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KULTUR/0797: Lernziel Anpassung ... das panoptische Klassenzimmer (SB)



Vor nicht allzulanger Zeit berichtete die britische Tageszeitung The Guardian (06.08.2009) mit einigem Enthusiasmus über die große Akzeptanz, die die Videoüberwachung britischer Klassenzimmer bei den Schülern genießen soll. So schwärmte ein Schuldirektor davon, daß sich die Schüler über die seit zwei Jahren installierten Kameras - zwei in jedem Klassenraum und 40 in anderen Bereichen der Schule - nur dann beschwerten, wenn sie einmal nicht funktionierten und sie befürchten müßten, daß etwas wichtiges nicht aufgenommen würde. Ein Mädchen, der an einer anderen, noch nicht videoüberwachten Schule ihr Mobiltelefon gestohlen wurde, habe nicht glauben können, daß es so etwas vorsintflutliches überhaupt geben könne. Neben dem Sicherheitsfaktor hob der Pädagoge, dessen Gymnasium in einem sozialen Problembezirk im Süden Londons angesiedelt ist, den besonders beliebten Nutzeffekt hervor, daß die Schüler sich in Streitfällen auf die Aufzeichnung berufen könnten, um umstrittene Äußerungen oder Ereignisse zu verifizieren. Weitere Vorteile, so der Guardian, beständen in der Überprüfbarkeit des Unterrichts sowie eventueller Beschwerden gegen Lehrer, was diese selbst in Anspruch nähmen, um sich gegen ungerechtfertigte Kritik zur Wehr zu setzen.

In einem zweiten Artikel des Guardian (04.08.2009) wird nicht ganz so begeistert über diese Innovation Orwellscher Pädagogik berichtet. So habe eine ganze Schulklasse fast geschlossen gegen die Videoüberwachung protestiert, weil sich die Schüler durch die permanente Beobachtung beim Führen kontroverser Diskussionen eingeschränkt fühlten. Die Firma Classwatch, die die Überwachungssysteme anbietet und in deren Vorstand der für das Amt des Erziehungsministers vorgesehene Kandidat der Conservative Party sitzt, erfreut sich dennoch einer guten Auftragslage. Hunderte von Schulen sollen in den nächsten Jahren zusätzlich zu den bereits 94 Classwatch-Kunden mit Kameras und Aufnahmesystemen ausgestattet werden, die nach dem bisherigen Stand unter der Verfügungsgewalt der Schuldirektion stehen sollen.

In Anbetracht des erzieherischen Effekts, Menschen durch permanente Beobachtung auf Anpassungsleistungen zu konditionieren, die sie dann wie selbstverständlich auch ohne Videoüberwachung erbringen, befinden sich Schüler und Lehrer, die die Kameras wegen ihres gleichmacherischen, vorbehaltlose Meinungsbekundungen unterdrückenden Effekts ablehnen, in der Defensive. Mit der Aufzeichnung des Unterrichts wird eine Überprüfbarkeit suggeriert, die nicht nur Rechtssicherheit gewährleistet, sondern Kontrolle des eigenen Tuns wie das der anderen zu gewähren scheint. Daß der damit aufgerufene Maßstab der Norm übergeordneter Interessen entspricht und keinesfalls zur Emanzipation von diesen beiträgt, wird rundheraus als positiv empfunden. Warum auch sollte sich der heranwachsende Mensch gegen Staat und Gesellschaft definieren, anstatt sich harmonisch in die gegebene Ordnung einzufügen und dafür eine Maßnahme der technischen Vergewisserung in Anspruch zu nehmen?

Die einzige im Sinne der utilitaristischen Gesellschaftsdoktrin neokonservativer Sozialingenieure mögliche Antwort auf diese Frage besteht darin, welche Kontrollroutinen auch immer als erzieherisch wertvolle Disziplinierung des eigenen Lebens gutzuheißen. Allein dies ist ein Lerneffekt, der bereits die Anschaffung der Überwachungssysteme lohnt. "Seht her, ich habe nichts zu verbergen, ich stelle mich jeder nur denkbaren Maßregelung, die sich aus meinen dokumentierten Handlungen ergibt". Totale Affirmation als Voraussetzung für eine erfolgreiche Lebensführung - "positiv denken, eine positive Einstellung haben, nicht negativ sein und an allem etwas auszusetzen haben" - läßt sich auf diese Weise effizient einüben. All diejenigen, die sich dem Primat des Guten verweigern und Einwand dagegen erheben, sich herrschenden Interessen mit Haut und Haaren zu überantworten, können um so frühzeitiger erkannt und den erforderlichen Korrekturinstanzen überantwortet werden.

Allein die Gewöhnung junger Menschen an ihre permanente Überwachung stellt einen sozialtechnokratischen Fortschritt dar, hinter dem andere Lernziele zurückfallen. Eine schulische Ausbildung unter jederzeit durch dritte Instanzen überprüfbaren Bedingungen produziert Personen im Wortsinne einer Maskierung, hinter der nichts anderes steckt als der Wunsch, übergeordneten Kräften zu entsprechen. Gegen ihre Verfügbarkeit für fremde Interessen haben die Objekte des permanenten Benchmarking naturgemäß weniger Einwände als Menschen, denen die Unabhängigkeit ihres Denkens und Handelns prinzipielle Voraussetzung für alles weitere ist. Kameras sind nicht die eigentlichen Agenten einer solchen Dressur, ihr panoptischer Blick ist lediglich Symbol für die Totalität einer Pädagogik, die sich weitreichender Mittel der normativen Konditionierung, ideologischen Indoktrination und legalistischen Verrechtlichung bedient, um Herrschaft zu garantieren.

10. August 2009