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KRIEG/1626: Blinder Fleck Jugoslawienkrieg - Völkerrecht à la carte (SB)




Die Einsicht kommt spät, sie hat nicht zuletzt berufliche Gründe, doch das macht sie in der jetzigen Situation nicht weniger bedeutsam. 15 Jahre nach dem Überfall der NATO auf Jugoslawien gesteht Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder ein, mit der Beteiligung der Bundesrepublik an diesem Krieg das Völkerrecht "formal" [1] gebrochen zu haben. Der Gazprom-Manager bezeichnete den Kosovo als "Blaupause" für das, was derzeit auf der Krim geschehe, und erinnerte so daran, wie brüchig die Berufung auf die Charta der Vereinten Nationen durch diejenigen ist, die sie nicht nur im Falle Jugoslawiens ignoriert haben. Gebrochen wurde mit diesem Krieg auch der 2+4-Vertrag vom 12. September 1990, der dem Anschluß der DDR an die BRD vorausging und dem vereinten Deutschland völlige militärische Enthaltsamkeit auferlegte, "es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen".

Die war angesichts des grundgesetzlichen Verteidigungsauftrags, der Kriegshandlungen außerhalb eines Angriffs auf das eigene Staatsgebiet wie außerhalb des Bündnisgebiets der NATO untersagte, keinesfalls gegeben. Angesprochen auf dieses Eingeständnis Schröders erklärte der CDU-Politiker Elmar Brok, als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments Verhandlungspartner der gestürzten ukrainischen Regierung in Sachen EU-Assoziierungsabkommen wie Unterstützer des Regimewechsels, der bei Nichtunterzeichnung des Vertragswerk fällig wurde, daß man im Kosovo "einen Völkermord verhindern wollte und dass man deswegen eingeschritten ist, im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen, nicht mit Beschluss der Vereinten Nationen" [2]. Dies sei in der Ukraine ganz anders, es gebe "keine Verfolgung der russischstämmigen Bevölkerung, keine Diskriminierung der russischstämmigen Bevölkerung, und aus diesem Grunde ist dieser Vergleich nun wirklich komplett falsch und nicht hinnehmbar und zeigt, glaube ich, das völlige Unverständnis von Gerhard Schröder für die Situation und für die Wünsche nach Freiheit in der Ukraine."

Es bedarf schon des über die Maßen hochgehängten, noch während des Jugoslawienkriegs 1999 von den Regierungen der NATO-Staaten nicht mehr erhobenen und auch anschließend niemals belegten Genozidvorwurfs, um die von einigen der Putschisten des "Euromaidan" ausgehende Gefährdung der russischstämmigen Bevölkerung zu leugnen. Die in allen Belangen militanter Durchsetzung tonangebende neofaschistische Partei Swoboda und die Organisation Rechter Sektor sind bekannt für einen russophoben Kulturrassismus, der sich in der Ablehnung der russischen Sprache, der Zerstörung von Lenin-Statuen und einem völkischen Nationalismus ausdrückt, als dessen positive Vorbilder antisemitische Kollaborateure von Wehrmacht und SS verehrt werden. So hat der ehemalige Führer der orangenen Revolution und spätere ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko dem verstorbenen Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), Stepan Bandera, 2010 den Ehrentitel "Held der Ukraine" verliehen, obwohl ihm von zahlreichen Historikern angelastet wird, im Juni 1941 vor Einmarsch der deutschen Truppen ein Massaker an 7000 Kommunisten und Juden angerichtet zu haben. Am 1. Januar 2014 feierten 15.000 Menschen in Kiew den Geburtstag Banderas, unter ihnen viele in der Uniform der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die vor allem gegen die Rote Armee kämpfte, aber auch so viele Polen umbrachte, daß die UPA dort offiziell für einen "Genozid an der polnischen Bevölkerung" in Wolhynien sowie Ostgalizien verantwortlich gemacht wird.

Die russische Regierung hat die Aufkündigung des zwischen Wiktor Janukowitsch und den EU-Emissären Frank-Walter Steinmeier und Radoslaw Sikorski am 21. Februar ausgehandelten friedlichen Übergangs durch den Rechten Sektor und andere Gruppen der Opposition zum Anlaß genommen, die neue Regierung in Kiew nicht anzuerkennen. Brok wiederum unterstellt deren korrektes und rechtmäßiges Zustandekommen. Das ist insofern erstaunlich, als die Androhung von Gewalt durch vor dem Parlament aufmarschierte neofaschistische Milizen, die von ihnen vorgenommene Zugangskontrolle, die körperlichen Attacken auf Abgeordnete der Regierungsfraktion und die Absegnung der neuen Regierungsmitglieder auf dem Maidan per Akklamation kaum mit hiesigen Verfassungsnormen vereinbar sind. Auch die Angriffe auf Zentralen der Partei der Regionen (PdR), von denen Dutzende in Flammen aufgingen, und Büros der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU), die Verfolgung linker Aktivistinnen und Aktivisten durch rechte Milizen und die Flucht zahlreicher Parlamentarier der ehemaligen Regierungspartei PdR aus Kiew belegen, daß das in der Bundesrepublik weichgezeichnete Bild von einigen wenigen Rechtsradikalen, die das Projekt von Freiheit und Demokratie in der Ukraine keineswegs gefährden könnten, so nicht stimmen kann.

