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KRIEG/1309: Konzept Kriegsverbrechen prinzipiell problematisch (SB)



Im Zusammenhang des Angriffs der israelischen Streitkräfte auf den Gazastreifen von Kriegsverbrechen zu sprechen, ist ebenso naheliegend wie problematisch. Angesichts der unerhörten Brutalität der Attacke, der verübten Greueltaten und der hohen Zahl getöteter und verletzter Palästinenser drängt sich der Gebrauch dieses Wortes geradezu auf, wenn man Entsetzen und Abscheu auf einen Begriff zu bringen versucht. Allerdings ist das Konstrukt des Kriegsverbrechens als solches fragwürdig, da es zwangsläufig eine nicht verbrecherische und damit gleichsam legitime oder zumindest weniger verwerfliche Kriegsführung als Regelfall impliziert. Bei diesem Einwand handelt es sich keineswegs um Haarspalterei, wie gerade die Leiden der Bewohner des Gazastreifens dokumentieren. Will man den Konflikt angemessen analysieren, kommt man ohne die Klassifizierung der Blockade als Teil oder Variante der israelischen Kriegsführung nicht aus. Es wäre nachgerade absurd, Abertausende an Hunger und Krankheit zugrunde gehender Opfer als Mittel friedlicher Auseinandersetzung einzustufen und prinzipiell von Bombardierung und Beschuß abzugrenzen. So wenig man verschiedene Stufen oder Grade militärischer Eskalation in einen Topf werfen und damit verschleiern darf, so wenig sollte man sich mit einem System von Recht und Unrecht anfreunden, in dem die Übermacht Definitionsgewalt besitzt und über das exekutives Potential verfügt.

Daher gilt es kritisch zu prüfen, ob sich die Vorwurfslage des Kriegsverbrechens nicht womöglich als Fessel erweist, die das eigene Denken und Handeln bindet, das damit seine Tauglichkeit als Werkzeug im Kampf gegen Okkupation und Invasion einbüßt. Kriegsverbrechen sind in hohem Maße mit Siegerjustiz assoziiert, da es stets einer überlegenen Gewalt bedarf, um ein Rechtswesen vorzuhalten. Da aber die Konstruktion von Recht nicht ohne den Anspruch auskommt, es müsse im Prinzip für alle gelten, ist namentlich im Fall überstaatlicher Tribunale der Konflikt unvermeidlich. Wenn die USA geltend machen, daß auf ihre Staatsbürger keine Weltgerichtsbarkeit Zugriffsmacht habe, während man sie sehr wohl und ausschließlich gegen feindliche Fraktionen in Stellung bringen will, ist das nicht ein Webfehler im System, der auszubessern wäre, sondern dessen prinzipielle Crux. Die Vorstellung und Forderung, es solle ein Weltgericht geben, vor dem alle gleich sind, krankt grundsätzlich am Fehlen einer überlegenen Gewalt, die diesen Zustand garantiert, ohne selbst davon zu Lasten anderer zu profitieren.

Vor diesem Hintergrund ist das Bestreben zu diskutieren, Staatsbürger Israels unter dem Vorwurf verübter Kriegsverbrechen zu verklagen. Im Prinzip wäre das vor einem israelischen Gericht, einem internationalen Tribunal oder in Staaten möglich, die im Rahmen ihrer Gerichtsbarkeit bei bestimmten Straftaten einen universalen Geltungsbereich beanspruchen. Da die ersten beiden Optionen wenig erfolgversprechend sind, dürften es wie schon in der Vergangenheit bestimmte europäische Länder sein, deren Gerichte Israelis gefährlich werden können. Rechtsvertretern der Palästinenser im Gazastreifen bleibt schlichtweg kaum eine andere Wahl, als diesen Weg in der Hoffnung zu beschreiten, Urteile gegen Kriegsverbrecher zu erwirken.

