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KULTUR/0972: Fußball-WM in Brasilien - Kein Sommermärchen, sondern Realitätsschock (SB)




Massenproteste, Polizeibrutalität, FIFA-Skandale - auch im wohlstandsverwöhnten Deutschland macht sich Unbehagen breit angesichts der deutlichen Ablehnung, mit der die Bevölkerung Brasiliens die Austragung der Fußball-WM in ihrem Land quittiert. "Nao vai ter copa" - "Es wird keine WM geben" lautet das Motto der Protestbewegung, die sich zum Confederations Cup in Brasilien vor einem Jahr mit über einer Million Demonstrantinnen und Demonstranten warmlief. Daß die WM dennoch stattfindet, ist nicht zuletzt der drastischen Militarisierung geschuldet, mit der die sozialen Probleme des Landes in den Austragungsorten unsichtbar gemacht werden sollten. Hunderttausende Menschen mußten Stadienneubauten weichen und wurden zwangsgeräumt, die Lebensgemeinschaften in zahlreichen Favelas wurden mit den Mitteln moderner Aufstandsbekämpfung zerstört, Straßenkinder wurden gezielt ermordet, und jetzt hält eine paramilitärisch aufgerüstete Streitmacht von fast 200.000 Polizisten, Soldaten und privaten Sicherheitskräften die Gegnerinnen und Gegner der WM am Boden.

Dabei verfehlt die hierzulande vor allem gegen die FIFA gerichtete Diskussion um die Ursachen des Widerstands den wesentlichen Grund für die Empörung der ansonsten fußballbegeisterten Bevölkerung Brasiliens. Zwar wurden gesetzlich verankerte soziale Zugeständnisse auf Geheiß des Weltfußballverbands rückgängig gemacht, weil sie deren monopolistische Verfügungsgewalt über die geschäftliche Seite der WM in Frage stellten, und die Ticketpreise schließen das Gros der Bevölkerung von vornherein von einem Stadionbesuch aus. Die Behauptung wiederum, die Proteste würden vor allem von urbanen Mittelschichten getragen, die weniger Stadien als Schulen und Krankenhäuser auf FIFA-Niveau verlangen, verkürzt das Spektrum des Widerstands um sein streitbarstes Element. Der Kern des sozialen Konflikts liegt in der elementaren Armut und Ohnmacht eines Großteils der Bevölkerung. Grafitti, auf denen dürre Kinder vor Tellern sitzen, auf denen ein ungenießbarer Lederball liegt, zeigen, worum es geht - der ungestillte Hunger wird durch die Invasion von König Fußball noch unerträglicher, als er unter den Bedingungen der brasilianischen Klassengesellschaft ohnehin ist.

Deren sich fortschrittlich gebendes Bürgertum hält sich zwar eine sozialdemokratische Regierung zugute, doch vertritt Präsidentin Dilma Rousseff in erster Linie das Interesse eines sogenannten Schwellenstaates, attraktive Standortbedingungen für ausländische Direktinvestitionen und transnationale Konzerne zu schaffen. Dementsprechend ambitioniert fiel der Versuch aus, die WM als Schaufenster für die Leistungskraft des Wirtschaftsstandorts Brasilien zu nutzen. Obwohl die Rechnung für das Fußballfest inzwischen auf 50 Milliarden Dollar angeschwollen ist, konnten die baulichen und infrastrukturellen Maßnahmen, deren Ausmaß alle vorherigen Weltmeisterschaften in den Schatten stellt, vielfach nicht zum Beginn der WM fertiggestellt werden. Desto weniger ist die Regierung in der Lage, die materielle Not der Bevölkerung zu lindern oder auch nur angekündigte Breitensportmöglichkeiten zu verwirklichen, mit denen dem Argument, bei der WM-Show handle es sich um ein exklusives Privileg wohlhabender Eliten, der Wind aus den Segeln genommen werden sollte.

So fällt der Versuch Brasilias, nicht nur sportlich, sondern auch in der globalen Wirtschaftskonkurrenz zu punkten, einmal mehr auf die Füße einer Bevölkerung, die den Mega-Event nur von weitem respektive im Fernsehen betrachten kann und zudem daran gehindert wird, im Umfeld der Stadien vom Zustrom zahlungskräftiger Fußballfans zu profitieren. Auch diese WM präsentiert sich als Laufsteg globaler Marken, deren Wiedererkennbarkeit nicht durch lokale oder regionale Produkte beeinträchtigt werden soll. Unternehmerisches Denken prägt die FIFA so wie jeden normalen Wirtschaftskonzern, was den Widerstand der durch Privatisierungsoffensiven in der sozialen Daseinsvorsorge leidgeprüften Bevölkerung nicht eben beschwichtigt.

