Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KULTUR/1000: Das Fernsehtribunal tagt ... ARD im Ausnahmezustand (SB)



Alle grundrechtlich geschützten Bereiche enden irgendwo. Wo diese Grenzen sind, wie man die gegensätzlichen Interessen abgrenzt, ist Sache des Gesetzgebers.[1]

Bei der Debatte um das Luftsicherheitsgesetz ging es stets um mehr als den hypothetischen Fall eines terroristischen Anschlages im 9/11-Szenario. Bei der exekutiven Ermächtigung zur legalen Tötung eigener Bürger wie auch Zivilisten jeglicher Herkunft geht es um den Umbau der Republik zum autoritären Sicherheitsstaat, in dem wesentliche Entscheidungen zu Lasten besonders verletzlicher Minderheiten wie unmündig gemachter Teile der Bevölkerung nach dem Opportunitätsprinzip durchgesetzt werden können. Das bereits erfolgte Eindampfen grundrechtlicher Schutzgarantien auf einen "Kernbestand", so der in den Debatten um Wohnraumüberwachung und Vorratsdatenspeicherung gängige Begriff, kann gerade nicht als Beleg dafür verstanden werden, daß irgendwelche Rechtsbestände unantastbar wären, sonst ließe man von vornherein keine Relativierung vermeintlich eherner Rechte zu.

Von daher hat Wolfgang Schäuble, der zu den zentralen Akteuren des Angriffs auf die konstitutionellen Prinzipien der Bundesrepublik aus den Reihen ihrer administrativen Funktionseliten gehört, schon vor acht Jahren Klartext geredet. "Unveräußerliche" Grundrechte sind eine juridische Fiktion, die in der praktischen Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols keinen Platz haben, und das nicht erst seit dem völkerrechtswidrigen Kriegseintritt der Bundesrepublik in Jugoslawien 1999 und den Anschlägen des 11. September 2001. So fußt der Verweis auf einen "übergesetzlichen Notstand", den die rot-grüne Bundesregierung anführte, um das Luftsicherheitsgesetz 2004 auf die legislative Bahn zu bringen, auf dem 1968 durch die Verabschiedung der Notstandsgesetze dem Arsenal legalen Regierungshandelns hinzugefügten Verfassungsbruch. Der gesetzlich verankerte Ausnahmezustand nimmt aufgrund der Tragweite seiner Inanspruchnahme die Bedeutung eines konstitutiven Fundaments an, auf dem der Staat nach eigenem Ermessen über Leben und Tod entscheiden kann [2]. Die pragmatische Operationalisierung dieses Prärogativs souveräner Staatlichkeit durch die Befugnis, für den Spannungs- und Kriegsfall vorgesehene Notstandsvollmachten auch unterhalb der Schwelle ihrer parlamentarischen Mandatierung in Anspruch nehmen zu können, macht den Ausnahmezustand zur Regel, ändert aber nichts an seiner bürgerliche Rechtsansprüche negierenden Qualität.

Es liegt auf der Hand, daß diese exekutive Ermächtigung eine weit größere Bedrohung für Freiheit und Sicherheit der Bevölkerung darstellt als die damit angeblich abzuwehrenden Gefahren, was auch der bisherigen Position des Bundesverfassungsgerichtes entspricht. Solange einzelne Verfassungsorgane noch nicht konform gehen mit der Etablierung des autoritären Sicherheitsstaates, gibt es Handlungsbedarf nicht nur für die politischen Funktionseliten, sondern auch ihre Steigbügelhalter in den Medien. Wenn es darum geht, "die Handschuhe auszuziehen", wie sich die graue Eminenz der Bush-Regierung, Vizepräsidant Richard Cheney, in Sicht auf die Folterung sogenannter Terrorverdächtiger auszudrücken pflegte, dann hat selbst die ohnehin meist auf die Legitimation staatsautoritären Handelns abzielende Berufung auf den Rechtstaat ausgedient.