So leitete am 29. Januar ein spanischer Richter Ermittlungen wegen des israelischen Angriffs auf Salah Shehadeh von der Hamas im Jahr 2002 ein, bei dem vierzehn weitere Menschen, darunter neun Kinder, getötet wurden. Israels Minister für Infrastruktur, Benjamin Ben Eliezer, der damals Verteidigungsminister war und als einer von sieben Verdächtigen in dem Fall benannt wurde, bezeichnete das Vorgehens des Gerichts als unerhört: Terrororganisationen bedienten sich eines Systems, das von demokratischen Staaten ins Leben gerufen worden sei, und verklagten ausgerechnet ein Land, das den Terrorismus bekämpfe.

Dieses Erklärungsmuster Ben Eliezers unterstreicht, daß eine staatsübergreifende oder überstaatliche Gerichtsbarkeit in der Konsequenz immer nur einseitig die Interessen überlegener Mächte repräsentieren kann. Israel gehörte übrigens zu den ersten Ländern, das sich des Prinzips einer universalen Rechtsprechung bediente, als es Adolf Eichmann wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zum Tode verurteilte. Allerdings hat Israel den Vertrag zur Einsetzung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag nicht unterschrieben, was auf die Absicht verweist, sich keiner übergeordneten Rechtsprechung zu fügen.

Das schlimmste, was einem israelischen Soldaten in juristischer Hinsicht geschehen kann, wäre wohl eine Verurteilung in einem der wenigen europäischen Länder, die diese Option in ihrem Recht vorhalten. Er müßte dieses Land fortan meiden, wollte er nicht eine Festnahme riskieren. Allzu groß ist selbst diese Gefahr nicht, wie das Urteil eines belgischen Gerichts gegen Ariel Sharon im Jahr 2001 zeigte. Trotz einer höchstinstanzlichen Bestätigung hob das belgische Parlament diese Entscheidung später auf. So blieb die maßgebliche Verantwortung des früheren Premierministers für die Massaker des Jahres 1982 in den libanesischen Palästinenserlagern ungesühnt.

Hat sich nach dem Angriff auf die eingeschlossene Zivilbevölkerung in Gaza, dem Einsatz von weißem Phosphor, der Bombardierung von Ambulanzen, Universitäten, Moscheen und Wohnhäusern und damit einer Fülle von Hinweisen auf verübte Kriegsverbrechen im Sinne internationaler Konventionen etwas geändert? Die israelische Führung ist sich in dieser Hinsicht offenbar ihrer Sache nicht sicher, wie die heftige Propagandaoffensive und der vorsorgliche Schutz für die Militärs belegen. Sie sprach von einer politischen Hexenjagd und einem Medienkrieg gegen Israel. Premier Ehud Olmert richtete eine Sonderkommission ein, die internationale Klagen kontern soll. Alle Soldaten und Befehlshaber werden vor Anklagen geschützt. "Ich kenne keine ethischere und anständigere Armee als die Israel Defense Forces. Ich habe persönlich erlebt, und der Verteidigungsminister und der Chef des Stabes können das bestätigen, wie die Soldaten in vielen Fällen darauf verzichteten, Operationen auszuführen und Bomben von ihrem Kurs abbrachten, so daß sie keine Zivilisten verletzen - auch wenn sich die Terroristen unter der Zivilbevölkerung versteckten", erklärte Olmert dreist. Israel sei das eigentliche Opfer des Krieges und werde von der Hamas durch "eine Politik der moralischen Akrobatik" zum Täter gemacht.

Man muß sich nicht in die drohende Sackgasse einer Versteifung auf israelische Kriegsverbrechen stürzen, um in der Argumentation zuerst und vor allem auf die einfach und eindeutig zu beantwortende Frage zurückzukommen, wie im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern Stärke und Schwäche verteilt sind. Humanität, Gerechtigkeitsempfinden und Solidarität sollten dann nicht von Parteinahme zu trennen sein.

5. Februar 2009