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KULTUR/0986: "Böhmermann-Affäre" - Was fehlt ... (SB)



Schon lange nicht mehr hat ein Anlaß, der den Schutz eines zentralen Grundrechtes im Kontext brisanter innen- wie außenpolitischer Entwicklungen betrifft, die Gemüter so sehr erhitzt wie die sogenannte Schmähkritik, mit der der ZDF-Moderator Jan Böhmermann den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan herausforderte. Die Feuilletons und Talkshows haben alle Hände voll zu tun, die Kontroverse um Anerkennung und Verwerflichkeit des Gesamtkunstwerkes zwischen Fernsehunterhaltung und Staatsaffäre in die zivilen Bahnen eines gesellschaftlichen Diskurses zu lenken und zugleich der Komplexität des Geschehens Rechnung zu tragen.

Dieses Unterfangen ist in seinen argumentativen Verästelungen und Vergleichsparametern nicht minder anspruchsvoll als das Legitimationskonstrukt Böhmermanns, Erdogan nach der Intervention der türkischen Regierung anläßlich der satirischen Kritik an seiner Politik im NDR-Magazin extra 3 den Unterschied zwischen einer verbotenen Schmähkritik und erlaubten Satire vor Augen führen zu wollen. Da klar sein dürfte, daß sich der türkische Präsident kaum in der Unterdrückung und Verfolgung der gegen sein Regime gerichteten inneren Opposition beirren läßt, entfaltet sich die hauptsächliche Wirkung der kalkulierten Grenzüberschreitung beim einheimischen Publikum.

Während der juristische Sachverhalt der Frage, ob die Bundesregierung überhaupt hätte tätig werden müssen, weiterhin intensiv diskutiert wird, bleibt der politische Kontext, der die Reichweite der Meinungs- und Pressefreiheit maßgeblich bestimmt, zu sehr im Dunkeln. Selbstverständlich sollte Böhmermann ebensowenig einer Strafverfolgung ausgesetzt werden wie jeder andere Mensch, der sich mit Inhabern exekutiver Vollmachten anlegt, die weit über seine eigenen Möglichkeiten, politisch wirksam zu werden, hinausgehen. Die Verteidigung dieser Freiheiten steht bei allen Erörterungen an erster Stelle, gerade weil sie immer wieder Interessen und Gewalten gegenüber durchgesetzt werden müssen, die im Unterschied zu Autoren und Rednern über materielle Möglichkeiten verfügen, anderen Menschen nicht nur den Mund zu verbieten, sondern sie physisch zu drangsalieren.

So wird die Frage zu wenig reflektiert, warum Böhmermann in einer von anwachsender Diskriminierung muslimischer Menschen bestimmten - und in Gestalt der AfD nach ihrer institutionalisierten Ausschließung verlangenden - gesellschaftlichen Atmosphäre zu Beleidigungen gegriffen hat, die den einschlägigen Webseiten der Islamhasser entsprungen sein könnten. Die Vorstellung, anstelle Erdogans wäre der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu zum Ziel einer öffentlich vorgetragenen - und in diesem Fall mit antisemitischen Stereotypien aufwartenden - Schmähkritik geworden, für die es zumindest aus palästinensischer Sicht Anlaß geben könnte, belegt, daß die satirische Verwendung rassistischer Klischees keineswegs beliebig ist. Daß die Errungenschaft der Straffreiheit politischer Meinungsbildung und Kunstproduktion in harten Kämpfen erstritten wurde, die stets aus unterlegener Position heraus geführt wurden, entspricht dem essentiellen Anspruch des Protestes in Wort und Bild, Menschen eine Stimme zu geben, die ansonsten keine haben.

Ob Böhmermann mit seiner Aktion den Finger in die Wunde der Abhängigkeit deutscher Regierungspolitik von Erdogans Kollaboration in der EU-europäischen Flüchtlingsabwehr legen wollte, bleibt indes offen. Gerade weil seine Provokation an die mit Kritik am türkisch-deutschen Zweckbündnis nicht sparende extra 3-Satire anknüpft, hätte er mit ganz anderen, politisch brisanten Überzeichnungen aufwarten können als mit Beleidigungen, die unter die Gürtellinie gehen. Weil diese nun im Mittelpunkt der Kontroverse stehen, wurde die Möglichkeit, die sich auch auf die Bundesrepublik erstreckende Verfolgung der türkischen Opposition in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses zu rücken, weitgehend vertan.

Aus unterlegener, schwacher und marginaler Position heraus zu agieren bedarf des besonderen rechtlichen Schutzes, gerade weil alle materiellen Gewaltverhältnisse dagegen stehen. So wäre es allemal eine Schmähkritik wert, wenn Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi einen Despoten hofiert, der Tausende politische Gefangene in den Knästen des Landes, politisch motivierte Todesurteile und die Unterdrückung nicht nur der muslimischen, sondern auch linken Opposition zu verantworten hat. Die willkommene Unterstützung, die al-Sisi von der Bundesregierung erhalten hat, nützt seinen Kritikern gar nichts, sondern vergrößert nur die Legitimation ihrer Verfolgung. Der Kolonialkrieg, den die türkische Regierung gegen die kurdische Bevölkerung führt, die Fortsetzung der autoritären Herrschaft Mubaraks in neuem Gewand, die Trümmerlandschaften in Afghanistan und im Irak, die israelische Besatzungspolitik in Palästina, die durch die Rohstoff-, Export- und Investitionsinteressen des globalen Nordens bedingte Vertreibung von Kleinbauern und indigenen Bevölkerungen in aller Welt - an all diesen Entwicklungen hat auch Deutschland teil, selbst wenn die Bundeswehr nicht auf jedem Schlachtfeld präsent ist.

Um so schwerer wiegt die Ausblendung der naheliegenden Erkenntnis, daß die militärische Flankierung deutscher Außen- und Handelspolitik Rückwirkungen auf die eigene Gesellschaft zeitigt, die den zwingenden Zusammenhang von äußerer Expansion und innerer Repression bestätigen. So steht außer Frage, daß die Gefahr terroristischer Anschläge in der Bundesrepublik mit dem Kriegseintritt der Bundeswehr in Syrien stark angewachsen ist. Sollte es zu einem mit den Anschlägen in Frankreich vergleichbaren terroristischen Angriff kommen, dann werden die Grenzen von der Staatsräson abweichender politischer Positionierungen, wie am französischen Beispiel zu sehen, auf jeden Fall enger gezogen. Die nach solchen Attacken anwachsende Repression ist denn auch keine, wie in Pegida-Kreisen gemutmaßt, Folge der angeblichen Islamisierung Europas, sondern eine direkte Konsequenz eigener Machtpolitik. Die kulturalistisch argumentierende Rechte ruft nach dem autoritären Staat nicht, um Muslime draußen zu halten, sondern sie mobilisiert antimuslimische Ressentiments, um diktatorische Maßnahmen zur Sicherung eigener Herrschaft ergreifen zu können. Den Primat der Meinungs- und Pressefreiheit ohne inhaltliche Bestimmung seines Zweckes gerade in Zeiten zunehmenden Risikos, sich außerhalb der nationalen Notgemeinschaft zu stellen, anzumahnen läuft mithin Gefahr, beim ersten Aufgebot notstandsartiger Zwangsmaßnahmen rückstandslos zu verpuffen.

18. April 2016


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