Unter den vom Euromaidan gutgeheißenen Regierungsmitgliedern befinden sich mehrere führende Neofaschisten, die wichtige Positionen im Bereich der Exekutive erobert haben. Der als Kommandant des Maidan bekannte und berüchtigte Mitbegründer der Nationalen Sozialistischen Partei der Ukraine, Andrij Parubij, wurde für die Vaterlandspartei Sekretär des Nationalen Rates der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Er arbeitete auf dem Maidan eng mit dem Führer des Rechten Sektors, Dmytro Jarosch, zusammen, der zu seinem Stellvertreter ernannt wurde. Mit Oleksandr Sych wurde ein Mitglied der Partei Swoboda Stellvertretender Ministerpräsident, mit Oleg Makhnitsky ein weiteres Parteimitglied Generalstaatsanwalt. Insgesamt konnte Oleg Tjagnibok, Chef der neofaschistischen Swoboda und Gesprächspartner des deutschen Außenministers Steinmeier, für seine bei den Parlamentswahlen 2012 mit 10,4 Prozent erfolgreiche Partei drei Minister, einen Vizeministerpräsidenten und den Generalstaatsanwalt stellen.

Alles ganz normal und demokratisch für den Vertreter einer deutschen Partei, die unter der Devise "Wehret den Anfängen" im eigenen Land ein Verbot der NPD anstrebt, die wiederum mit Swoboda auf bestem Fuße steht. Es kann denn auch nicht erstaunen, daß Elmar Brok im Angriff der NATO auf Jugoslawien und der dadurch bewirkten Abtrennung des Kosovo von Serbien nichts Völkerrechtswidriges erkennen kann. Von den Schreckensgeschichten über serbische KZs im Kosovo, mit denen führende NATO-Politiker den Krieg rechtfertigten, ist nichts geblieben außer dem zweifellos blutigen, aber keineswegs genozidalen Szenario eines sezessionistischen Konflikts, dessen größte Triebkräfte unter jenen NATO-Staaten zu finden waren, denen die Zerschlagung Jugoslawiens Voraussetzung zur Sicherung des eigenen Einflusses auf dem Westbalkan war. Geblieben sind die Bilder Tausender unter den Augen untätiger NATO-Besatzer aus dem Kosovo flüchtender Roma, begleitet von den Schmährufen albanischer Bürger, die ihrem rassistischen Haß nicht selten mit dem Hitlergruß Nachdruck verliehen.

Geblieben ist auch der systematische Bruch der UN-Resolution 1244 durch die Kriegssieger, die die territoriale Integrität Jugoslawiens zusicherte. Nur dadurch wurde der Abzug der serbischen Polizei und jugoslawischen Armee aus dem Kosovo möglich, ohne daß die NATO zuvor eigene Bodentruppen hätte einsetzen müssen. Hatten die NATO-Regierungen vor Kriegsbeginn am 24. März 1999 der jugoslawischen Regierung mit der Forderung, den NATO-Truppen vollständige Handlungsfreiheit im ganzen Land zuzugestehen, quasi die Pistole auf die Brust gesetzt, so bereiteten sie 2006 den Abtrennungsprozeß des Kosovo unter einem neuerlichen Bruch des Völkerrechts vor. Mit der von ihnen unterstützten Unabhängigkeitserklärung vom 17. Februar 2008 durch die albanische Mehrheit im Parlament in Pristina bei aufrechterhaltener Anwesenheit der NATO-Truppen im Kosovo schufen sie einen Präzedenzfall, der noch in einigen sezessionistischen Konflikten eine Vorbildfunktion erfüllen dürfte.

