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REPRESSION/1696: NSU-Prozeß - umfassend verschleiert ... (SB)



Wie giftig der Bericht sein muss, kann man vielleicht daran ablesen, dass er ursprünglich für sagenhafte 120 Jahre gesperrt wurde, sprich: für vier bis fünf Generationen. Man muss den Verstand nicht unnötig herausfordern, um festzuhalten: Würde sich die offizielle Version mit dem Inhalt des Geheimgehaltenen decken, würde man es feierlich und blumenreich auf den Tisch legen.
Wolf Wetzel zu einem geheimen Bericht des hessischen Verfassungsschutzes von 2014 [1]

Nie zuvor in der Justizgeschichte der Bundesrepublik wurde ein höherer Aktenberg aufgetürmt, um darunter alle wesentlichen Fragen tief zu vergraben. Über fünf Jahre hatte sich der NSU-Prozeß vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München hingezogen, bis er am 11. Juli 2018 mit der vierstündigen mündlichen Urteilsbegründung durch den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl endete. Weitere 93 Wochen brauchte das Gericht, um unter voller Ausschöpfung der gesetzten Frist die schriftliche Urteilsbegründung vorzulegen. Der Verteidigung bleiben nur vier Wochen Zeit, den 3025 Seiten langen Schriftsatz sowie die 44 Leitz-Ordner mit den Prozeßprotokollen auszuwerten, um einen Revisionsantrag zu begründen. Während das Revisionsverfahren wohl erst Ende 2022 abgeschlossen sein wird, soll die Vergangenheit hermetisch versiegelt werden. Ausgeblendet bleibt in der offiziellen Handhabung bislang insbesondere das breitere Umfeld des NSU, die Beteiligung von Staatsschutz und Geheimdiensten versinkt im Dunkeln.

Maßgebliche Institutionen wie die Bundesanwaltschaft und der Staatsschutzsenat des OLG München versuchen die Auffassung durchzusetzen, die NSU-Mordserie sei aufgeklärt. Demnach waren ausschließlich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die Mörder der zehn Opfer, während es keine weiteren unmittelbaren Helfer gab und der Verfassungsschutz nicht darin verstrickt war. Im Münchner Prozeß trat die Nähe von Bundesanwaltschaft und Verteidigung mitunter so offen zutage, daß eine Opferanwältin in ihrem Plädoyer von "teilweiser Verbrüderung" der beiden eigentlich antagonistischen Prozeßparteien sprach. Der Hauptkonflikt spielte sich im Gerichtssaal erstaunlicherweise zwischen Anklage und Nebenklage ab. [2]

Alle fünf Angeklagten wurden verurteilt. Beate Zschäpe unter anderem wegen Mordes in zehn Fällen, versuchten Mordes in 23 Fällen und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Außerdem hat das Gericht die "besondere Schwere der Schuld" festgestellt. Ralf Wohlleben wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu zehn Jahren Haft. Holger G. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren. André E. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu zwei Jahren und sechs Monaten. Carsten S. wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren. Er hat seine Revision zurückgezogen und die Strafe bereits angetreten. Die anderen Angeklagten haben Revision eingelegt, ihre Urteile sind also noch nicht rechtskräftig. Im Fall von André E. hat auch die Bundesanwaltschaft Revision eingelegt. [3]

Bis der BGH entscheidet, wird Beate Zschäpe weiterhin in der Frauenhaftanstalt Chemnitz sitzen, der wegen Beihilfe zum Mord verurteilte Carsten S. jedoch wird vermutlich bald wieder die Haftanstalt verlassen. Er wollte nicht jahrelang auf eine Entscheidung warten und hatte bereits im Januar 2019 die Revision zurückgenommen und die Haft angetreten. Die anderen drei Verurteilten sind wegen der Revision weiterhin in Freiheit bei ihren Familien. Sie gelten zum Teil als Märtyrer der rechten Szene.

Für die Vorlage der schriftlichen Urteilsbegründung, die allein Basis für das folgende Revisionsverfahren ist, gibt es eine gesetzliche Frist, die von der Dauer des Gerichtsverfahrens abhängt. Diese Frist lief am 22. April 2020 ab und wurde voll ausgeschöpft. Das Oberlandesgericht ist in Terrorismusverfahren die erste Instanz, gegen sein Urteil gibt es als Rechtsmittel keine Berufung, in der der gesamte Sachverhalt einschließlich des Hörens aller Zeugen nochmals geprüft würde. Das einzige Rechtsmittel ist die "Revision" zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Dort wird das schriftliche Urteil auf Rechtsfehler überprüft. Das bedeutet aber nicht, daß dabei lediglich Formfehler berücksichtigt würden. Es geht zum einen um mögliche Fehler im Verfahrensablauf (Verfahrensrüge), wenn es beispielsweise das Gericht abgelehnt hat, einen weiteren Zeugen der Verteidigung zu hören. Zum anderen geht es um mögliche Fehler bei der Rechtsanwendung ("Sachrüge"). Hat beispielsweise das Gericht Beate Zschäpe zu Recht als Mittäterin verurteilt oder ist ihr Tatbeitrag nur als Beihilfe zu werten? Der BGH prüft also, ob das Gericht aus dem festgestellten Sachverhalt falsche rechtliche Schlüsse gezogen hat.

