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KULTUR/0932: Günter Grass beschämt seine Gegner mit parteilicher Streitbarkeit (SB)




Vergleichsweise gering war die Resonanz auf das jüngste politische Gedicht des Literaten Günter Grass, "Europas Schande". Der Vergleich zu dem in den Mehrheitsmedien zwischen irreführend und antisemitisch fast einhellig verurteilten Gedichts "Was gesagt werden muss" drängt sich schon aufgrund des Eklats, den diese Kritik an israelischer wie deutscher Kriegspolitik auslöste, auf. Selten wurde der Ruf eines Nobelpreisträgers wirksamer demontiert als in diesem Fall, und es kann für den Betroffenen nur ein schwacher Trost sein, daß sich die Schriftstellervereinigung PEN nicht dazu durchringen konnte, ihm die Ehrenpräsidentschaft abzuerkennen. Allein daß darüber kontrovers beraten wurde läßt erkennen, in welch engen Grenzen politische Kritik selbst im Schutzraum der Künste in der Bundesrepublik nurmehr möglich ist. Die Debatte über die inhaltliche Relevanz des Gedichts wurde begraben unter hämischen Sottisen und verletzenden Beleidigungen seines Autors, anstelle einer öffentlichen Diskussion über die virulente Kriegsgefahr im Mittleren Osten und die deutsche Beteiligung an der Aufrüstung Israels mit einem atomwaffentauglichen Trägersystem wurde die Angelegenheit zum "Fall Grass" [1] erklärt. Die Unterdrückung des Themas erfolgte in der klassischen Manier, den Boten der Nachricht zu strafen, anstatt die Nachricht selbst zur Kenntnis zu nehmen.

Warum dieser Aufwand bei einem Gedicht, das das Spardiktat der Troika für den sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Niedergang Griechenlands verantwortlich macht, nicht betrieben wurde, ergibt sich nur bedingt aus der bereits vollzogenen Schmähung seines Urhebers. Günter Grass als dichterisch inkompetent und politisch irrelevant vorzuführen, ja den 85jährigen Schriftsteller als nicht mehr ernstzunehmendes Opfer senilen Niedergangs zu belächeln, wie es nach Veröffentlichung von "Europas Schande" in der Süddeutschen Zeitung [2] vielfach geschah, verrät das Gegenteil dessen. Grass hat die brutale Reduzierung des Projekts Europa auf die Maßgabe nationaler Standortkonkurrenz, globaler Projektionsfähigkeit und der betriebswirtschaftlichen Zurichtung der Bevölkerungen auf produktive Resultate in den Nachhall eben jener Werte und Traditionen gestellt, die einst an der Wiege der politischen Einigung des Kontinents standen und heute jeden zielführenden Gehalt eingebüßt haben. Er hat insbesondere an die jüngere Geschichte Griechenlands erinnert und die Rolle Deutschlands als Besatzungsmacht und Unterstützer des Obristenregimes nicht ausgespart. Mit der letzten Zeile des Gedichts "Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land, dessen Geist Dich, Europa, erdachte" hat er den Finger in die Wunde des Verfalls einer Kulturgeschichte gelegt, die in der griechischen Antike ihren Anfang nahm und bei allen Brüchen über die Jahrhunderte eine Kontinuität aufwies, deren Negation durch den Primat der Ökonomie mehr vernichtet, als die architektonischen Relikte dieser Zeit ahnen lassen.

Grass hat sich den Frankfurter Blockupy-Protesten mit seinem Gedicht unausgesprochen angeschlossen und sie aus der Warte einer Generation, der die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs noch vor Augen steht, durch den engen Zusammenhang zwischen kulturellem Verfall und gesellschaftlicher Barbarisierung kommentiert. Wie der antidemokratische Umgang mit der überfälligen Solidaritätserklärung deutscher Aktivistinnen und Aktivisten an die von der Vormachtstellung der Bundesrepublik betroffenen Länder der europäischen Peripherie gezeigt hat, will man sich bei der Restauration großdeutschen Expansionsstrebens nicht in die Parade fahren lassen. Die kaum vorhandenen massenmediale Resonanz auf die Aufhebung eines zentralen demokratischen Grundrechts bei gleichzeitiger Hinwendung zu einem Menschenrechtsimperialismus, der eine ukrainische Oligarchin zugunsten deutscher Kapitalinteressen zur Freiheitsheldin erhebt und die Verurteilung der kurdischen Politikerin Leyla Zana wegen angeblicher Propaganda für die PKK zu zehn Jahren Haft im NATO-Staat Türkei, um nur ein Beispiel zu nennen, ignoriert, könnten den Marsch in den autoritären Staat nicht besser dokumentieren.

