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KULTUR/0875: Stéphane Hessel - Frankreichs Antwort auf den Sarrazynismus (SB)



Jede Bevölkerung wählt sich seine Vordenker selbst. Daß viele Bundesbürger in Thilo Sarrazin ihr Sprachrohr finden, weil sie meinen, den sozialdarwinistischen Überlebenskampf zu ihren Gunsten auf die Spitze feindseliger Verunglimpfung schwächerer Menschen treiben zu müssen, mag am expansiven, die EU und ihre weitere Peripherie als Lehen eigener Mehrwertabschöpfung mißbrauchenden Modell deutscher Produktivität liegen. In Frankreich scheint man sich nicht so sicher zu sein, ob die gnadenlose Verschärfung kapitalistischer Widersprüche wirklich in eine lebens- und liebenswerte Gesellschaft führt oder ob nicht gerade die Aufhebung zugespitzter Konkurrenz den Weg in eine Zukunft bahnt, die nicht von Elend und Krieg bestimmt ist.

Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, wenn man den Erfolg der kleinen Schrift "Indignez-vous!" des 93jährigen Résistance-Veterans Stéphane Hessel betrachtet. Dieser lediglich 30 Seiten umfassende und für drei Euro zu erstehende Essay wurde inzwischen fast eine Million mal verkauft und macht in Frankreich auf ähnlich spektakuläre Weise Furore wie Sarrazins Warnung vor einem durch kultur- und volksfremde Elemente bewirkten Niedergang Deutschlands. Ansonsten jedoch verhalten sich die beiden Schriften wie Feuer und Wasser, geht es Hessel doch darum, den Geist der Résistance im Wortsinn wiederzubeleben. "Empört euch!" ruft er der Jugend Frankreichs zu, gegen die immer weiter auseinanderklaffende soziale Disparität, gegen die Verabsolutierung einer zusehends zerstörerischen Produktivität, gegen die rassistische und repressive Behandlung illegaler MigrantInnen und anderer Minderheiten wie die der von Präsident Sarkozy drangsalierten Roma.

Empörung ist für den 1917 in Berlin als Sohn der Protestantin Helen Grund und des jüdischen Schriftstellers Franz Hessel geborenen Autor das Lebenselixier einer Streitbarkeit, ohne die sich widrige gesellschaftliche Bedingungen nicht überwinden lassen. Wie sehr ihm heute noch daran gelegen ist, sich mit offenkundiger Menschenfeindlichkeit und gleichgültiger Ignoranz nicht abzufinden, dokumentiert seine persönliche Geschichte. Um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen emigrierte die Familie nach Frankreich, wo sich Stéphane nach der Besetzung des Landes durch Wehrmacht und SS dem Widerstand anschloß. Nach seiner Ergreifung wurde er ins KZ Buchenwald deportiert, wo er nur knapp dem Tod durch Erhängen entkam. Nach dem Krieg war Hessel als Sekretär der UN-Menschenrechtskommission an der Ausarbeitung der Universellen Erklärung der Menschenrechte von 1948 beteiligt und wurde später von Präsident Mitterand zum Botschafter Frankreichs auf Lebenszeit ernannt. In den 1960er Jahren setzte er sich insbesondere für die Rechte afrikanischer Arbeiter in Frankreich ein.

Hessels Aufruf zur Empörung über und zum Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit erschallt nicht aus dem Lager der radikalen Linken, sondern aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft. Auch darin ist er Sarrazin so ähnlich, wie seine Positionen mit denen des deutschen Demagogen kaum unvereinbarer sein könnten. Hessels Kampfansage bedient sich dabei des strikten Gebots der Gewaltlosigkeit, allerdings nicht auf eine Weise, die die Gewalt der anderen Seite ignorierte, wie er unter Verweis auf den Philosophen Jean Paul Sartre, dessen Schrifte ihn bekundetermaßen sehr beeinflußt haben, erklärt:

"Die Zukunft gehört der Gewaltlosigkeit und der Versöhnung der unterschiedlichen Kulturen. Das ist der nächste Schritt, den die Menschheit wird tun müssen. Und in diesem Punkt bin ich derselben Ansicht wie Sartre: Man kann die Terroristen, die Bomben werfen, nicht entschuldigen, wohl aber verstehen. Sartre schrieb 1947: 'Ich gebe zu, dass Gewalt, in welcher Form sie sich auch äußern mag, immer ein Fehlschlag ist. Aber es ist ein unvermeidlicher Fehlschlag, weil wir in einer Welt der Gewalt leben. Und auch wenn es zutrifft, dass der Rückgriff auf Gewalt diese Gewalt nur zu perpetuieren droht, so trifft doch auch zu, dass dies das einzige Mittel ist, ihr ein Ende zu setzen.' Dem füge ich hinzu, dass Gewaltlosigkeit ein sichereres Mittel ist, der Gewalt ein Ende zu setzen. Man kann die Terroristen nicht im Namen dieses Prinzips unterstützen. Die Erkenntnis, dass terroristische Gewalt ihre Wirkung verfehlt, ist weitaus wichtiger als das Wissen, ob man Menschen, die zur Gewalt greifen, verdammen oder nicht verdammen sollte." [1]

