Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KRIEG/1413: Ein Jahr nach dem Schulmassaker von Winnenden bleiben zentrale Fragen ungestellt (SB)



Ein Jahr nach dem Schulmassaker von Winnenden gibt man sich noch einmal betroffen, aber ignorant. Die extensive Berichterstattung zu dem Ereignis am 11. März in der Albertville-Realschule steht im umgekehrten Verhältnis zum Erkenntnisgewinn über die das Zustandekommen dieses und ähnlicher Gewaltexzesse. Allein die Tatsache, daß die Sprachregelung vom "Amoklauf" das mediale Feld nach wie vor beherrscht und der Wikipedia-Eintrag zu dem Ereignis mit "Amoklauf von Winnenden" überschrieben ist, spricht nicht gerade für eine um Aufklärung bemühte gesellschaftliche Verarbeitung dieser Gewalttat. Der aus dem Malaiischen stammende Begriff "Amok" bezeichnet blindwütige Gewalttaten, die meist spontan und unprovoziert erfolgen und deren Urheber als unzurechnungsfähig gelten.

Der Attentäter von Winnenden hingegen mag seine Tat nicht langfristig geplant haben, hat jedoch kalt und überlegt gehandelt, wie die Geschichte des Schulmassakers und seiner daraufhin erfolgenden Flucht belegt. Der 17jährige Tim Kretschmer hat in einem Zeitraum von dreieinhalb Stunden bei diversen Gelegenheiten 15 Menschen erschossen und 13 verletzt. Insbesondere die Schießereien, die er sich auf seiner Flucht mit der Polizei lieferte, ließen alles andere als ein von blanker Wut getriebenes, unachtsames Vorgehen erkennen. Der Jugendliche war ein guter Schütze, wie die gezielte Ermordung fast ausschließlich weiblicher Personen in der Schule und die schweren Verletzungen, die zwei Polizeibeamte davontrugen, belegen. Daß die meisten seiner Opfer mit gezielten Kopfschüssen aus einer Handfeuerwaffe regelrecht hingerichtet wurden, ist Merkmal eines kaltblütig angerichteten Massakers und keiner aus blindwütiger Rage erfolgten Gewalttat.

Auch wenn man über die Motive Kretschmers nur spekulieren kann, so wäre es in Anbetracht der von ihm und eventuellen Nachahmern ausgehenden Gefahr allemal geboten, zumindest dies zu tun. So soll sich der Attentäter von Winnenden in einer ihm zugeschriebenen Aussage, die er kurz vor der Tat in einem Chatroom gemacht hat, darüber beschwert haben, daß ihn alle auslachten und niemand sein Potential erkenne. Auch bei den Urhebern anderer Schulschießereien fiel auf, daß sie meist nicht zu den beliebten und erfolgreichen Schülern gehörten. In einer gesellschaftlichen Situation, in der Kinder und Jugendliche immer früher auf die sie erwartende Überlebens- und Karrierekonkurrenz zugerichtet werden, in der Mitschüler aus armen Familien und anderweitig benachteiligte Personen als "Loser" verlacht werden, besteht ein solcher Mangel an solidarischem Verhalten, daß dementsprechende Rachemotive der Attentäter nicht erstaunen können. Der gesellschaftliche Hintergrund der Tat bleibt jedoch bis heute unterbelichtet, relevante Fragen zum Zusammenhang sozialer Überlebenskonkurrenz und jugendlicher Gewaltbereitschaft könnten ja unangenehme Antworten zur Folge haben.

Mit grober Mißachtung gestraft wurde auch die Tatsache, daß sich unter den Opfern des geübten Schützen, die er beim Besuch seiner früheren Schule gezielt ermordete, acht Schülerinnen und drei Lehrerinnen befanden, aber nur ein Schüler. Nach allem, was über seinen familiären Hintergrund bekannt wurde, handelt es sich bei dem Vater des Attentäters um einen ausgesprochenen Patriarchen, der seinem Sohn frühzeitig den hohen Wert männlicher Dominanz einbleute. Wenn ein solcher Jugendlicher, von seinem Vater und den Ausbildern im Schützenverein im kundigen Umgang mit Handfeuerwaffen offensichtlich gut unterrichtet, fast ausschließlich Frauen erschießt, wäre dies schon einige Überlegungen zum spezifisch maskulinen Charakter seiner Gewalttat wert.