Sobald den Beteiligten das schriftliche Urteil zugestellt ist, beginnt die lediglich vierwöchige Frist für die Begründung der Revision. Das ist in einem solchen Mammutverfahren sehr wenig, auch wenn die Verteidigung die Zwischenzeit nutzen konnte, ihre Revisionsbegründung vorzubereiten. Darin muß sie fristgemäß vor allem mögliche Verfahrensfehler begründen. Daß inhaltliche Fehler gemacht wurden, kann sie zunächst pauschal rügen und ihre Argumente dafür auch nach Ablauf der Monatsfrist nachreichen. Das weitere Verfahren läuft in drei Schritten ab. Die Bundesanwaltschaft kann innerhalb einer Woche in einer Gegenerklärung dazu Stellung nehmen, ob in der Revisionsbegründung aus ihrer Sicht alle Fakten richtig dargestellt sind. Dann verfaßt die Bundesanwaltschaft ihre Antragsschrift für den Bundesgerichtshof. Darin setzt sie sich mit allen inhaltlichen Fragen auseinander und schickt sie zusammen mit den Verfahrensakten zum Bundesgerichtshof. Und schließlich prüft der 3. Strafsenat des BGH den Fall und fällt seine Revisionsentscheidung, sehr wahrscheinlich nach einer mündlichen Verhandlung im Gerichtssaal. Hält das Urteil des OLG der Überprüfung stand, wird es rechtskräftig. Hat die Revision Erfolg, heben die Richter des BGH das Urteil ganz oder teilweise auf. Dann muß das zuständige OLG nach den Maßgaben aus Karlsruhe neu entscheiden, üblicherweise eine andere Strafkammer. In bestimmten Fällen korrigieren die BGH-Richter die Urteilsformel aber auch direkt.

Im NSU-Prozeß gab es von Anfang an zahlreiche Streitpunkte, wobei letztendlich die Frage im Mittelpunkt stand, wie die Rolle Beate Zschäpes rechtlich zu bewerten sei. War ihre Bedeutung im Hintergrund so zentral, daß das Gericht sie als Mittäterin verurteilen durfte? Um Mittäter zu sein, muß man nicht zwingend selbst geschossen haben, das ist rechtlich anerkannt. Dennoch haben Anklage und Urteil bei der Bewertung von Zschäpes Rolle die Grenzen des rechtlich Möglichen ausgetestet. Ein weiterer Streitpunkt war der heftige Konflikt zwischen Beate Zschäpe und ihren Verteidigern Heer, Stahl und Sturm. Hier hatte das Gericht ihren Antrag abgelehnt, die Verteidiger zu entpflichten, was ebenfalls vom BGH auf rechtliche Fehler hin zu prüfen sein dürfte.

Problematisch ist das Mißverhältnis zwischen der enorm langen Frist für die schriftliche Urteilsbegründung und die im Vergleich dazu extrem kurze für die Einsicht in diese Begründung und das Aktenstudium in Vorbereitung der Revision. Zschäpes Verteidigerin Anja Sturm appelliert an den Gesetzgeber, die Frist für die Begründung der Verfahrensrügen "in ein adäquates Verhältnis zur Verfahrensdauer" zu setzen. Diese Forderung erheben auch andere Strafrechtsexperten, die etwa auf Österreich verweisen, wo Verteidiger im Falle eines besonders umfangreichen Verfahrens eine Verlängerung der Frist beantragen können. Auch mit Blick auf die bevorstehenden großen Prozesse gegen den Mörder von Walter Lübcke und den Attentäter von Halle wäre dies eine längst überfällige Veränderung. [4]

Wie zu erwarten war, hat der Verteidiger Wolfgang Heer zentrale Teile des schriftlichen Urteils des Münchner Oberlandesgerichts im NSU-Prozeß für nicht haltbar erklärt. Die Argumentation des Gerichts zur Mittäterschaft Zschäpes an den Morden und Anschlägen des NSU stehe im Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), erklärte der Rechtsanwalt. Das OLG sprach Zschäpe als Mittäterin an allen Verbrechen des NSU schuldig, auch wenn kein Beweis bekannt ist, daß sie selbst an einem der Tatorte war. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hatte in der mündlichen Urteilsbegründung immer wieder argumentiert, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten "aufgrund eines gemeinsam gefassten Tatplans und im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit Frau Zschäpe" gehandelt.

