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KULTUR/0823: Zehn Jahre Nacktscanner ... im Umerziehungslager der Reality-Shows (SB)



Als das Reality-Format "Big Brother" vor zehn Jahren erstmals über deutsche Bildschirme flimmerte, machten Politiker und Intellektuelle massive Bedenken gegen diese voyeuristische Form der Unterhaltung geltend. Ob man die Menschenwürde der Kandidaten durch die permanente Kamerabeobachtung verletzt sah, sich besorgt über die psychischen Folgen des dauerhaften Aufenthalts im Container zeigte oder den kulturellen Niedergang der Fernsehkultur beklagte, das Lamento war so lautstark wie werbewirksam. Die Sendung wurde nicht nur zu einem Publikumsrenner, die Bedenkenträger konnten das Argument ihrer Anbieter, daß die Teilnahme doch ganz auf der Freiwilligkeit der Kandidaten beruhe und man froh sein solle, daß so etwas in einer freiheitlichen Gesellschaft möglich ist, nicht wirklich widerlegen. Sie rutschten auf dem von ihnen selbst gepredigten Marktliberalismus aus, dem der Mensch ebenso Ware ist wie alles andere, was ihn umgibt. Sie hatten das mächtige Instrument der Sinnstiftung namens Rundfunk in die Hände der Kapitalmacht gelegt, um die herrschaftsförmige Zurichtung der Bevölkerung auf noch direkterem Weg bewerkstelligen zu können, und mußten nun mit dem von Anfang an absehbaren Ergebnis der Trivialisierung bürgerlicher Kultur leben.

So hat sich der Sturm der Entrüstung schnell gelegt und ist einer Beschwichtigungsrhetorik gewichen, die der Sendung nach zehn Jahren und zu Beginn der zehnten Staffel, die RTL II (12.01.2010) mit der triumphalen Mitteilung feiert, daß der Sender in "der jungen Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen (...) Marktführer von 21:15 Uhr bis 0:15 Uhr" war, lautere Harmlosigkeit, wenn nicht gar produktiven Nutzen attestiert. Unterschichtenfernsehen eben, das man braucht, damit die Millionen Erwerbslosen nicht auf den dummen Gedanken kommen, ihr desolates Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, sondern ihresgleichen dabei zusehen, wie sie sich mit den Verhältnissen arrangieren.

Das von der niederländischen Produktionsfirma Endemol Entertainment entwickelte und im Mai 1999 erstmals in den Niederlanden ausgestrahlte Format wird inzwischen weltweit vermarktet und hat eine ganze Flut anderer Reality-Shows nach sich gezogen. In diesen trat das sozialdarwinistische Grundanliegen des auf Ausstechen des anderen im Beliebtheitswettbewerb angelegten Formats häufig noch unverhohlener als bei Big Brother zutage. Ob Erwerbslosen als Lohn erniedrigender Mühen ein Job in Aussicht gestellt wurde, ob häßliche Entchen Schönheitsoperationen gewinnen konnten, um im Vorher-Nachher-Vergleich die gestiegenen Chancen auf dem Partnermarkt feiern zu können, ob Quizshows mit Stresstests verbunden wurden, indem Kandidaten Fragen unter extremer körperlicher Belastung beantworten mußten, ob mittellosen US-Bürgern bei siegreichem Absolvieren ihrer Aufgaben eine medizinische Behandlung winkte, ob es galt, beim Bewältigen schwieriger Herausforderungen einen eigens in die Gruppe eingeschleusten Verräter zu entlarven oder im Survivalcamp Ekeltests zu bewältigen, den meisten Reality-Shows war und ist die Exposition des Menschen in seiner elendsten und miesesten Gestalt ein lukrativ verwertbarer Genuß.

Abgesehen davon, daß diese Sorte der Publikumsunterhaltung für die Sender den großen Vorteil hat, weit kostengünstiger produziert werden zu können als aufwendige Fernsehfilme oder TV-Serien, liegt ihr Nutzen in der exemplarischen Vorführung von Vergesellschaftungspraktiken, die den Menschen zu einem atomisierten, umfassend verfügbaren Subjekt machen. Indem der Kandidat vor aller Augen in seiner Unzulänglichkeit seziert wird, erkennt der Zuschauer den Vorteil, stets Beobachter zu bleiben und sich keineswegs in Angelegenheiten einzumischen, die nichts als Probleme zur Folge haben. Indem die sozialdarwinistischen Antriebe der Persönlichkeitsmasken offengelegt und auf das Normalmaß nachvollziehbarer Anpassungsintelligenz gebracht werden, wird die verordnete Überlebenskonkurrenz zur allein gültigen Handlungsmaxime erhoben, der sich nur notorische Verlierer nicht unterwerfen. Indem Leistungsbereitschaft und Erfolgsstreben auf den Prüfstand vermeintlich spielerisch zu bewältigender Aufgaben gestellt werden, wird das Stahlbad der realen Sozialkonkurrenz zu einem Amüsement erklärt, das nicht witzig zu finden den Unterlegenen doppelt, als vermeintlich humorlosen Sauertopf und schlechten Verlierer, stigmatisiert.

