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KULTUR/0989: Ausweg Euthanasie? (SB)



Leben ist tödlich, und die Abkürzung in den Suizid zu nehmen steht jedem frei, läßt sich doch nichts verbieten, was de facto nicht zu sanktionieren ist. So weit, so selbstbestimmt. Dabei ärztliche Unterstützung in Form aktiver Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, steht bis heute im Schatten der massenhaften Vernichtung "unwerten" Lebens im NS-Staat. Diese Mordpraxis wurde eugenisch mit den Argumenten, erbbiologischen Schaden vom "Volkskörper" abzuhalten und angeblich überflüssige Menschen nicht mehr ernähren und pflegen zu müssen, begründet. Die eugenische Evaluation individuellen Lebens wurzelt in einem sozialdarwinistischen Nützlichkeitsdenken, das älter als das NS-Euthanasieprogramm ist und dessen Spuren sich bis in die Gegenwart verfolgen lassen, etwa als sozialeugenische Selektivität bei der Familienförderung. Eine auf individuellen Leistungs- und Statuskriterien orientierte Bevölkerungspolitik ist dem neoliberalen Kapitalismus schon deshalb eigen, weil er das Lebensrecht des Menschen unter den Primat einer betriebswirtschaftlichen Kosten- und Nutzenratio stellt, laut der nur essen soll, wer auch arbeitet.

Um gegenwärtige Praktiken der aktiven Sterbehilfe von dem Verdacht zu befreien, das Leben von Menschen einer utilitaristischen Logik zu unterwerfen, die das Individuum ins Verhältnis zu einem gesamtgesellschaftlichen Interesse setzt, das sich auf die Entscheidung des Arztes auswirkt, ob er einem Menschen zum Tode verhilft oder nicht, wurden in den Euthanasiegesetzen der Niederlande und Belgiens bioethische Kriterien formuliert, die eine solche Fremdeinwirkung verhindern sollen. Wie fragwürdig es ist, nicht in Rechnung zu stellen, daß auch schwerkranke Menschen sozialen und gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt sind wie etwa dem Gefühl, sich schuldig zu machen, wenn man längere Zeit Pflege in Anspruch nimmt, die man nicht bezahlen kann oder Angehörigen abverlangt, läßt eine im April veröffentlichte Studie [1] ahnen, in der die Anwendung der Euthanasie bei Patienten mit psychischen Störungen in Belgien und den Niederlanden untersucht wurde.

Wurde aktive Sterbehilfe einst nur Menschen im Endstadium schwerster, höchst schmerzhafter und unumkehrbar zum Tode führender Krankheiten gewährt, die zudem nicht mehr in der Lage waren, ihr Leben ohne fremde Hilfe selbst zu beenden, so belegt die heutige Praxis, sogar depressive und psychisch gestörte Menschen mit einer tödlichen Giftgabe in den Tod zu befördern, eine Art von Fortschritt der Medizin, die nicht beunruhigender sein könnte. Kein Psychiater kann mit unbezweifelbarer Sicherheit feststellen, ob ein depressives Leiden "unerträglich und unbehandelbar" ist, wie eines der bioethischen Kriterien verlangt, das erfüllt sein muß, um daran erkrankten Menschen Euthanasie zu gewähren. Auch die mit dem Patienten zu treffende Übereinkunft, daß es keine "vernünftige Alternative" [2] zur ärztlichen Tötung gibt, wirft Fragen auf, die nicht zuletzt gesellschaftlicher Art sind. So wurde in 37 der 66 untersuchten Fälle erwähnt, daß die Patienten unter sozialer Isolation oder Einsamkeit litten, und in Belgien zogen 38 Prozent der Patienten ihren Wunsch nach Euthanasie wieder zurück, bevor darüber befunden wurde [3].

