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REPRESSION/1655: Die Insel Lesbos - ein Lager brennt ... (SB)



Dieser Türkei-Deal hat nie funktioniert und wird nie funktionieren.
Apostolos Veizis (Ärzte ohne Grenzen in Griechenland) [1]

Der Tod einer Mutter und ihres Kindes bei einem Brand im berüchtigten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos zeugt von einer weiteren Eskalation der extremen Verhältnisse in diesen sogenannten Hotspots. Das ursprünglich für maximal 3000 Personen vorgesehene Lager ist derzeit mit 13.000 Menschen absolut überbelegt, die Zustände sind katastrophal. Nahezu zeitgleich waren zwei Feuer ausgebrochen, das eine außerhalb des umzäunten Lagergeländes und das andere mitten im Lager in einem der Wohncontainer. Der Brand sprang rasch auf weitere Container über, worauf mehrere beschädigt oder zerstört wurden. Als die Nachricht von Todesopfern die Runde machte und die Feuerwehr lange bis zu ihrem Eintreffen brauchte, kam es zu Ausschreitungen unter den verzweifelten und zornigen Flüchtlingen. Die aufgebrachte Menge griff sogar die Feuerwehrleute an. Um eine offenbar befürchtete Massenflucht zu verhindern, versperrte die ebenfalls angerückte Polizei sämtliche Fluchtwege aus dem Lager und traktierte die Menschen, die in ihrer Panik entkommen wollten, mit Tränengas, Stockhieben und Blendgranaten. [2]

In Folge des Abkommens der Europäischen Union mit der Türkei und Griechenland werden eintreffende Flüchtlinge de facto in den Lagern auf den fünf griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos gefangengehalten, die sie bis zum Abschluß ihres Asylverfahrens, das sich über Jahre hinziehen kann, nicht verlassen dürfen. Wer heute auf Lesbos ankommt, muß nach Angaben eines hochrangigen griechischen Beamten bis April 2022 auf sein erstes Asylinterview warten. Unterdessen stecken die Flüchtlinge in einer in jeder Hinsicht erbärmlichen und menschenunwürdigen Falle. Es fehlt an Unterkünften, Schlafplätzen, sanitären Anlagen, ausreichender ärztlichen Versorgung, zügiger Essensausgabe, bei Regen steht alles unter Wasser, es kommt zu sexuellen Übergriffen.

Verantwortlich für diese verheerenden Verhältnisse sind die EU wie auch die Regierungen in Ankara und Athen, die ihre Interessen zu Lasten geflohener Menschen durchsetzen. Ist vom Versagen eines Systems die Rede, das nie funktioniert hat und nie funktionieren wird, so greift selbst diese Kritik zu kurz. Es handelt sich vielmehr um eine Kriegsführung gegen Flüchtlinge, die aus Perspektive der EU mit einer gestaffelten und vorgelagerten Abwehr zurückgehalten, in Lager gesteckt und durch ein grausames Regime abgeschreckt werden sollen.

Diese Strategie wurde in Griechenland von der Syriza-Administration mitgetragen und sie wird nun unter der Regierung der Nea Dimokratia fortgesetzt. Als unmittelbare Maßnahme fordern die kommunistische Partei und Hilfsorganisationen eine sofortige Schließung der Hotspots auf den Inseln wie auch auf dem Festland und eine Unterbringung der Flüchtlinge in angemessenen Unterkünften, wo ihre Asylanträge bearbeitet werden sollen. Wie es in einer Stellungnahme der KKE heißt, sei der Tod einer Mutter und eines Kleinkinds die tragische Konsequenz einer Barbarei, der geflohene Menschen in den modernen Folterkammern ausgesetzt seien. Sowohl die alte als auch die neue Regierung sei für die Unterstützung des unmenschlichen und gefährlichen Abkommens zwischen der EU und der Türkei verantwortlich, das Flüchtlinge und Einwanderer auf den Inseln und im Land gefangenhält.

Auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegung vor allem aus Syrien, aber auch aus Afghanistan und anderen Ländern flohen 2015 etwa eine Million Menschen über die Türkei nach Europa. Im März 2016 vereinbarten die EU und die Türkei sowie Griechenland, daß alle Geflüchteten in Lagern auf fünf Inseln bleiben sollen, bis über ihr Asyl entschieden ist, während die Türkei abgelehnte Migranten zurücknehmen soll. Die EU-Staaten wollten Griechenland Zehntausende Flüchtlinge abnehmen und es wurde genügend Personal zugesagt, um die Asylanträge zügig zu bearbeiten. Die Realität sieht ganz anders aus. Die Türkei hat ihren Teil des Abkommens erfüllt und nicht zuletzt aus eigennützigen Gründen 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, mehr als alle anderen Länder zusammengenommen. Griechenland hat jedoch nur sehr wenige Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt, wobei völlig unklar ist, ob dort überhaupt Zwangsrückkehrer in größerer Zahl aufgenommen würden. Ein Memorandum, das Griechenland im Frühjahr mit dem Appell an die EU schickte, sofort 20.000 Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen, blieb unbeantwortet.

Die mit 6 Milliarden Euro an Ankara und über 2 Milliarden an Athen erkaufte Kollaboration wurde als Erfolgsmodell angepriesen, worauf die EU die sogenannte Flüchtlingskrise offiziell für beendet erklärte. Daß dieses Konstrukt nie in vollem Umfang gegriffen hat und nun insgesamt zu scheitern droht, ist im Kern darauf zurückzuführen, daß die Fluchtursachen nicht aus der Welt geschafft, sondern im Gegenteil verschärft wurden. Unter den Geflüchteten auf den fünf Inseln stammen 40 Prozent aus Afghanistan, die mit 14 Prozent zweitgrößte Gruppe kommt aus Syrien. Rund eine Million Afghanen lebten im Iran, doch die Sanktionen gegen das Land haben dessen ökonomische Situation derart in Mitleidenschaft gezogen, daß viele Menschen über die Türkei weitergeflohen sind. Dort hat sich angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Talfahrt die Situation der syrischen Flüchtlinge dramatisch verschlechtert, die inzwischen unter massiven Druck wachsender Ressentiments in der türkischen Bevölkerung und Repression seitens der Regierung geraten. Präsident Erdogan drängt auf die Einrichtung einer 32 Kilometer tiefen "Sicherheitszone" in Nordsyrien, in die er mehr als eine Million Menschen umsiedeln möchte, um die dort lebende kurdische Bevölkerung im Zuge einer ethnischen Säuberung zu vertreiben. Die Regierung in Damaskus wiederum fordert den Abzug aller fremden Truppen aus Syrien, auch der türkischen, und droht andernfalls mit Gegenmaßnahmen. Zudem könnte der Angriff der Regierungstruppen auf den Kanton Idlib dazu führen, daß bis zu zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben werden.

In dieser eskalierenden Gemengelage lockert die Türkei offenbar ihre Grenzkontrollen zu Griechenland, so daß immer mehr Flüchtlinge ins Nachbarland gelangen. Laut der Internationalen Organisation für Migration sind in diesem Jahr schon über 36.000 Geflüchtete in Griechenland angekommen - nicht so viele wie 2015, aber 43 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Auf den fünf Inseln werden derzeit knapp 30.000 Menschen festgehalten, das ist die höchste Zahl seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Flüchtlingspaktes im März 2016. Dadurch werden die schon seit Jahren schlimmen Zustände in den Lagern derart verschärft, daß Todesfälle, aber auch Ausbruchsversuche und Revolten geradezu eine zwangsläufige Folge sind. Noch herrschen notfalls erträgliche Temperaturen, doch wenn im Oktober die ersten Herbststürme mit starkem Regen über die Ägäis ziehen und schließlich der Winter naht, wird es endgültig zur Katastrophe kommen. [3]

Am schnellsten greift wie immer die Repression. So hat die Regierung in Athen sofort entschieden, mehr Polizei nach Lesbos zu schicken. 100 Bereitschaftspolizisten wurden mit Armeehubschraubern eingeflogen und weitere werden wohl folgen, sofern sich der Protest der verzweifelten Lagerinsassen nicht mit den vorhandenen Sicherheitskräften abwürgen läßt. Um die überfüllten Flüchtlingslager auf den Inseln im Osten der Ägäis zu entlasten, wurden gut 350 Migranten aufs Festland gebracht, Hunderte weitere sollen hinzukommen. Das ist bislang kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein, wobei überdies ungeklärt bleibt, unter welchen Zwangsverhältnissen die Menschen anschließend verwahrt werden.