Der kolonialistische Charakter des globalen Unterhaltungssports trägt das seinige dazu bei, daß der Identifikation armer Fußballfans mit gottgleichen Megastars enge Grenzen gesetzt sind. Der Klassencharakter des Events offenbart sich Menschen, die täglich um ihr Überleben kämpfen müssen, desto leichter, als der neofeudale Prunk der exklusiven WM-Inszenierung und das Elend der eigenen Armut so eng nebeneinanderliegen, daß ein Aufeinanderprallen nur noch durch staatlichen Gewaltorgane verhindert werden kann. Deren gut dokumentierte Menschenrechtsverletzungen halten ausländische Staatsgäste, die wie Bundeskanzlerin Angela Merkel zur WM anreisen, nicht davon ab, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Neben dem "positiven Patriotismus", auf den die deutsche Bevölkerung eingeschworen wird, vertritt sie Wirtschaftsinteressen, an denen ebensowenig Blut kleben soll wie am "sauberen Sport".

Was das Hochamt des durchkommerzialisierten Unterhaltungssports von der alltäglichen Aneignung unbezahlter, nicht selten unter sklavenartigen Bedingungen verrichteter und oft mit körperlichen Schäden durch Umweltgifte und Überlastung einhergehender Lohnarbeit unterscheidet, ist der hochsymbolische Charakter des Geschehens. Gedacht zur Befriedung der verarmten Massen einer Gesellschaft, deren Metropolen den Ansturm der durch agroindustriellen Raubbau aus der notgedrungenen Subsistenz des Landlebens vertriebenen Bevölkerung bei allen Wachstumserfolgen längst nicht mehr auf eine Weise absorbieren können, die den kommenden Aufstand nicht in eine permanente Bedrohung der herrschenden Ordnung verwandelte, versagt die suggestive Kraft des Nationalpathos dieses Mal auf ganzer Linie.

So verströmt die hierzulande in Pressekommentaren und TV-Talkshows artikulierte Sorge um den Verlauf der WM auch den Geruch der Angst um den Verlust der ungebrochenen Legitimation eigenen Wohllebens. Je anklagender mit dem Finger auf die FIFA gezeigt und laut "Korruption" gerufen wird, desto mehr drängt der Ruf "Haltet den Dieb" an die Oberfläche der eigenen Beteiligung am sozialen Elend in Brasilien. Schließlich ist bekannt, daß die Rodung Amazoniens und die an die Stelle des Urwalds getretene Monokultur der Soja-Barone zum größten Teil auf das Konto der Länder des Nordens geht, deren Hochleistungsfleischmast und -milchproduktion nicht mehr ohne das konzentrierte Pflanzeneiweiß auskommt. Und wo geplünderte brasilianische Natur nicht in europäischen Mägen endet, da sorgt das steile Produktivitätsgefälle für die ausbeuterische Abschöpfung billiger Lohnarbeit durch hiesige Kapitalinvestoren oder den Export hierzulande für umweltunverträglich erachteter Hochtechnologie wie Kohle- und Atomkraftwerke.

Solidarität mit der brasilianischen Bevölkerung zu üben kann denn auch nur bedeuten, die WM als das zu entlarven, was ihre den sportlichen Leistungsvergleich vorhaltende Legitimationsfunktion im wesentlichen auszeichnet. Der euphemistisch als "Völkerfreundschaft" benannte Zweck des Turniers homogenisiert globale Ausbeutungsverhältnisse auf der Folie eines Nationalmythos, der schon bei kleinen Interessendivergenzen, wie etwa das Beispiel des Konflikts um die Ukraine belegt, die Zähne eines fundamentalen Gewaltverhältnisses zeigt. Daß dieses innerhalb der vor dem Fernseher vermeintlich vereinten Nation nicht minder grausam mit Zähnen und Klauen ausgetragen wird, belegt die diesjährige WM auf so drastische Weise, daß sich der Spaß bei aller Beschränkung des sportlichen Geschehens auf das Stadionrund nicht so recht einstellen will.

Zu allem Überfluß an herrschaftssicherndem Gebrauchswert zeigt das den Profifußball dominierende Verhältnis von Geldeinsatz und Leistungsvermögen, daß der Markt längst alle Felder besetzt hat, aus denen seine Herolde noch den Honig nicht durchökonomisierter Lebensfreude saugen wollen. Sozialer Widerstand gegen die fortgesetzte Verwertung all dessen, was dem Menschen noch nicht zum fremden Nutzen genommen und gegen sein Lebensinteresse gekehrt wurde, findet im kulturindustriell organisierten Unterhaltungs- und Profisport ein Ziel, das mit relativ geringem Aufwand das überzeugende Ergebnis gelungener Subversion hervorbringen kann. Sich dem Starkult und Eventzirkus verweigern, der Identifikation mit Fußballvereinen und ihren Sponsoren eine Absage erteilen, Lokalpatriotismus und Nationalstolz als Strategien des Teilens und Herrschens durchschauen, kurzum den Quell des Spektakels zum Versiegen bringen, um statt dessen Bewegungsfreude im eigenen Rahmen zu entfalten, ist eine subversive Strategie, deren Massenwirksamkeit einiges im Apparat kapitalistischer Legitimationsproduktion durcheinanderbringen könnte.

16. Juni 2014