Wenn ein in dieser Gesellschaft zu höchsten Ehren gelangter Kulturbürger aufgrund seines zusehends kritischen Umgangs mit deutscher Regierungspolitik für die Sozialdemokratie, die er jahrzehntelang unterstützte und auch beim dritten Überfall deutscher Soldaten auf Jugoslawien während des letzten Jahrhunderts nicht alleine ließ, nicht mehr verwendungsfähig ist, muß er wohl ins Schwarze getroffen haben. Der moralische Tonfall seines Gedichts mag antiquiert wirken und ist der materialistischen Kritik des Gewaltverhältnisses, das die europäische Hackordnung bestimmt, vorgelagert. Er schlägt die gegen ihn gerichteten Ausfälle jedoch mit eigenen Waffen, scheinen sich deren Urheber doch in genuin nationalistischer Identifikation vor allem an einer Nestbeschmutzung zu erhitzen, die die Ausgrenzung des Täters aus dem Kollektiv der Nutznießer nationaler Raubzüge zwingend zur Folge hat.

Wenn nun Politiker aller Couleur fordern, man solle Grass einfach nicht mehr ernst nehmen, sprich durch Nichtbeachtung strafen, dann liegt die Schwäche der Argumente ganz auf ihrer Seite. Allein die Macht persönlicher Verunglimpfung hilft noch, wenn das zweite Gedicht in kurzer Folge dem probaten Mittel des Antisemitismusverdachts dadurch den Wind aus den Segeln nimmt, daß Grass am Beispiel Griechenlands Partei für eine vom Terror der NS-Besatzungspolitik, vom Antikommunismus der NATO und von der Austeritätspolitik der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF betroffene Bevölkerung nimmt. Indem er im Kern antifaschistisch argumentiert, überführt er diejenigen, die es nicht der Mühe wert erachten, die neue deutsche Suprematie in Europa an der Verpflichtung des "Niemals wieder" zu messen, als Wiedergänger dessen, was sie zu bekämpfen vorgeben.

Grass stärkt mit seinem Gedicht den sozialen Widerstand gegen Staat und Kapital aus der Position eines linksbürgerlichen Literaten, der sich erkühnt, anstelle erwarteter Altersmilde eine aus eigener Lebenserfahrung geschöpfte und damit um so authentischere Streitbarkeit nach vorne zu bringen. Anstatt sich nach dem Trommelfeuer, mit dem das Gedicht zum Konflikt zwischen Israel und dem Iran in eine Waffe der Kriegstreiber umfunktioniert werden sollte, in die Schmollecke zurückzuziehen, erweist er sich als Kämpfer, der an Herausforderungen wächst. Zur Kenntlichkeit entstellt wird eine Kulturindustrie, die sich zwar darin gefällt, gegen Nazis mobil zu machen, der jedoch jeder Sinn für die Lustbarkeit des politischen Spektakels vergeht, wenn anhand eines Opfers eigener Hegemonialinteressen daran erinnert wird, wie sehr man dabei auf den Spuren wandelt, die die Stiefel deutschen Landser und SS-Schergen hinterlassen haben.

Herausgestellt wird die Geschichtsamnesie der Träger des deutschen Imperialismus, die die Gnade der späten Geburt nicht nur in neue Eroberungslust ummünzen, sondern auch ausgemachte Feindseligkeit gegenüber einer dahinschwindenden Kriegsgeneration an den Tag legen, die nicht für die Kontinuität deutschen Hegemonialstrebens stehen. Von dieser etwas über das Verhängnis politischen Opportunismusses zu lernen, anstatt sich mit bezichtigendem Fingerzeig von jedem Verdacht eigener Stiefelleckerei freizusprechen, könnte dokumentieren, worauf die eigenen Überlebensoptionen und Karriereambitionen errichtet sind. Wer es ernst meint mit dem Kampf gegen politische Unterdrückung, dem dürfte dies die geringste aller Herausforderungen sein.

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ingo-schulze-zum-fall-grass-eine-loesung-kann-nur-allseitige-abruestung-bringen-11718823.html

[2] http://www.sueddeutsche.de/kultur/gedicht-von-guenter-grass-zur-griechenland-krise-europas-schande-1.1366941

29. Mai 2012