Denn das zur Legitimation physischer Aussageerpressung herangezogene Szenario einer "tickenden Zeitbombe", die zu entschärfen jedes Mittel rechtfertigt, also auch die Folterung in Administrativhaft genommener "Gefährder" mit möglicher Todesfolge, stand Pate bei dem in der ARD-Sendung "Terror" zu bester Sendezeit veranstalteten "Fernsehexperiment". In einer fiktiven Gerichtsverhandlung entschieden die Zuschauer darüber, ob ein Kampfpilot der Bundeswehr ein Flugzeug mit 164 Passagieren abschießen darf, um 70.000 Menschen in einem Sportstadion zu retten, oder dafür strafrechtlich belangt werden soll. Das bereits in über 500 Aufführungen erprobte gleichnamige Theaterstück des Schriftstellers und Anwaltes Ferdinand von Schirach erbrachte bisher in über 90 Prozent der Inszenierungen einen Freispruch des Piloten als Urteil des Publikums. Votierte das Theaterpublikum zu etwa 60 Prozent für Straffreiheit und zu 40 Prozent dagegen, erreichte die Quote der Zustimmung zum eigenmächtigen Abschuß der mutmaßlich als Bombe fungierenden Passagiermaschine am montäglichen Fernsehabend 86,9 Prozent der Zuschauer.

Ein schöner Erfolg für die Politikerinnen und Politiker, die die Bundesrepublik lieber gestern als heute kriegsbereit nach außen wie innen machen möchten. Des naheliegenden Einwandes eingedenk, daß jede Inszenierung ihre eigene manipulative Wirkung entfaltet, was in diesem Fall durch den Medienwissenschaftler Dietrich Leder [3] bestätigt wurde, war ein solches Ergebnis zu erwarten. Dank der massenmedialen Melange aus Sozialchauvinismus und Terrorabwehr tendiert die große Mehrheit zur Akzeptanz herrschender Sachzwanglogik, die mit der utilitaristischen Konsequenz, eine pragmatische Entscheidung des vermeintlich größeren Nutzens zu treffen, anstatt nach den Beweggründen für die Aufrechterhaltung prinzipieller Opposition gegen Staatswillkür zu fragen, auch dieses Mal ins Schwarze traf.

Lang, lang ist's her, daß der Informationsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch in letzterem Sinne verstanden und verwirklicht wurde. Die Verwandlung der ARD in einen Volksgerichtshof neuen Types, dessen Akteure jedes Vollzuges staatlicher Willkür unverdächtig sind, wenn sie hin und her überlegen, was alles für und gegen den Abschuß der Passagiermaschine spricht, ist ein integrales Element des sehenden Auges vollzogenen, aber kaum beim Namen genannten Staatsumbaus. Die mit "übergesetzlichem Notstand" legitimierte Präventivlogik dieses Abschusses macht Szenarien aller Art vorstellbar, in denen unter leicht zu konstruierenden Vorwänden mit massiver Gewalt gegen eine Bevölkerung vorgegangen wird, die sich etwa das Recht zur Durchführung politischer Streiks oder militanter Blockaden herausnimmt.

Warum all dies? Im Feuer krisenhafter Eskalation steht die Zukunft des Standortes Deutschland, die Hegemonie der Bundesrepublik in der EU und ihr erfolgreicher Aufbau zu einem militärischen Akteur von Rang. Die Zurichtung der Bevölkerung auf widerspruchslose Verfügbarkeit und Opferbereitschaft ist die Voraussetzung für die Erfüllung des nationalen Auftrags, der den Daseinszweck von Staat und Kapital zugleich begründet wie vollzieht. Nach den vielen Opfern in den globalen Verteilungskämpfen wird ebensowenig gefragt wie nach der Lebensqualität einer auf Handreichungen des Staates angewiesenen Armutsbevölkerung, die diese nur zum Preis, sich dem damit einhergehenden Zwang zu unterwerfen, in Anspruch nehmen kann. In dem zum nationalen Tribunal ausgebauten Fernsehgericht für die Anwendung staatlicher Gewalt stimmen zu dürfen macht auch die ganz unten lebenden Menschen zu Teilhabern an einem Gewaltmonopol, das wenn nicht sie, dann doch wenigstens diejenigen schützt, von deren Tellern mitunter einige Brocken herabfallen.


Fußnoten:

[1] Der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im Interview mit der Tageszeitung Die Welt (20. Januar 2008) anläßlich seiner Absicht, den Abschuß von Passagiermaschinen durch eine Grundgesetzänderung zu ermöglichen, der die Bundeswehr zum Einsatz im Innern ermächtigte.)

[2] REZENSION/216: G. Agamben - Ausnahmezustand (Politische Philosophie) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar216.html

[3] http://www.deutschlandfunk.de/fernsehexperiment-terror-frueher-wurde-das-publikum-belehrt.694.de.html?dram:article_id=368820

18. Oktober 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang