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KULTUR/0849: Emanzipatorische Konsequenz aus Love Parade-Desaster Fehlanzeige (SB)



Kurz vor der zentralen Trauerfeier für die Opfer der Love Parade in Duisburg fokussiert sich die Suche nach Schuldigen auf den Oberbürgermeister der Stadt, Adolf Sauerland. Sein Rücktritt wird zum Politikum einer Katastrophenbewältigung, die weit mehr Fragen aufwirft als die der direkten Verantwortung zuständiger Beamter. Daß sogar dem Verlust der Pensionsansprüche Sauerlands im Falle eines Rücktritts in großen Sendern und Zeitungen der Rang einer wichtigen Nachricht zugewiesen wird, belegt die Dringlichkeit, mit der dem Volkszorn Abfuhr verschafft werden muß. Informationen über das Salär von Politikern, die nach einem Skandal wie dem Bombenangriff von Kunduz im September 2009, bei dem über 140 Menschen starben, zurücktreten, haben niemals eine vergleichbare Bedeutung erhalten. Die millionenschweren Vergütungen, Boni und Pensionen jener Bankvorstände und -manager, deren Finanzmanipulationen den Staat viele Milliarden gekostet und die die Erwerbsexistenzen von Millionen Menschen vernichtet haben, werden praktisch nicht angetastet. Anstatt diesen Mißstand zu skandalisieren, wird einem Kommunalpolitiker wie Sauerland in den Medien unterstellt, zur Sicherung seiner Ruhebezüge von vielleicht 3000 Euro monatlich an seinem Sessel zu kleben. Anhand seiner Person eine Zielscheibe für empörte Bürger aufzubauen, während die großen Räuber unbehelligt bleiben, verrät einiges über die Notwendigkeit dieser Feindbildproduktion.

Zweifellos ist die Frage der Verantwortung für die 21 Toten und über 500 Verletzten des 24. Juli zu klären. Das von Sauerland allem Anschein nach gutgeheißene Übergehen berechtigter Sicherheitseinwände im Vorfeld der Love Parade muß jedoch nicht der einzige Faktor sein, der zu der tödlichen Massenpanik führte. So ist die Bedeutung der diversen Absperrungen, die die Polizei an den Zu- und Ausgängen um den Tunnel herum durchführte, für das Zustandekommen der großen Enge, in der sich Tausende von Menschen befanden, noch nicht abschließend untersucht. Auch die Frage, warum die Love Parade überhaupt erstmals auf einem umzäunten Gelände in einer bewegungstechnisch von Polizei und Ordnern regulierten Situation stattfand, findet nicht die angemessene Beachtung.

"RUHR.2010 - Kulturhauptstadt Europas" lautet der Titel des Projekts, mit Hilfe dessen das Ruhrgebiet dieses Jahr als Europäische Kulturmetropole inszeniert werden soll. Die Love Parade war nicht nur integraler Bestandteil des vielfältigen Programms kultureller Ereignisse, ihr wurde aufgrund des erwarteten Massenanstroms der Rang eines besonderen Publikumsmagneten zugewiesen. Daß eine Party dieser Größenordnung etwas mit den künstlerischen Zielen des Projekts zu tun hat, wird von den Feuilletons spätestens nach dem tragischen Verlauf in Frage gestellt. Doch auch die vermeintliche Hochkultur legitimiert sich nicht anders als der Megaevent, der sich zumindest mit dem Titel "The Art of Love" kulturbeflissen gab, durch vordergründige Attribute marketingtechnisch optimierten Imagegewinns.

Politiker auf allen Ebenen schmücken sich gerne mit kulturellen Spektakeln, weil sie ansonsten wenig erfreuliches zu vermelden haben. Ihr haushaltspolitischer Bewegungsraum ist aufgrund der neoliberalen Umverteilungspolitik, mit der den steuerzahlenden Bürgern die Kosten der Krisenbewältigung aufgebürdet wird, während Banken und Kapitaleigner als angeblich unverzichtbare Produktivfaktoren geschont werden, eng bemessen. Die Sparpolitik, mit der die europäischen Regierungen die herrschende Verwertungsordnung sichern, führt insbesondere auf der Ebene der Kommunen zu einer sozialen Krise, die all diejenigen am härtesten trifft, die ohnehin schon den größten Verzicht leisten. Die Streichung öffentlicher Dienstleistungen wie Schimmbäder oder Jugendzentren, die der Bevölkerung bislang kostenlos oder zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung standen, bewirken bei all denjenigen, die die privatisierten Freizeit- und Kulturangebote nicht bezahlen können, massive Verluste an Lebensqualität.