41 Prozent der Ärzte, die in diesen Fällen Sterbehilfe ausführten, waren selbst Psychiater, was einem Offenbarungseid ihrer Profession gleichkommt. Sogenannte Persönlichkeitsstörungen als veritablen Anlaß anzuerkennen, in einem gesetzlich legalisierten und medizinisch exekutierten Verfahren trotz körperlicher Funktionstüchtigkeit getötet zu werden, müßte alle Alarmglocken hinsichtlich der möglichen Verselbständigung der Euthanasie und der Ausbildung einer Norm von "Lebenswert", die der kapitalistischen Verwertungslogik adäquat ist, schrillen lassen. So ist Euthanasie bei Demenzkranken in den Niederlanden erlaubt [4], wenn diese vor Eintreten der Erkrankung eine entsprechende Patientenverfügung verfaßt haben. Welche sozialen Faktoren auch innerhalb der Familie eine solche Entscheidung begünstigen können, ist leicht ersichtlich, wenn man die schwierigen ökonomischen und zeitlichen Umstände der Pflege dementer Familienmitglieder kennt. Gerade weil sich der Mensch unter diesen Umständen stark verändern kann, unterliegt der Vollzug dieser in einer ganz anderen Situation getroffenen existentiellen Entscheidung keiner kausalen Konsequenz.

Was sozialpolitisch und medizinisch alles getan werden könnte, um das Leben geistig oder körperlich schwerkranker Menschen zu erleichtern, wird um so weniger debattiert werden, je probater die Anwendung einer finalen Lösung erscheint. Schlimmer noch, im Fall der belgischen und niederländischen Euthanasieprogramme könnte die aktive Sterbehilfe noch dadurch begünstigt werden, daß insbesondere Menschen mit psychischen Problemen, die schon in jüngerem Lebensalter einen Todeswunsch äußern und deren Organe anders als etwa bei Krebspatienten wiederverwendungsfähig sind, für die Möglichkeit zu gewinnen wären, ihrem subjektiv gescheiterten Leben noch dadurch einen Sinn zu verleihen, daß sie Organe für die Transplantationsmedizin spenden. Die Idee, doch einmal über eine produktive Verbindung zwischen aktiver Sterbehilfe und Organspende nachzudenken, ist schon älter [5] und könnte neuen Auftrieb durch eine im März veröffentlichte Studie erhalten, in der die "Rechtlichen und ethischen Aspekte der Organspende nach Euthanasie in Belgien und den Niederlanden" [6] erörtert werden.

Dem Eindruck, widrigen und feindseligen Verhältnissen ohnmächtig ausgeliefert zu sein, wird durch das Angebot, beim Scheitern aller Hoffnungen auf Erfolg, Anerkennung und Liebe aufzugeben und zu sterben, auf fatale Weise positiv entsprochen. Wenn kapitalistisch vergesellschafteten Menschen der Lebenssinn schwindet, weil sie im Zirkelschluß von Produktion und Verbrauch keinen Platz mehr finden und die Geldlogik alles inklusive ihrer selbst zur Ware macht, dann muß ein schnelles Ableben, ob durch die eigene Hand oder die des Arztes, dennoch nicht die einzige Lösung sein. Statt dessen nach der Machbarkeit eines selbstbestimmten und freien Lebens zu fragen, wäre eine Möglichkeit, dem tödlichen Charakter dieser Verhältnisse ins Auge zu blicken und ihnen eine Absage zu erteilen. Nicht den Tod planen, sondern zu leben beginnen [7] -, daß es dazu nicht kommt und die Friedhofsruhe nicht gestört wird, könnte auch als tieferer Sinn des ärztlich verordneten Sterbens gedeutet werden.


Fußnoten:

[1] http://archpsyc.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=2491354

[2] http://www.sovhealth.com/mental-health/euthanasia-untreatable-mental-illness-raises-ethical-concerns/

[3] http://archpsyc.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=2491352

[4] https://www.government.nl/topics/euthanasia/contents/euthanasia-assisted-suicide-and-non-resuscitation-on-request

[5] http://blog.practicalethics.ox.ac.uk/2010/05/organ-donation-euthanasia/

[6] http://jme.bmj.com/content/early/2016/06/09/medethics-2015-102898?papetoc

[7] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1076.html

12. Juni 2016


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