malte Lantzsch (Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus und Rassismus in Kassel) [1]

Wie der staatliche, juristische und mediale Umgang mit dem sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) gezeigt hat, verhindert das übergeordnete Interesse des Staatsschutzes zwangsläufig eine umfassende Aufklärung. Als beim neunten NSU-Mord am 6. April 2006 der 21jährige Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetcafé hinter dem Tresen durch Kopfschuß getötet wurde, war der Verfassungsschützer Andreas Temme vor Ort. Diese Koinzidenz repräsentierte gewissermaßen die am deutlichsten sichtbar gewordene Schnittstelle zwischen Inlandsgeheimdienst und extremer Rechten, deren teilweise Verflechtung in der Folge mit beträchtlichem Aufwand verschleiert wurde. Obgleich das Umfeld des NSU regelrecht von V-Leuten durchsetzt war, so daß eine Instrumentalisierung wenn nicht gar Steuerung durch den Verfassungsschutz naheliegt, galt es die These eines umfänglichen "Behördenversagens" durchzusetzen. Auf diese Weise wurde die Beteiligung staatlicher Kreise ausgeblendet und zugleich eine Konzentration geheimdienstlicher und polizeilicher Tätigkeit massiv angeschoben.

Wie Bundesinnenminister Horst Seehofer nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni 2019 erklärte, sei ein rechtsextremistischer Anschlag auf einen führenden Repräsentanten des Staates ein Alarmsignal und richte sich "gegen uns alle". Daß sich die jahrzehntelang mehr oder minder an der langen Leine gehaltene extreme Rechte bei ihren Morden und Anschlägen nicht länger nur an Menschen migrantischer Herkunft hält, sondern auf einen hochrangigen Politiker übergreift, ist für die politischen Eliten des Landes zweifellos ein verstörender Hinweis darauf, in welchem Maße Verhältnisse aus dem Ruder laufen, die man unter Kontrolle zu haben glaubte. Hätte Seehofer mit Blick auf all die Opfer rechter Gewalt seit dem Anschluß der DDR davon gesprochen, daß sich diese Anschläge gegen "uns alle" richten, könnte man ihm sogar eine gewisse Glaubwürdigkeit attestieren. Er aber spricht von den führenden Repräsentanten des Staates, die es zu schützen gelte, womit er die Öffentlichkeit angelegentlich daran erinnert, wie es um die Prioritäten in diesem Lande bestellt ist.

Der Mord an Walter Lübcke hat unvermeidlich eine Tür wieder aufgestoßen, die nach dem NSU-Prozeß fast schon verschlossen und versiegelt schien. Jetzt interessieren sich auch die Leitmedien für die rechten Netzwerke in Kassel und Nordhessen, deren Existenz und Bedeutung sie so lange ignoriert oder in Abrede gestellt haben. Was man bei entsprechendem Interesse schon vor Jahren in Erfahrung bringen konnte wird nun zumindest in groben Zügen für ein breiteres Publikum recherchiert und aufbereitet. Mit den Wahlerfolgen der AfD im Nacken fühlt sich das "Establishment" um so mehr genötigt, Volkes Stimme nicht den Rechten zu überlassen. So titelt der Deutschlandfunk einen aktuellen Beitrag:

"Blood and Honour", "Combat 18", "Kameradschaft Kassel": Die rechtsextreme Szene in Nord- und Osthessen ist gewaltbereit und gut vernetzt. Spätestens seit dem Mordfall Lübcke und dem Anschlag von Wächtersbach sind die Behörden wachgerüttelt. Dort macht der Bürgermeister die AfD als geistige Brandstifter mitverantwortlich.

Daß der Mord an einem Regierungspräsidenten in Kassel und der Mordanschlag auf einen Flüchtling aus Eritrea in der hessischen Kleinstadt Wächtersbach in einen Zusammenhang gestellt werden, zeugt von einer Zuspitzung der Verhältnisse, der sich auch der Staatssender nicht verschließen kann. Wenn der Ruf nach einer rückhaltlosen Aufklärung laut wird, heißt das nach heutiger Lesart, daß die Grenze des Interesses zumindest so weit verschoben wird, die extreme Rechte als Gefahr wahrzunehmen.

Wer die Szene kennt, macht im nordhessischen Umfeld des Tatverdächtigen im Fall Lübcke Personen und Gruppierungen aus, die schon beim Mord an Halit Yozgat vor dreizehn Jahren im Zusammenhang des NSU eine Rolle gespielt haben könnten. Da bis heute nicht geklärt ist, wer damals in Kassel das Unterstützerumfeld für den NSU bereitgestellt hat, ist man auf Vermutungen angewiesen. Wie es im Abschlußbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags vom Juli 2018 heißt, hatte das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz Informationen, daß in der nordhessischen Neonaziszene Kontakte zu Gruppen bestanden, die bereits "im Rahmen des NSU-Komplexes thematisiert worden" waren, etwa die Organisationen "Blood & Honour" oder der Ku-Klux-Klan.

