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KULTUR/0864: 20 Jahre deutsche Einheit ... 20 Jahre politische Regression (SB)



Einigkeit inmitten schwärender politischer und sozialer Widersprüche zu stiften, ohne deren Aufhebung in Angriff zu nehmen, ist ein Anliegen der Gewinner. Das gilt erst recht für die deutsche Einheit, ein Projekt des nachholenden Nationalismus, das nicht erst mit dem Anschluß der DDR an die BRD aufs Tapet öffentlicher Mobilisierung gehoben wurde. Die durch verlorene Kriege und verübte Völkermorde bedingte Diskontinuität der deutschen Nationalgeschichte bringt die Anhänger der nationalen Idee um so mehr in den Harnisch eines ihnen vermeintlich vorenthaltenen Privilegs. Parteien und Politiker, die im Rahmen der europäischen Einigung die Überwindung des Nationalstaats propagierten, sind heute Feuer und Flamme für den "positiven Patriotismus".

Mit dieser terminologischen Verharmlosung der Restitution des deutschen Nationalismus war man nicht umsonst um präventive Irreführung bemüht. Was mit der Fußball-WM 2006 als "Märchen" im Wortsinn sein Haupt erhob, hat vier Jahre später die Gestalt einer neurechten Bewegung angenommen, in der der Haß auf alles im Abgleich zur beanspruchten eigenen Größe minderwertig Gemachte Urständ feiert. Und so kommt zusammen, was zusammen gehört - der der aggressiven Expansionslogik der BRD-Ostpolitik entsprungene Antikommunismus schlägt in einen neokonservativen Sozialrassismus um, mit dem die Volksgemeinschaft auf einen neuen Feind ausgerichtet werden kann, dessen sie sich zu entledigen hat.

Dem 20 Jahre nach einer Revolution, die keine war, weil sie den Klassenantagonismus vertieft und nicht beseitigt hat, noch einmal abgefeierten "Volk" wird geschichtspolitisch um den Bart gegangen, auf daß es nicht auf den schlauen Gedanken kommt, soziale Konflikte zu antizipieren, anstatt sie zu historisieren. Die mit der Weltwirtschaftskrise vertiefte Legitimationskrise des kapitalistischen Staates fördert eine ausschließlich rückwärtsgewandte Rechtfertigungspropaganda. Wer sich noch 20 Jahre später am Leichnam DDR vergreifen muß, um den Rechtsstaat mit Hilfe des "Unrechtsstaats" zu überhöhen, wer die SED-Herrschaft notorisch in eine Reihe mit dem Hitlerfaschismus stellt, um die personellen und institutionellen Kontinuitäten des BRD-Nachfolgestaats zu verharmlosen, wer am Beispiel der DDR "die Freiheit" in den Himmel hebt, um über den ökonomischen Zwang kapitalistischer Vergesellschaftung in der BRD nicht sprechen zu müssen, der verfolgt ganz offensichtlich kein emanzipatorisches zukunftsträchtiges Projekt.

Der Kapitalismus ist übrig geblieben, zum Sieger der Geschichte erklärt er sich Kraft seiner politischen und kulturindustriellen Hegemonie. Als Restbestand einer Entwicklung, die für abgeschlossen erklärt wird, weil die Überwindung ihrer Widersprüche nur in der Entmachtung herrschender Kräfte bestehen könnte, greifen ihre politischen Sachwalter zu Feindbildern, in denen aufscheint, was sie zu verteidigen haben. Wenn mittellosen Menschen kein angemessenes Auskommen gegönnt wird, weil das sie bestimmende System ihrer nicht mehr bedarf, dann erweist sich der damit verteidigte Besitzstand als Ausdruck einer sozialdarwinistischen Überlebenslogik, der der andere unmittelbarer Freßfeind ist.

Wer dieses Problem nicht als allgemeinmenschliches in Angriff nehmen will, der artikuliert mit der Einheit der Nation nichts anderes als den Anspruch eines Raubkollektivs, das zu Lasten mit ihm konkurrierender Nationalkollektive expandiert. Um die suggerierte Volksgemeinschaft auf dieses Konzept einzuschwören werden ihren Insassen neue Volkstribunen präsentiert, die in Reinkultur predigen, was die etablierten Funktionseliten zugunsten des Erhalts globaler Geschäftsfähigkeit in ideologisch eher moderater Form propagieren. Ein Joachim Gauck wird zum Heros einer Freiheit, deren wirtschaftsliberale und imperialistische Suprematie man in den neokonservativen Zirkeln Washingtons ebenso unterschreiben kann wie in den Kreisen neurechter europäischer Kulturkrieger, erhoben, weil die Konvergenz zwischen wertevermittelnder Mitte und neurechtem Ausgrenzungshaß das beste Antidot gegen einen revolutionären Aufbruch ist, der die Lobreden auf "das Volk" schnell verstummen ließ.

Nicht 20 Jahre deutsche Einheit, sondern 20 Jahre einer politischen Regression, mit der der Bevölkerung der Mut zum Verfolgen utopischer Entwürfe gänzlich ausgetrieben wurde, werden am 3. Oktober gefeiert. Die von Anfang an unreflektierte Idee einer nationalen Einigung kommt zu sich selbst, indem sie all das zutage fördert, was aus der abstrakten ideologischen Vereinnahmung konkreter soziale Widerspruchslagen zwingend hervorgeht. Ein auf erniedrigender Bezichtigung basierendes System der Arbeitsverwaltung bietet der sozialfeindlichen Lohnpolitik das abschreckende Dispositiv dessen, was der Bürger zugleich fürchtet und begrüßt. Diese Ambivalenz muß ihm nicht erst aufgeherrscht werden, sie ist Ausdruck längst akzeptierter und so die Lähmung seiner geistigen und politischen Bewegungsfreiheit permanent machender Widersprüche. Man könnte auch sagen, die propagierte Freiheit, die die Menschen wie die Motten um das sie verzehrende Licht tanzen läßt, artikuliert sich im atomisierten Subjekt als uneinlösbare wie unabgeschlossene Partizpation, sprich Teilbarkeit.

2. Oktober 2010