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KRIEG/1438: Guttenberg verlangt überprüfbare Kriterien für Kriegführung der NATO (SB)



Das International Institute for Strategic Studies (IISS) in London ist einer der führenden transatlantischen Think Tanks zu sicherheitspolitischen Fragen. Am 28. Juni 2010 hielt der deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg die seit 1976 regelmäßig gehaltene prestigeträchtige Alastair Buchan Memorial Lecture [1], ohne daß dies hierzulande besondere Beachtung fand. Was der CDU-Politiker unter der Überschrift "Security Today and Tomorrow" zu sagen hatte, läßt Rückschlüsse darauf zu, daß die Einstellung der Bundesregierung zum Afghanistankrieg weit negativer ist, als in öffentlichen Verlautbarungen eingestanden wird.

Während Guttenberg mit der Klage darüber, wie schwierig die sogenannte Afghanistan-Mission der deutschen Bevölkerung zu "verkaufen" sei, bei NATO-Politikern und Kriegsplanern offene Türen einrannte, dürfte sein Vorschlag, künftige Kriegseinsätze der NATO strikteren Kriterien zu unterwerfen, nicht bei allen Verbündeten auf Zustimmung gestoßen sein. Wie problematisch die politische Legitimierung von Kampfeinsätzen der Bundeswehr ist, gestand Guttenberg bereits an anderer Stelle ein. So sei es "unbestreitbar wichtig, dass man Kindern hilft, dass man Frauen hilft in ihren Rechten und all jenem. Aber das waren Gründe, die wir ... nachgeschoben haben, um in schwierigen Momenten auch mal eine Anerkennung unserer Bevölkerung zu bekommen" [2].

Um so plausibler erscheint der Versuch, bei weiteren Militärinterventionen im Vorfeld so umfassend zu planen, daß ein erfolgreicher Verlauf zumindest wahrscheinlicher ist als in Afghanistan. Guttenberg verlangt, daß man erst in Aktion treten solle, wenn "große und unmittelbare Gefahr für ein anderes NATO-Mitglied" drohe. Dies war dort nicht der Fall, ging doch von den regierenden Taliban keineswegs die Gefahr eines Angriffs auf einen NATO-Staat aus. Al Qaida wiederum dürfte, wenn die Behauptung der US-Regierung, die Organisation sei für die Anschläge des 11. September 2001 verantwortlich, überhaupt zutrifft, kaum in der Lage gewesen sein, derartige Aktionen in absehbarer Zeit zu wiederholen. Das schmale Feigenblatt angeblicher Selbstverteidigung, hinter dem die USA diesen Krieg führten, stand in eklatantem Widerspruch zu den gegen die Taliban gerichteten Planungen, die vor dem angeblichen Kriegsgrund in den Schubladen des Pentagon lagen. Angebote der Kabuler Regierung, die der Anschläge bezichtigten Al Qaida-Mitglieder bei Vorlage von Beweisen an ein Drittland auszuliefern, wurden von der US-Regierung ebenso ignoriert, wie es zu einer überprüfbaren Beweisführung hinsichtlich der von ihr präsentierten Täterhypothese niemals kam. Kurz gesagt, die Bush-Administration löste das Problem, eine ihren geostragischen Interessen dienende Aggression zu "verkaufen", mit durchsichtigen Vorwänden, die bei der NATO zwar niemanden überzeugten, aber dennoch aus bündnispolitischer Opportunität erstmals den bis heute andauernden Bündnisfall auslösten [3].

In Anbetracht des unwahrscheinlichen Falls, daß das mächtigste Militärbündnis der Welt von einem Staat direkt angegriffen wird, ist Guttenbergs Drängen auf einen veritablen Kriegsgrund kaum anders denn als Kritik an seinem nichtvorhandenem Vorliegen im Fall Afghanistans zu verstehen. Terroristische Anschläge, selbst wenn sie in einer Dimension wie im Falle des World Trade Centers und des Pentagons erfolgten, zu einer kriegerischen Aggression schattenhafter Akteure zu erklären, um einen Staat anzugreifen, den man bereits zuvor mit dem Ziel eines Regimewechsels unter Druck gesetzt hatte und der schlimmstenfalls mittelbar für diese vermeintliche Angriffshandlung verantwortlich zu machen war, ist ein eklatanter Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot.