Duisburg ist als am zweithöchsten verschuldete Stadt Nordrhein-Westfalens mit einer Arbeitslosenquote von 13,5 Prozent ein Paradebeispiel für die soziale Krise, die die Kommunen im postindustriellen Ruhrgebiet heimsucht. Das Abhalten eines kostenlosen popkulturellen Großereignisses war schon deshalb höchst attraktiv, weil es die Teilnahme mittelloser Jugendlicher ermöglichte, denen kommerzielle Rockkonzerte oder Partyevents normalerweise verschlossen bleiben. Was diese an sozialen Einschnitten bei essentiellen Versorgungsleistungen erleiden, kann so zumindest symbolisch kompensiert werden.

Der politische Druck, die Bevölkerung mit Brot und Spielen abzuspeisen, dürfte eine wesentliche Triebkraft für das Ignorieren offenkundiger Sicherheitsmängel gewesen sein. Die Befriedung schwerwiegender sozialer Widersprüche ist eine politische Aufgabe ersten Ranges, weil die Bewältigung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit gar nicht erst in Angriff genommen wird. Für die soziale Schieflage sind auch Kommunalpolitiker der CDU nur bedingt verantwortlich zu machen, doch nicht einmal das geschieht. Zuallererst verhindert werden soll eine Politisierung der Bevölkerung, die sie dazu brächte, ihre Interessen in die eigene Hand zu nehmen. Der Ruf nach gerechter Bestrafung der für die Katastrophe Verantwortlichen darf nicht ungehört verhallen, da die Menschen ihre Misere ansonsten über den aktuellen Anlaß hinaus zum Gegenstand ihres Unmutes machen könnten.

Als exemplarisches Beispiel für konsumistisch gleichgeschaltete Massenkultur könnte die Love Parade nicht besser dazu geeignet sein, den Mangel an politischer und kultureller Emanzipation im Takt der postmodernen Marschmusik vergessen zu lassen. Aber auch die ambitionierteren Projekte künstlerischer Produktivität im Programm des Festivals lassen an gesellschaftskritischer Streitbarkeit zu wünschen übrig. Neben den vielen Feiern, die ausschließlich dem Erzeugen guter Stimmung gewidmet sind, dienen sich viele Veranstaltungen und Ausstellungen dem Wachstumsprimat der Kreativwirtschaft an, dem durch explizit sozial- und systemkritischen Exponaten und Performances eher entgegengewirkt wird.

Das Budget für die Inszenierung der Kulturhauptstadt Europas von 63 Millionen Euro ist nicht dafür vorgesehen, das Problem der allgemeinen Verarmung auf den Begriff eines Antagonismus zu bringen, den zugunsten der Betroffenen zu entwickeln die Kritik kulturindustrieller Produktivität nicht weniger wichtig ist als die der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft. Die menschenfreundliche Konsequenz, der erwerbslosen Bevölkerung mit der Bemittelung selbstorganisierter Kulturereignisse oder dem Angebot kostenloser Veranstaltungen die Möglichkeit zu geben, mit ihrer Zeit etwas besseres anzustellen als unter der systematisch entfalteten Bezichtigung zu leiden, kein vollwertiger Mensch zu sein, wenn man keine Lohnarbeit verrichtet, wurde nicht weiter erörtert. Die Trauer um die Opfer in die Solidarität mit allen von sozialer Deklassierung betroffenen Menschen münden zu lassen scheint keine Möglichkeit zu sein, den Schaden produktiv zu verwerten.

Die mediale Verarbeitung der Katastrophe ist auch eine Woche danach von der Produktion Schuldiger geprägt. In einer Gesellschaft, in der Akkumulation alles und der Mensch, der sich seine Existenzberechtigung nicht durch einen produktiven Beitrag zum Gesamtprodukt erwirbt, nichts ist, gibt es außer Schuld nichts zu verteilen. Selbst der kostenlose Spaß muß verdient werden, indem man sich in eine Maschine organisierter Unterhaltung einspeist, deren im Notfall nicht zu stoppende Eigendynamik voll und ganz der Passivität des Erlebniskonsums entspricht. Nachdem der Versuch, die Besucher ganz im Sinne der Doktrin neoliberaler Eigenverantwortung selbst für das Desaster verantwortlich zu machen, gescheitert ist, muß nun ein möglichst sichtbarer Kopf rollen. Es wird beschwichtigt und bezichtigt, was das Zeug hält, um den Ernstfall, der hinter der schönen Fassade der Affirmationskultur lauert, als Normalität des gesellschaftlichen Gegeneinanders leugnen zu können. Zuständig sind immer die anderen - was die Menschen an den Ausreden der verantwortlichen Politiker und Manager empört, korrespondiert mit der eigenen Bereitschaft, sich den herrschenden Verhältnissen zu unterwerfen. Mit Hilfe vorformatierter Antworten wird dafür Sorge getragen, daß diese mit Leidenschaft personalisiert werden, anstatt ihre treibenden Kräfte durch weiterführende Fragen dingfest zu machen.

30. Juli 2010