Neben diesen beiden Gruppierungen stößt man auf diverse weitere Personen, die nicht nur mit einem unverhohlenen Bekenntnis zu Militanz und Nationalsozialismus, sondern auch teils gravierenden Straftaten in Erscheinung getreten sind. Es handelt sich um Führungsfiguren aus Gruppen wie "Blood & Honour", "Combat 18", "Freier Widerstand Kassel", "Kameradschaft Kassel", "Sturm 18" oder "Oidoxie Streetfigthing Crew" mit Verbindungen nach Niedersachsen, Thüringen und ins Ruhrgebiet. So pflegt die nordhessische Neonaziszene seit langem intensive Kontakte mit Gruppen in den genannten Regionen. Die "Oidoxie Streetfighting Crew" hat ihre Wurzeln im Umfeld der radikalen Rechtsrock-Band Oidoxie aus Dortmund und wird vom Verfassungsschutz als terroristische Vereinigung eingestuft.

Stanley R. aus Kaufungen bei Kassel soll Mitglied dieser Gruppe gewesen sein und gilt zugleich als einer der Gründer der militanten Gruppe "Sturm 18" in Kassel, die bereits 2015 vom hessischen Innenministerium verboten wurde. Kurz vor dem Mord an Halit Yozgat soll Stanley R. nach Aussage von Zeugen beim Münchener NSU-Prozeß seinen Geburtstag mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Kassel gefeiert haben. Stanley R. und Stephan E., der Mordverdächtige im Fall Lübcke, kennen einander schon seit vielen Jahren. "Combat 18" propagiert die Strategie des sogenannten führerlosen Widerstands, den auch der NSU praktiziert hat. Dabei bilden sich kleine Gruppen, die selbständig Anschläge verüben und sich nicht auf Organisationsstrukturen zurückführen lassen.

Die zentrale Lage Kassels spielt bei der Vernetzung der Rechtsextremen in der Region eine bedeutsame Rolle. So ist eine Dreiländereck-Kameradschaft aktiv, die von Thorsten Heise mitgegründet und angeführt wird. Sie ist in Thüringen an der Grenze zu Niedersachsen und Hessen angesiedelt und verknüpft diverse Gruppierungen in einem größeren Umfeld. Heise ist Mitglied des NPD-Bundesvorstandes und wird seit langem der Neonaziszene in Deutschland zugerechnet. Er distanzierte sich zwar in einem Interview nach dem Lübcke-Mord von der Tat und dem Kasseler Umfeld des Mordverdächtigen. Dabei zeichnete sich jedoch ab, daß er die entsprechenden Personen durchaus kennt, aber aus naheliegenden Gründen die Verbindung zu ihnen in Abrede stellt.

In den Strukturen der rechtsextremen Szene nicht nur in Hessen hat in jüngerer Zeit eine tendentielle Verlagerung stattgefunden, die ihre Identifizierung erschwert. Rechtsextreme Gruppierungen treten öffentlich weniger in Erscheinung, ihre Kommunikation und Verbindung spielt sich zunehmend in den sozialen Netzwerken ab. Während NPD und Identitäre Bewegung nach wie sichtbar aufmarschieren, vermischen sich Personen aus Kampfsportgruppen, Hooliganszene oder Sicherheitsdiensten mit langjährigen Militanten aus den genannten Gruppierungen. Selbst wenn man es wie im Fall Lübcke vermeintlich mit einem Einzeltäter und wenigen Unterstützern zu tun zu haben scheint, kann man von sehr viel weitreichenderen Verbindungen und Einbettungen ausgehen. [2]

In den rechtsextremen Strukturen Kassels spielt auch das Thule-Seminar e. V. eine zentrale Rolle, das 1980 von dem Rechtsextremisten Pierre Krebs gegründet wurde. Der Verein bezeichnet sich als ideologische Denkschule einer "geistig-geschichtlichen Ideenschmiede für eine künftige Neuordnung aller europäischen Völker". Im Internet publiziert das Thule-Seminar völkisch-rassistische Texte, vor drei Jahren durchsuchte die Staatsanwaltschaft Räumlichkeiten von Vorstandsmitgliedern wegen des Verdachts der Volksverhetzung. Die Verwendung des Begriffs "Ethnopluralismus" eint das Thule-Seminar mit der rechtsextremen Identitären Bewegung, die in Hessen eine ihrer Hochburgen hat und bundesweit auf 500 Mitglieder geschätzt wird.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz zog vor einigen Wochen in einer vertraulichen Analyse das Fazit, daß die Gefahr durch Rechtsextremisten in Deutschland "virulent" sei. Die Szene sei schwer zu überblicken: "Rechtsterroristische Ansätze und Potenziale" würden sich "stark in Ausmaß, Komplexität und Gefährlichkeit" unterscheiden. Wahrscheinlichste potentielle Akteure zukünftiger rechtsterroristischer Bestrebungen seien "insbesondere Kleingruppen oder Einzelpersonen", die vorwiegend im Internet kommunizieren und sich darüber radikalisieren. [3]


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/klima-des-hasses-terror-von-rechts-in-hessen.724.de.html

[2] www.spiegel.de/panorama/justiz/neonazis-in-hessen-das-netzwerk-um-stephan-e-walter-luebcke-a-1273049.html

[3] www.welt.de/politik/article195447397/Mordfall-Luebcke-So-verzweigt-ist-die-rechtsextreme-Szene-in-Kassel-und-Nordhessen.html

6. September 2019


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