Die Affinität männlicher Jugendlicher zu allem, was mit Waffen und Militär zu tun hat, ist in einem Staat, dem die aggressive Kriegführung ein Mittel der Außenpolitik ist, allemal erwünscht. Die Bundeswehr wirbt an den Schulen um Nachwuchs, und das nicht zuletzt mit Hilfe der Faszination, die von mörderischem technischen Gerät insbesondere auf männliche Jugendliche ausgeht. Sogenannte Killerspiele sind in diesem Zusammenhang bloße Begleiterscheinung einer generellen Militarisierung der Jugend, der man nicht verdenken kann, wenn sie den Unterschied zwischen Kampfeinsatz und Zivilgesellschaft, den zu machen selbst gestandenen Kriegsveteranen schwerfällt, wie die hohe Zahl von Gewalttaten unter US-Kriegsheimkehrern zeigt, nicht wirklich vollziehen kann.

Sich in der Welt mit kriegerischen Mitteln zu behaupten und die Militarisierung der eigenen Gesellschaft gehen Hand in Hand, ansonsten wären demokratische Staaten nicht in der Lage, überhaupt offensiv Krieg zu führen. Während der Bluttat von Winnenden traf die Landesregierung Baden-Württembergs Vorkehrungen für das NATO-Gipfeltreffen, das am 3. und 4. April 2009 in Baden-Baden, Kehl am Rhein und Strasbourg stattfinden sollte. Der Stuttgarter Innenminister Heribert Rech schwadronierte über angeblich "schwer bewaffnete" Demonstranten, die er für die fragliche Zeit "wegsperren" wollte. Rech versprach, bei der Durchführung dieser Präventivmaßnahme "nicht zimperlich" zu sein, was sich auf deutscher Seite letztlich darin ausdrückte, daß demokratischer Protest gegen das Kriegsbündnis praktisch unmöglich gemacht wurde.

Während Menschen, die gegen ein schwerbewaffnetes Militärbündnis, das afghanische Zivilisten auf dem Gewissen hat, demonstrieren wollten und durch allerlei Schikanen staatlicher Behörden daran gehindert wurden, warf sich ein Jugendlicher aus gutbürgerlichem Haus in einen schwarzen Kampfanzug nach Art der Bundeswehr-Sondereinheit Kommando Spezialkräfte (KSK), die zuletzt durch ihre Beteiligung am Massaker von Kundus von sich reden machte, zog sich eine schußsichere Weste über, steckte eine nicht für Jagd und Sport, sondern das Töten von Menschen konzipierte Handfeuerwaffe sowie reichlich Munition ein und begab sich auf Killertour. Nach der Tat demonstrierte man Fassungslosigkeit über diesen angeblich unverständlichen Ausbruch von Gewalt aus dem gutbürgerlichen Milieu einer süddeutschen Kleinstadt heraus.

Die Mordlust Tim Kretschmer richtete sich insbesondere gegen Frauen, bei der Tat legte der Jugendliche eine Kaltblütigkeit an den Tag, die seinen KSK-Vorbildern, denen er sich bis auf die Gesichtsmaskierung anglich, zur Ehre gereichte, er bediente sich einer großkalibrigen Pistole, die zur Standardausrüstung der US-Armee gehört und breite Verwendung unter den Sicherheitskräften des Landes hat. Man könnte auch sagen, daß der Schütze ganz im Gegenteil zum unterstellten Amoklauf auf eine Weise tötete, die ihn bei normaler Fortsetzung seiner bürgerlichen Karriere zu einem Wunschkandidaten der Rekrutierungsoffiziere militärischer Spezialeinheiten gemacht hätte. Sein Vorgehen war von der Fähigkeit eines gezielt und überlegt vorgehenden Soldaten gekennzeichnet, eine Fähigkeit, die in sogenannten postheroischen Gesellschaften wie der Bundesrepublik zum Leidwesen der Militärs immer seltener anzutreffen ist. In welchem Zusammenhang Mordtaten an Schulen und Mordtaten in Kriegen stehen, wäre in Anbetracht der nicht nur bei Tim Kretschmer, sondern der auch bei anderen Schulattentätern festgestellten Affinität zum militärischen Einzelkämpfertum schon eine Untersuchung wert.

11. März 2010