Die seit Anfang Juli regierende konservative Regierung unter Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis hat schnelle Besserung und die Umsetzung von "ganz neuen Plänen" versprochen. Sie will die Asylverfahren beschleunigen, wozu weitere 200 Sachbearbeiter eingestellt werden. Zudem soll das Asylrecht verschärft werden, um die Einspruchsmöglichkeiten abgelehnter Bewerber einzuschränken. Zur Entlastung der Insellager sollen angeblich besonders schutzbedürftige Menschen aufs Festland gebracht werden, aber auch dort sind die Unterkünfte überfüllt. Deshalb will die Regierung im Eiltempo weitere provisorische Flüchtlingslager schaffen.

Von Fortschritten ist auf den fünf griechischen Inseln bislang nichts zu spüren. Wie Manos Stefanakis, Zeitungsherausgeber auf Samos, berichtet, hätten Mitglieder der neuen Regierung, die jetzt Minister sind, die Insel vor der Wahl besucht und dabei Lösungen und innovative Konzepte für die Flüchtlingsunterbringung in Aussicht gestellt. Passiert sei jedoch überhaupt nichts. Der Leiter des Flüchtlingslagers Moria gab Mitte September auf. Er gehe "erhobenen Hauptes", sagte Yannis Balpakakis, er habe "unter schwierigen Umständen getan, was getan werden musste". Verteidigungsminister Nikos Panagiotopoulos erklärte jüngst im Fernsehen, der Anstieg der Flüchtlingszahlen aus der Türkei nehme "die Dimensionen einer Nationalen Krise an". [4]

Die Sorge gilt offensichtlich nicht dem Wohlergehen der Flüchtlinge, sondern im Gegenteil dem Bestand des Abkommens zwischen EU und Türkei. Diese treibt auch den deutschen Innenminister Horst Seehofer um, der gerade mit Frankreich, Malta und Italien einen Verteilmechanismus für gerettete Bootsflüchtlinge ausgehandelt hat. Diese "Initiative von Malta" soll vorerst sechs Monate gelten, um den Druck auf Italien zu lindern. In Griechenland ist die Lage jedoch weit dramatischer, denn während in diesem Jahr auf italienischem Boden rund 7000 Flüchtlinge angekommen sind, zählt man in Griechenland mehr als fünfmal so viele. Seehofer reist diese Woche zuerst nach Ankara und anschließend nach Athen, um sich in der Türkei über den Stand der Flüchtlingssituation zu informieren und dann mit den "administrativen Problemen der Griechen" und möglicher Abhilfe zu befassen.

Erdogan droht, er werde "die Tore öffnen" und Europa mit Flüchtlingen überschwemmen, sollte die EU der Türkei keine weiteren Finanzhilfen gewähren. Auf griechischer Seite argwöhnt man, die türkischen Behörden ließen Schleusern freie Hand, um den finanziellen Forderungen an die EU Nachdruck zu verleihen. EU und griechische Regierung schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die menschenunwürdigen Zustände auf den Inseln zu. Die EU-Kommission fordert, Athen müsse eine effektive und nachhaltige Strategie entwickeln, um die Migration zu ordnen. Im allseitigen Armdrücken geht es in erster Linie darum, die Krise anderen Staaten aufzulasten, die sie wiederum auf die Flüchtlinge abwälzen.


Fußnoten:

[1] www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-migration-tuerkei-griechenland-1.4620550

[2] www.heise.de/tp/features/Tote-bei-Feuer-im-Fluechtlingslager-Moria-4542614.html

[3] www.tagesschau.de/ausland/lesbos-fluechtlingslager-105.html

[4] www.welt.de/politik/ausland/article201150244/Fluechtlinge-auf-Lesbos-Mutter-und-Kind-sterben-bei-Feuer-in-Auffanglager.html

30. September 2019


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