Heute ist der Kosovo ein Protektorat von EU-europäischen Gnaden, das ohne massive finanzielle Unterstützung und die andauernde Besetzung durch die NATO nicht lebensfähig wäre. Der ethnische Spaltpilz hat so viel Gift produziert, daß an eine insbesondere von den Regierungsmitgliedern der Grünen seinerzeit propagierte multiethnische Zukunft des Kosovo kaum zu denken ist. Wo immer der Sozialkampf im neoliberalen Kapitalismus als scheinbar ethnisch bestimmte Bruchlinien hervorbringt, lassen sie sich nach dem Prinzip des Teilens und Herrschens von EU und NATO für ganz andere Zwecke instrumentalisieren. Läuft es einmal nicht so wie in der strategischen Planung vorgesehen, dann werden Recht und Gesetz heranzitiert, die man eben noch ignorierte. Was an einem Tag, an dem imperialistische Kriege furchtbare Folgen zeitigen, in der Schublade bleibt, wird an einem anderen mit großer Geste hervorgeholt, als könne man sich auf den vollständigen Gedächtnisverlust aller Beteiligten verlassen.

Wie zog sich noch der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm 1999 aus der Affäre, als er in Anbetracht von mehr als 50 Strafanzeigen gegen verschiedene Mitglieder der Bundesregierung und des Bundestags eine Entscheidung darüber treffen mußte, ob aufgrund der Beteiligung der Bundeswehr am Jugoslawienkrieg der grundgesetzlich geächtete wie strafrechtlich verfolgbare Tatbestand der Vorbereitung eines Angriffskrieges vorliegt? Er gelangte zu dem Schluß, daß die Beteiligung am Krieg der NATO gegen Jugoslawien erklärtermaßen dazu diene, ein friedliches Zusammenleben der Balkanvölker zu ermöglichen, so daß es sich um keinen Angriffskrieg handeln könne, er also auch nicht in Aktion treten müsse.

Daß einige Menschen einfach nicht vergessen können, was ihnen angetan wurde, bietet dennoch keine Gewähr dafür, die Deutungsmacht der NATO-Regierungen und ihrer PR-Abteilungen auch nur tangieren zu können. Heute weiß kaum noch jemand, daß der an die Adresse Jugoslawiens gerichtete Vorwurf, einen Völkermord an den Kosovo-Albanern zu begehen, zur gleichen Zeit andernorts viel berechtigter hätte erhoben werden können. Die 1999 seit acht Jahren währende UN-Embargopolitik gegen den Irak hatte den vorzeitigen mangelbedingten Tod Hunderttausender Kinder und Jugendlicher zur Folge. Jahrelang wurden Luftangriffe niedriger Intensität auf das Land geflogen, und obwohl es sich dabei um einen permanenten Bruch des Völkerrechts handelte, nahm keine Regierung, auch die deutsche nicht, daran Anstoß. Ganz im Gegenteil, alle NATO-Staaten trugen auf ihre Weise dazu bei, daß im Irak eine soziale Katastrophe hierzulande ungeahnten Ausmasses stattfand. Als es 2003 zur Eroberung durch die USA und ihre Verbündeten kam, da wurde der bereits durch die Luftangriffe im Golfkrieg 1991 mit voller Absicht schwer geschädigten zivilen Infrastruktur des Landes der Rest gegeben. Bis heute leidet die irakische Bevölkerung schwer darunter, daß ihr Land jahrzehntelang Spielball imperialistischer Interessen war.

So sprengt die Heuchelei und Bigotterie, mit der deutsche Politiker und Journalisten das Vorgehen Rußlands im Konflikt mit der Ukraine als Rechtsbruch anprangern, alle Moral, mit der die bürgerliche Gesellschaft noch versuchen könnte, den in ihren eigenen Reihen geführten sozialen Krieg unter den Scheffel angeblich unerläßlicher marktwirtschaftlicher Konkurrenz zu stellen. Wird nun versucht, Rußland mit Hilfe wirtschaftlicher Sanktionen in die Knie zu zwingen, dann wird dies die Menschen in der EU kaum minder teuer zu stehen kommen. Die militärische Eskalation ist in einem solchen Wirtschaftskrieg auch deshalb angelegt, weil das alte und neue Feindbild auf den fruchtbaren Boden dadurch verschärfter gesellschaftlicher Widerspruchslagen fällt.


Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-03/ukraine-russland-putin-schroeder

[2] http://www.deutschlandfunk.de/krim-krise-eu-versucht-krieg-zu-verhindern.694.de.html?dram:article_id=279609

Zur Mißachtung des Völkerrechts bei der Abtrennung des Kosovo von Serbien ausführlich:
Hannes Hofbauer: Experiment Kosovo - Die Rückkehr des Kolonialismus. Wien 2008

Zum Bruch internationalen Rechts im Irak siehe auch:
INTERVIEW/169: Quo vadis NATO? - Desaster der Mittel - Hans-Christof Graf von Sponeck im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0169.html