Dies beim Namen zu nennen wäre, selbst wenn Guttenberg mit dieser Sicht auf die Geschichte des Afghanistankriegs konform ginge, was kaum anzunehmen ist, ein Ding der Unmöglichkeit. Überhaupt auf das Vorliegen veritabler und überprüfbarer Gründe für den Bündnisfall zu drängen läuft auf den Versuch der Bundesregierung hinaus, eine präventive Exit-Option vor dem Eintritt in kriegerische Eskalationen, die ohne ersichtlichen strategischen Gewinn für die deutschen Eliten sind, zu erwirtschaften. Hier ist insbesondere an den Iran zu denken, an dessen Isolation die Bundesrepublik in einem solchen Ausmaß beteiligt ist, daß sie als designierte Kriegspartei gelten kann. Dies widerspricht nicht nur deutschen Außenhandelsinteressen, sondern eröffnet die Aussicht darauf, in ein militärisch höchst gefährliches Unterfangen eingebunden zu werden, dessen negative Rückwirkungen auf die Bundespolitik die des Afghanistankriegs bei weitem überstiegen.

Auch Guttenbergs beim IISS erhobene Forderung nach einem "klar definierten politischen Ziel" künftiger NATO-Einsätze darf als kaum verhohlene Kritik an den wechselnden Dispositiven verstanden werden, mit denen die US-Regierung erklärt, warum sie 100.000 US-Soldaten nach Afghanistan entsandt hat. In Anbetracht der von ihren Geheimdiensten attestierten Bedeutungslosigkeit der wenigen in Afghanistan noch vermuteten Al Qaida-Mitglieder hat sich der von Anfang an unglaubwürdigste Angriffsvorwand längst erledigt, auch wenn US-Präsident Barack Obama ungerührt behauptet, man bekämpfe dort den internationalen Terrorismus, damit man es nicht in den USA selbst tun müsse. Diese auch von deutschen Politikern, die die Dummheit der Bürger ebenso überschätzen wie die eigene Klugheit, nach wie vor vertretene Behauptung sollte durch Nation Building unterstützt werden. Die Demokratisierung der afghanischen Gesellschaft und der Wiederaufbau des Landes leiden jedoch so sehr unter den Folgen der militärischen Besatzung, daß sie kaum mehr als ernstzunehmendes politisches Ziel plausibel zu machen sind.

Die Widersprüche dieses Vorhabens hätte man zweifellos im Vorfeld antizipieren können. Das unterstellte jedoch, daß die erklärten Ziele den praktisch verfolgten Absichten entsprächen. Wie der Sturz des Altbundespräsidenten Horst Köhler über die Formulierung einer strategischen Ratio der deutschen Kriegführung, die lange vor seiner Stellungnahme offiziellen Regierungsdokumenten zu entnehmen war, gezeigt hat, kann die Diskrepanz zwischen Legitimation und Motivation der Kriegführung von Staaten, deren Verfassungen die Einhaltung des humanitären Völkerrechts verlangen, durchaus programmatischer Art sein. Guttenberg läßt die rechtliche Bindung der Regierungspolitik bei der politischen Bestimmung möglicher Kriegsziele nicht zufällig unerwähnt, wäre dieser Widerspruch doch Wasser auf die Mühlen aller Kritiker, die der Bundesregierung seit jeher die Beteiligung an einem völkerrechtswidrigen Krieg anlasten. Es kann keine öffentlich darstellbare politische Zieldefinition geben, die, wie es Köhler in Euphemismen nationalen Interesses umschrieben hat, räuberischen Absichten gewidmet ist, ohne daß die politischen Gegner auf den Plan gerufen würden.