Heer erklärte, daß die eingehende Prüfung des schriftlichen Urteils längere Zeit in Anspruch nehmen werde, doch greife er den angeführten Tatbeitrag an, der Zschäpes wesentliche Mittäterschaft an den Morden und Anschlägen des NSU begründe. Demnach soll sie die Abwesenheit ihrer Freunde verschleiert und ihnen dadurch eine sichere Rückzugsmöglichkeit geschaffen haben. "Dies als Tatbeitrag zu werten, stellt ein neues und aus unserer Sicht falsches Rechtskonstrukt dar, weil es in Widerspruch zu der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Mittäterschaft steht, mit der sich der Senat aber überhaupt nicht auseinandersetzt", kritisierte Heer. Er halte die Argumentation des Gerichts, wonach Zschäpes Abwesenheit an den Tatorten "geradezu Bedingung dafür gewesen sei, dass die jeweiligen Taten überhaupt begangen werden konnten", für rechtlich nicht haltbar.

Überrascht zeigte sich Heer von den Gewichtungen in dem insgesamt 3.025 Seiten langen Urteil. "Nach einer ersten Analyse fällt auf, dass die rechtliche Würdigung bezüglich Frau Zschäpe mit nur 44 Seiten, die auch nur hälftig bedruckt sind, ausgesprochen knapp ist, davon entfallen auf die Mittäterschaft lediglich zehn Seiten", so der Rechtsanwalt. "Die rechtliche Würdigung mutet oberflächlich an, eine sorgfältige Subsumtion stelle ich mir anders vor." [5)

Das Oberlandesgericht München will das Urteil nicht veröffentlichen, auch juristische Datenbanken wie Juris oder Openjur sollen es nicht erhalten. Deshalb müssen auch Journalisten vorerst abwarten, bis der Urteilstext auf inoffiziellen Kanälen bekannt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar 2015 eine Pflicht der Gerichte zur "Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen" festgestellt. Für Strafurteile gelte dies wegen der Persönlichkeitsrechte von Tätern und Opfern aber nur eingeschränkt, so das OLG. Hier müsse ein individuelles "berechtigtes Interesse" nachgewiesen werden, wobei sich das OLG dabei auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 2018 beruft.

Allerdings sollen Journalisten das Urteil ohne nähere Begründung anfordern können. Sie müssen vorher jedoch eine Belehrung unterschreiben, daß sie bei der Arbeit mit dem Urteil, etwa bei Zitaten, Persönlichkeitsrechte beachten. Dennoch müssen sie sich noch einige Zeit gedulden, da das Gericht vor einem Versand zunächst den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme geben will, ob zum Beispiel die Schwärzung bestimmter Passagen angeregt wird. Das Urteil wird zuerst nur den Beteiligten zugestellt, die 2018 Revision eingelegt haben. Es geht also an die Staatsanwaltschaft und an die Verteidiger der Angeklagten, deren Revision noch läuft, nicht jedoch an die Anwälte der Nebenkläger, also der Opfer und ihrer Angehörigen, da für sie keine Revision möglich war. Sie können das Urteil jedoch anfordern, um zu den Anträgen anderer Beteiligter Stellung zu nehmen. [6]

Dreizehn parlamentarische Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex haben bislang vergeblich versucht, die eklatanten Widersprüche aufzuklären. In diesen Kommissionen gab es zahlreiche Hinweise auf eine Verstrickung der Sicherheitsorgane in die Affäre, vor allem des Verfassungsschutzes, aber auch der Polizei. Ihre konsequente Durchleuchtung scheiterte an den Regierungen und maßgeblichen politischen Parteien, darunter auch Rot-Rot-Grün in Thüringen und Rot-Rot in Brandenburg. Nachdem alle Aussicht geschwunden schien, den Komplex jemals in seinen wesentlichen Elementen offenzulegen, könnte im Kontext des bevorstehenden Lübcke-Prozesses in Hessen doch noch Licht ins Dunkel dringen. Da es über die Tatverdächtigen in diesem Mordfall Bezüge zum NSU-Komplex gibt, soll ein neuer Untersuchungsausschuß auch die ungeklärten Fragen des NSU-Skandals erneut thematisieren. Die Agenda des Ausschusses umfaßt neben den im Prozeß angeklagten Stephan E. und Markus H. unter anderem den früheren Verfassungsschützer Andreas Temme, der im Fall des NSU-Opfers Halit Yozgat eine bislang ungeklärte Rolle gespielt hat, um es einmal vorsichtig auszudrücken.


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/Neuer-Untersuchungsausschuss-zu-Mordfall-Luebcke-und-NSU-4687540.html

[2] www.heise.de/tp/features/Bis-zum-letzten-Tag-Nach-fast-zwei-Jahren-liegt-das-schriftliche-Urteil-im-NSU-Prozess-vor-4707053.html

[3] www.tagesschau.de/inland/nsu-revision-103.html

[4] www.tagesspiegel.de/politik/mehr-fairness-noetig-im-nsu-verfahren-geben-die-richter-den-verteidigern-zu-wenig-zeit/25762836.html

[5] www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-04/echtsterrorismus-nsu-urteil-beate-zschaepe-verteidiger

[6] taz.de/Urteil-im-NSU-Prozess/!5678122/

24. April 2020


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