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KRIEG/1512: Definitions- und Gewaltmonopol der NATO zerstört jede soziale Emanzipation (SB)



Was verteidigt der ehemalige Kommandeur des Allied Joint Force Command bei der NATO, General Egon Ramms, wenn er gegenüber dem Deutschlandfunk glauben macht, "dass beispielsweise Länder wie Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten von Amerika auch sehr großen Wert darauf legen, sich mandatskonform zu halten." Ramms dementiert die Frage nach Bodeneinsätzen französischer oder britischer Streitkräfte in Libyen mit der Behauptung, daß "sich keine dieser genannten Nationen erlauben" könne, "irgendwo weltöffentlich an den Pranger gestellt zu werden, gegen ein Mandat der Vereinten Nationen zu verstoßen, weil man mit den Vereinten Nationen entsprechend zusammenarbeitet und weil man ja auch in allen anderen Situationen (nehmen Sie Afghanistan, Operation Enduring Freedom, oder ISAF) unter dem entsprechenden Mandat der Vereinten Nationen arbeitet." [1]

Aufgekommen war die Frage nach einem Bericht des Daily Telegraph, der unter Berufung auf Quellen im britischen Militär behauptet hatte, Spezialstreitkräfte der SAS hätten bei der Eroberung von Tripolis eine entscheidende Rolle gespielt. Zudem war schon zu Beginn des Krieges die Anwesenheit britischer wie französischer Sicherheitskräfte ruchbar geworden. Ein NATO-Vertreter hielt sich gegenüber dem Internet-Portal EUobserver bedeckt und erklärte am 29. August lediglich, für den Fall, daß NATO-Mitgliedstaaten Sondereinheiten in Libyen einsetzten, diese "unter nationalem Kommando und nicht unter dem der Nato" stünden [2].

General Ramms irrt, wenn er meint, nicht nur die NATO, sondern auch die unter ihrem Schirm agierenden Streitkräfte der Mitgliedstaaten könnten sich keinen Verstoß gegen das Mandat des UN-Sicherheitsrates erlauben. Abgesehen von der völkerrechtlichen Fragwürdigkeit der Resolution 1973 selbst, die eine humanitäre Intervention in einen Bürgerkrieg auf der Basis einer rhetorischen Drohung veranlaßte, hat die NATO mit dem gezielten Versuch, den Machthaber Muammar al Gaddafi umzubringen, den Rahmen jeglicher dem Mandat zugrundeliegenden "Schutzverantwortung" (R2P) verlassen. Auch der Bruch des in Resolution 1973 verankerten Waffenembargos durch die Aufrüstung der Rebellen, der Angriff auf den libyschen Staatssender, die Bombardierung ziviler Einrichtungen unter dem Vorwand, sie würden durch das libysche Militär mißbraucht, die ausschließlich als aggressive Kriegshandlung zu wertenden Kampfeinsätze auf der Seite gegen die Regierungstruppen vorstoßender Rebellen sind alles andere als defensive Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung. Diese selbst hat einen hohen Blutzoll in diesem Krieg erbringen müssen, nicht nur dadurch, daß die NATO den Rebellen, die den Regierungstruppen weit unterlegen waren, zum Sieg verhalf und einen möglicherweise schnell niedergeschlagenen Aufstand in einen langwierigen Krieg verwandelte. Zivilisten wurden auch Opfer von Bombardierungen durch die NATO, die den Rebellen mit derartigen Zerstörungsakten das Feld ihres Vormarsches bereitete.

Aufgabe der NATO war es nicht, einen gerechten Krieg für Freiheit und Demokratie zu führen. Dieses in ihren Mitgliedstaaten politisch und medial inszenierte Bild hat jedoch maßgeblich dazu beigetragen, daß die Frage nach der Legalität dieser Kriegführung eine Fußnote der damit angeblich vorangetriebenen Modernisierung der arabischen Welt bleiben wird. Den Einsatz britischer und französischer Spezialstreitkräfte auf der Seite der Rebellen als rechtlich fragwürdig zu debattieren, weil eine ausländische Besatzungsmacht auf libyschem Territorium laut Resolutionen 1973 "in jeglicher Form ausgeschlossen" wird, arbeitet der mit diesem Krieg erwirtschafteten Ausweitung der Gründe und Motive, unter denen die NATO souveräne Staaten angreift, so oder so zu. Vor dem Hintergrund der prinzipiellen Parteinahme der Militärallianz in einem Bürgerkrieg, der in einem Staat außerhalb des Bündnisgebiets stattfindet, verkommen Detailfragen wie diese zu kasuistischen Ablenkungsmanövern, mit Hilfe derer eine längst überwundene Rechtmäßigkeit suggeriert wird.