Guttenbergs in London erhobene Forderung, die NATO solle nur militärisch aktiv werden, "wenn es keine Alternative gibt", sollte im Grund genommen selbstverständlich sein. Sie dennoch zu erheben ist nicht nur als Kritik an der Entscheidung der Bush-Regierung zu verstehen, den Krieg in Afghanistan überhaupt begonnen zu haben, sondern auch als Versuch, die Entscheidungsprozesse der NATO stärker deutscher und EU-europäischer Einflußnahme zu öffnen. Auch in diesem Fall dürfte die Eskalation im sogenannten Atomstreit mit dem Iran Pate gestanden haben, hat die Bundesregierung doch bisher die Sprachregelung vorgehalten, daß dieser Konflikt mit friedlichen Mitteln gelöst werden sollte. Daß sie diesem Vorsatz bereits untreu geworden ist, indem sie ein Sanktionsregime unterstützt, das die Möglichkeit zur Erwirtschaftung eines Vorwands für einen Angriff auf das Land erheblich vergrößert, ändert nichts daran, daß sie ihre Karten bedeckt hält, um im Zweifelsfall aussteigen zu können.

Guttenbergs viertes Kriterium, das zu prüfen er der NATO vor dem Beginn von Kriegshandlungen empfiehlt, treibt die Beschwerde, man habe vorher unzureichend geplant, auf die Spitze. Einen Krieg nur dann zu führen, "wenn die Möglichkeit des Erfolgs von Anfang an gegeben ist", versteht sich so sehr von selbst, daß die Mißachtung dieses Vorsatzes nur als Akt besonderer Dummheit erscheinen kann. Selbstverständlich ist die Bush-Regierung davon ausgegangen, ihre strategischen Ziele in Afghanistan erreichen zu können, und es ist auch nicht ausgeschlossen, daß die Obama-Administration es schaffen wird, einige große Garnisonen im Land zu belassen. Nicht zu vergessen ist, daß die Absicht der Bundesregierung, Afghanistan zu befrieden, nicht das Maß aller geostrategischen Vernunft sein muß. Die langfristige Destabilisierung ganzer Regionen kann, wie das Beispiel Irak zeigt, ihre eigene Ratio haben, indem der Zugang konkurrierender Staaten zu Rohstoffen behindert, die Formierung neuer Hegemonialmächte oder Bündnissysteme unterbunden oder der Schutz eines Verbündeten durch die Schwächung seiner Gegner erwirkt wird.

Der Auftritt des deutschen Verteidigungsministers bei der führenden britischen Strategieschmiede dürfte all jenen Mitgliedstaaten der NATO gefallen haben, die ihre Truppen lieber heute als morgen aus Afghanistan abzögen. Die Hauptakteure des Krieges, die USA und Britannien, sehen sich hingegen mit einer Ratio der Kriegführung konfrontiert, die die eigene Handlungsgewalt eher einschränkt denn erweitert. Es ist ein Grundzug US-amerikanischer Eroberungspolitik, sich beim Zerstören nicht allzuviele Gedanken darüber zu machen, wie man die Besiegten anschließend für eine Zusammenarbeit gewinnt, die nicht in neue Feldzüge führt.

Guttenberg hat mit der Formulierung überprüfbarer Kriterien für Miltärinterventionen der NATO klargestellt, daß die Bundesrepublik an nicht siegreich verlaufenden Kriegen unbeteiligt bleiben will. Um dennoch den Eindruck zu erwecken, konstruktiv an der Existenzsicherung der NATO mitzuarbeiten und es gar nicht erst zu Fehlschlägen wie in Afghanistan kommen zu lassen, will er die Kriegstauglichkeit des Militärbündnisses optimieren. Indem er auf mehr Einflußnahme für mittlere und kleinere Mitgliedstaaten der Allianz pocht, stärkt er die Stellung der Bundesrepublik im NATO-Rat bei Entscheidungen, die nicht im Sinne Washingtons und Londons sind. Damit vollzieht die Bundesregierung eine vorsichtige Absetzbewegung aus der Verpflichtung, die ihr aus dem Bekenntnis zur transatlantischen Achse erwächst. Die geringe Resonanz, die Guttenbergs Rede hierzulande hat, legt nahe, daß es sich eher um einen Testballon denn eine ausformulierte Planung deutscher Hegemonialpolitik handelt.

Fußnoten:

[1] http://www.iiss.org/conferences/alastair-buchan/alastair-buchan-lecture-2010/

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/ossie611.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1433.html

6. Juli 2010