So sind die Reality-Shows zu regelrechten Anstalten der Umerziehung des gesellschaftlichen Subjekts vom Gemeinschaftswesen zum Einzelkämpfer hypertrophiert. Wer ihn bedrängende Dominanzstrategien zuvor als verlogen und feindselig verwarf, heißt sie nun als Merkmal für Überlebensfitness gut. Die Entsolidarisierung, die auf politischer Ebene durch die privatkapitalistische Verwertbarkeit aller öffentlichen System der Daseinsvorsorge und sozialen Sicherung vorangetrieben wird, findet ihr telemediales Äquivalent im gnadenlosen Fun der Gewinner, denen jede menschliche Schwäche Anlaß ist, die Fangzähne auszufahren und ins saftige Fleisch der Opferexistenzen zu beißen. Daß diese nicht zu bemitleiden sind, sondern allemal Interesse daran haben, so oder so am vampiristischen Festmahl teilzuhaben, ist das Wesen einer gesellschaftlichen Teilhaberschaft, ohne die Herrschaft nicht ausgeübt werden könnte.

Das Streben danach, unter keinen Umständen ausgeschlossen zu werden und die eigene Zugehörigkeit auch mit Grausamkeiten unter Beweis zu stellen, die auszuführen man zuvor nicht gewagt hätte, dient sich einer gesellschaftlichen Kontrollsphäre an, deren Zugriff weit über die audiovisuelle Überwachung hinausreicht.

Unter den Mikrofonen und Kameras der in Big Brother namenstreu inszenierten Totalüberwachung wandelt sich das Mißtrauen gegen den totalen Sicherheitsstaat zu einem affirmativen Exhibitionismus, der desto lustvoller praktiziert wird, je mehr sich das Objekt des Panoptikons allein dadurch, daß es beobachtet wird, bestätigt fühlt. Mit der Anerkennung der unsichtbaren Beobachter als legitime Instanz der Kontrolle wächst die Bereitschaft zur Verdächtigung und Denunziation derjenigen, die zeigen, daß sie sich nicht bedenkenlos fremden Augen und Ohren überantworten.

Unter der Bedingung kapitalistischer Vergesellschaftung produziert das Primat totaler Sicherheit einen homo oeconomicus, der keinen Begriff von Fremdbestimmung mehr hat, weil er es vorzieht, die Unterwerfung unter das ihn nährende System durch die Umwandlung der Schmerzen, die diese Kapitulation bereiten, in Lust zu versüßen. Sich nicht mehr daran erinnern zu können, daß der in Aussicht gestellte Lohn ein kümmerlicher Ersatz für die preisgegebene Autonomie ist, ist der Preis, den er beim Eintritt in den Menschenzoo zu entrichten hat.

Stieß die Einführung dieser Sendungen vor zehn Jahren noch auf das Festhalten an tradierten sozialen und kulturellen Werten, so wird heute im Fernsehen vorexerziert, daß die Dekadenz einst selbstverständlicher Formen des solidarischen Umgangs miteinander ihren eigenen Nutzen für den Bestand herrschender Verhältnisse hat. Was derzeit angesichts des Vorhabens der Einführung sogenannter Nacktscanner an Flughäfen auf den Rest des Vorbehalts trifft, sich vor anonymen staatlichen Kontrollorganen nicht nur körperlich, sondern mit jeder Faser seiner gesellschaftlichen Existenz zu entblößen, wurde von einer Kulturindustrie, die das Drama des gesellschaftlichen Lebens seiner künstlerischen Abstraktion und kritischen Reflexion entzieht, um die Akzeptanz den Menschen entmündigender Bedingungen als alternativlos erscheinen zu lassen, längst vorweggenommen.

Wer auf den vertrauten Wegen und in den gut ausgeleuchteten Horizonten des sattsam Bekannten vollauf zufriedengestellt wird, bedarf keiner darüberhinausweisender Überlegungen und Ausblicke, die ihn verstören könnten. Der vom Publikum erwartete Regelbruch steht dazu nicht im Widerspruch, weil er im Angebot enthalten ist. Es gibt kein besseres Substitut für wirkliche Veränderungen als ihre Simulation unter den kontrollierten Bedingungen kulturindustrieller Produktivität. Wenn das Unvorhergesehene die Möglichkeit zuläßt, ohne Skript und Regieanweisung entstanden zu sein, dann reicht dieses Moment der Unkalkulierbarkeit allemal aus, die Einbettung des Regelbruchs in die Determination seines Zustandekommens zu vergessen. Die Freiheitsrhetorik, die von den Kanzeln staatlicher und medialer Ideologieproduzenten erschallt, nimmt im Echo ihrer materiellen Widerlegung nicht umsonst die Gestalt eines zivilreligiösen Bekenntnisses an, das gar nicht irrational genug sein kann, um von der Herde der Gläubigen begeistert nachgebetet zu werden.

In einer ideologisch mit anwachsendem apparativen Aufwand geschienten Welt, in der die Überschaubarkeit fester Regeln, gesicherter Verfahren und austauschbarer Sozialkontakte nur Erfolg oder Scheitern zuläßt, hat niemand nichts zu verbergen. "Jeder hat ein Geheimnis" verheißt das Motto der angelaufenen Big-Brother-Staffel. Die Verallgemeinerung sagt schon, daß diese Sorte Geheimnisse etwa so interessant ist wie die naheliegende Absicht, die sich hinter der Zurschaustellung cooler Unnahbarkeit verbirgt. Eben deshalb braucht die Welt Nacktscanner wie Big Brother - sie zwängen auch den letzten Auswuchs aberwitziger widerständiger Praxis in das Normenkorsett einer Verfügbarkeit, die ohne den schnellen Wechsel der Mahlzeiten und Sensationen in ihrer Absehbarkeit und Gleichförmigkeit so unerträglich wäre, daß keine Gewähr mehr für ihren Vollzug bestände.

14. Januar 2010