Das Problem ohnmächtigen Ausgeliefertseins gegenüber massiver Gewaltanwendung findet in Hessels Essay am Beispiel des Verhältnisses zwischen Israelis und Palästinensern sein exemplarisches Beispiel. In mehreren Abschnitten widmet er sich insbesondere dem Schicksal der Menschen in Gaza und verleiht seiner Bewunderung darüber Ausdruck, daß sie trotz der verheerenden Zerstörung ihres Gebiets, ihrer langfristigen Aushungerung und permanenten Bedrohung nicht den Lebensmut verlieren. Seine bereits früher geübte Kritik an der Politik Frankreichs gegenüber Israel und sein Eintreten für die AktivistInnen der BDS-Kampagne, die aufgrund ihrer Kampagne zur Boykottierung israelischer Waren wegen eines "öffentlichen Aufruf zur Diskriminierung" angeklagt und mit Höchststrafen von drei Jahren Gefängnis und 45.000 Euro Geldstrafe bedroht sind, haben dazu geführt, daß eine für den 18. Januar anberaumte Veranstaltung an der Eliteschule Ecole normale supérieure (ENS), bei der Hessel auf Einladung der Studentenschaft zu diesem Thema mit einigen Israelis und Palästinensern diskutieren sollte, untersagt wurde. Hessels Ansicht, der Boykott richte sich nicht gegen Juden, sondern gegen die ihrerseits diskriminierende und kolonialistische Politik Israels in den Palästinensergebieten, sollte keine weitere Verbreitung zugestanden werden.

Während ENS-Direktorin Monique Canto-Sperber, eine erklärte Verfechterin der Meinungsfreiheit, und Hochschulministerin Valérie Pécresse für ihre Entscheidung viel Lob unter anderem von dem der Regierung Sarkozy nahestehenden Conseil représentatif des institutions juives de France (Crif) und den neokonservativen Publizisten Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut erhielten, setzten sich sieben prominente ENS-Absolventen, darunter Alain Badiou, Etienne Balibar und Jacques Rancière, für das Rederecht Hessels, der ebenfalls an der ENS studiert hatte, ein. Sie verdächtigten die Direktorin und Ministerin, sich dem Crif gebeugt zu haben, dessen Rolle bei der systematischen Einschüchterung aller Personen, die es wagen, die israelische Regierungspolitik zu kritisieren, wohlbekannt sei. [2] Bis zum heutige Tag haben fast 14.000 Personen eine Petition unterzeichnet, die sich für das Rederecht Hessels und gegen die strafrechtliche Verfolgung der BDS-AktivistInnen richtet.

Anhänger Sarrazins mögen geltend machen, daß die 464 Seiten seines Buchs mit unwiderlegbaren Fakten gefüllt wären. Selbst wenn diese nur so und nicht anders auszulegen wären, was nicht der Fall ist, wie bereits mehrere KritikerInnen nachgewiesen haben, dann wäre sein Werk immer noch eine von Datenmast aufgeblähte und technokratischer Menschenzählerei bestimmte Rechtfertigungsarie. Deren essentielle Aussage läßt sich auf die Formel "Wir, die leistungsfähigeren, schon per Geburt zu Höherem bestimmten Menschen müssen den unproduktiven Horden der Leistungsverweigerer Einhalt gebieten, wenn Deutschland nicht untergehen soll" eindampfen. Die Glorifizierung eines Deutschland, das leben muß, selbst wenn wir sterben müssen, schallt einem Stéphane Hessel noch in den Ohren. Um so wertvoller ist sein Aufruf zu einem Streit, dem auch die tonnenschweren Panzer aus den ideologischen Waffenschmieden der neofeudalen Herrschaft nicht gewachsen sind, weil Menschen, denen nur Hände und Füße bleiben, um ihnen zu widerstehen, nichts zu vergessen und zu verlieren haben.

Fußnote:

[1] http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~EC1B6D3F1EB1945319B3E90D326B4D0EF~ATpl~Ecommon~Scontent.html

[2] http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/boykottieren_verboten_1.9167386.html

Zur Praxis des Sarrazynismus siehe auch:

http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prber052.html

25. Januar 2011