Zentral für die Legalität der Aufklärungs- und Kampfeinsätze der NATO ist die Auslegung des Auftrags, die Zivilbevölkerung zu schützen. Indem de facto geltend gemacht wird, man müsse den libyschen Machthaber umbringen, um die Bürger des Landes vor ihm zu schützen, indem explizit behauptet wird, man habe den libyschen Staatssender angreifen müssen, um zu verhindern, daß Gaddafi die Bevölkerung zum Widerstand gegen die NATO und die Rebellen anstachelt, macht sich die NATO ein Definitionsmonopol zu eigen, das sich vom absoluten Wahrheitsanspruch eines religiösen Führers oder politischen Diktators in nichts unterscheidet. Wir sind die Guten, die die Bösen vernichten müssen, um die Guten zu schützen, lautet die Quintessenz des moralischen Imperativs, der die Exegese des UN-Mandats bis zur Totalität des uneingeschränkten Gewaltprimats treibt.

Gegen diesen zivilreligiösen Anspruch auf die moralische Integrität der eigenen Gewaltanwendung ist kein Kraut argumentativer oder juristischer Art gewachsen. "Might makes right" lautet die englische Kurzformel für die Rechtmäßigkeit absoluter Macht, die nicht korrumpiert, weil der Anspruch auf historische Wahrheit, von dem aus diese Korrumpierung zu bestimmen wäre, dem Primat absoluter Macht immanent ist. Das Verhältnis von Legalität und Legitimität wird durch den von den Regierungen der NATO-Staaten gesetzten Ausnahmezustand des Krieges bestimmt. So verläuft eine gerade Linie von der Sippenhaft für die Familie Gaddafis bis zur Kriminalisierung dagegen protestierender Antimilitaristen. Die legalistische Suprematie des Deutungsmonopols beruht auf dem Ausnahmezustand, der mit der Willkür, für einen bewaffneten Aufstand gegen eine souveräne Regierung Partei zu ergreifen, also den Bürgerkrieg zu internationalisieren, de facto in Kraft getreten ist. Das öffnet weiteren Willkürmaßnahmen wie zum Beispiel der von der US-Regierung praktizierten unbefristeten Administrativhaft für sogenannte Terrorverdächtige Tür und Tor. Wie im Ausnahmezustand, frei nach Giorgio Agamben, das Recht mit rechtlichen Mitteln außer Kraft gesetzt und der Regierung diktatorische Exekutivgewalt an die rechtlich nach wie vor integre Hand gegeben wird, so erwirtschaftet die NATO aggressive Handlungsfähigkeit mit der Unterstellung eines Sachzwangs, der sie lediglich auf die Aggression eines anderen Akteurs reagieren lasse.

General Ramms versucht ganz im Sinne der deutschen Eliten, die Legalität eines Militärbündnisses zu schützen, von dem alle Welt spätestens seit dem Überfall auf Jugoslawien weiß, daß es sich selbstherrlich über die Bindekraft seiner vertraglichen und rechtlichen Grundlagen hinwegsetzt. Nicht die Einhegung der Gewalt der NATO durch geltendes Recht, sondern die Anpassung dieses Rechts an die Interessen der NATO-Staaten ist die reale Folge des auch in Libyen in Anspruch genommenen Definitionsmonopols. Die NATO schützt Unschuld vor und appelliert an die übergeordnete Instanz des Rechts, um die Schuldfrage in der operativen Praxis mit dem ultimativen Argument der Stärke zu beantworten.

So werden Legalität und Legitimität kriegerischen Handelns wie in einem geschlossenen System selbstreferentiell bestätigt, um die Bedrohung jeglicher demokratischer Entwicklung, die von dem in eins gesetzten Definitions- und Gewaltmonopol der NATO ausgeht, mit dem schönen Schein der moralischen Letztbegründung zu überblenden, daß "wir" nun einmal die Guten sind. Über diesen Militärapparat, dessen demokratische Legitimation auf einer von der geostrategischen Realität längst überholten Vertragsgrundlage basiert, artikuliert sich der Wille zur Tat, zur Unterwerfung gesellschaftlich verhandelter Verhältnisse unter die Ratio einer Sachzwanglogik, die im Kern die Interessen herrschender Eliten spiegelt.

In der krisenhaften Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems geht die Adaption des ökonomischen Sachzwangs zu Lasten aller menschlichen Belange, deren Gültigkeit in den verfassungsrechtlichen Grundlagen zivilen Handelns verankert ist. Der libyschen Zivilgesellschaft wurde nicht, wie behauptet, zur Blüte im arabischen Frühling verholfen. Dazu hätte sie sich aus eigenem Antrieb konstituieren und gegen jegliche äußere Einmischung durch Staaten, die stets Eigeninteressen verfolgen, verwahren müssen. Der Pakt der Rebellen mit der NATO hat die Basis dafür geschaffen, an Libyen ein Exempel zu vollziehen, das sozialer Emanzipation eine Absage erteilt, weil diese in Anbetracht herrschender Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse revolutionär zu sein hat. Ein Regimewechsel unter Oligarchen ist alles andere als das, und nichts anderes findet mit Waffenhilfe der NATO in Libyen statt.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1538949/

[2] http://de.rian.ru/politics/20110829/260329838.html

30. August 2011