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KULTUR/0881: Krokodilstränen der Elitenschmiede über 7,5 Mio. Analphabeten (SB)



"Die Bekämpfung von Analphabetismus und eine solide Grundbildung für jeden gehören zu den zentralen Erwartungen an ein gerechtes Bildungssystem. Gesellschaftspolitisches Ziel muss es sein, die Zahl der funktionellen Analphabeten in Deutschland in den nächsten fünf Jahren zu halbieren", sagte Bundesbildungsministerin Annette Schavan. [1] Doch sie sagte dies nicht am Montag bei der Vorstellung einer Studie, nach der 7,5 Millionen Einwohner Deutschlands funktionelle Analphabeten sind, sondern bereits vor fünf Jahren auf der zentralen Veranstaltung zum Weltalphabetisierungstag der UNESCO in Berlin.

Erwartungen nicht erfüllt, Ziel verfehlt, Bildungssystem ungerecht lautet somit das Resümee aus fünf Jahren schavanscher Bildungspolitik. Das aktuelle Ergebnis überrascht allerdings nur jene, die penetrant ignorieren, daß durch die Elitenförderung, all die vielen Leistungstests und Anpassungen der Curricula an den Verwertungsbedarf des Wirtschaftsstandorts Deutschland ein erheblicher Teil der Heranwachsenden von vornherein ins Abseits manövriert wurde und wird. Wider besseres Wissen treiben die Bildungspolitiker eine Spaltung der Gesellschaft voran. Dem widerspricht nicht, daß sie eine frühkindliche Erziehung für alle propagieren - schließlich läßt eine breit angelegte Konkurrenzumgebung um so hochwertigere Selektionsergebnisse erwarten!

Indem möglichst viele Krabbelkinder im Anschluß an die Phase des taktilen Begreifens alsbald zum taktischen Begreifen all dessen herangezogen werden, wodurch sich ein Vorsprung gegenüber Altersgenossen erstreiten läßt, will Deutschland langfristig seine wirtschaftliche Vorteilsposition in der Europäischen Union und darüber hinaus sicherstellen. Für diesen Zweck werden die hochqualifizierten Funktionseliten gebraucht.

Rund 30 Millionen Euro hatte Schavan im Jahr 2006 für den Zeitraum von fünf Jahren zur Unterstützung der Bildungspolitik und Bekämpfung des Analphabetismus in Aussicht gestellt. Das maue Ergebnis spricht eine eindeutige Sprache. Nun soll ein Grundbildungspakt von Bund und Ländern gemeinsam mit Unternehmensverbänden, Gewerkschaften, Kammern und Volkshochschulverbänden richten, was als Folge der gescheiterten Bildungspolitik anzusehen ist. Ob mit diesem Pakt die erwünschte Trendwende eingeleitet wird, darf bezweifelt werden.

Dabei ist es nun wirklich kein Geheimnis, durch welche Maßnahmen Bund und Länder die Lese- und Schreibfähigkeit der Bürger von Grund auf und nachhaltig verbessern könnten: Verringerung der Klassengrößen, mehr Anstellungen von Lehrpersonal, keine Ausrichtung des Lehrstoffs auf Weltmarktinteressen. Mit der Initiierung eines Grundbildungspakts hingegen will sich die Politik aus der Verantwortung stehlen. Ob Banken- oder Bildungskrise, immer wenn Schulden gemacht werden oder sie in der Bringschuld gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern steht, verfällt die Regierung auf die vermeintlich geniale Idee der gesellschaftlichen Umverteilung.

Aber die Menschen können beruhigt sein, in Hinsicht des funktionalen Analphabetismus werden sie voraussichtlich nicht weiter von der Regierung behelligt. Bis die nächsten Krokodilstränen der Förderer des Elitentums vergossen werden, dürften erneut einige Jahre ins Land gehen. Sollte sich dann herausstellen, daß auch der Grundbildungspakt gescheitert ist, dürfte es anschließend allerdings eng für die Analphabeten werden. Denn die Regierung wird die Schuld von sich abzuwälzen versuchen - was liegt bei diesem sarrazin-affinen Politikstil näher, als die von der Lese- und Schreibschwäche Betroffenen der Bildungsverweigerung oder gar natürlichen Dummheit zu bezichtigen - womöglich begleitet von der Drohung, daß bei geringerer Bildung die Sozialleistungen und andere gesellschaftlichen Ansprüche gestrichen werden?


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Quelle:
[1] "Schavan: Neue Chancen für Analphabeten in Deutschland", idw,
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 8. September
2006

http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/123682/

1. März 2011