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KRIEG/1640: Mit dem Rücken zur Wand - In Kobani wird mehr verteidigt als eine Stadt (SB)




Alle Welt spricht vom Nordirak. Verteidigungsministerin von der Leyen begibt sich vor Ort, um die Situation der dort lebenden Kurden zu erkunden, die Republik debattiert erregt über technische Mängel der Bundeswehr, die beim Transport des Vorauskommandos zutage traten, und die in Liveschaltung aus Erbil berichtenden Journalisten freuen sich, auf so viele Kurden zu treffen, die in Deutschland gelebt haben oder noch leben. Zweifellos steht die Bedrohung durch den Islamischen Staat (IS) noch im Raum, aber sie ist bei weitem nicht mehr so akut wie vor zwei Monaten, als die jesidische Minderheit im nordirakischen Sindschar massakriert werden sollte und zum Teil auch wurde. Daß die kurdischen Volksbefreiungskräfte YPG/YPJ aus dem nordsyrischen Rojava den bedrohten Menschen unter hoher Gefährdung des eigenen Lebens zu Hilfe kamen, während der nordirakische Kurdenführer Masud Barzani seine Peschmerga anwies, sich zurückzuziehen, hat nichts daran geändert, daß letztere die Adressaten deutscher Militärhilfe sind.

Zwar wird nun, da das politische Zentrum Rojavas, die nahe der türkischen Grenze gelegene Stadt Kobani, von der Eroberung durch den IS akut bedroht ist, auch über diesen Teil des nahöstlichen Kriegsgeschehens berichtet. Doch angesichts dessen, daß dort ein Blutbad stattfinden könnte, das mindestens so schlimm wäre wie die im Falle der Jesiden weitgehend verhinderten Greueltaten, ist das Schweigen der Bundesregierung ohrenbetäubend. Sie hat offensichtlich gute Gründe dafür, in den nordirakischen Kurdengebieten hektische Aktivitäten zu entfalten, während sie dort, wo es am meisten brennt, untätig bleibt. Stellung bezogen zur Situation in Rojava hat sie lediglich zu einem früheren Zeitpunkt. Auf eine Anfrage der Linkspartei zu der Bedrohung der kurdischen Enklave durch den IS und andere jihadistische Gruppen gab sie an, davon nichts zu wissen. Sie sei allerdings sehr besorgt über die "Diktatur" der PYD in Rojava, so die Sicht der Bundesregierung auf die dort unter Führung dieser kurdischen Partei entwickelte Rätedemokratie und Selbstverwaltung [1].

Diese Einschätzung läßt tief blicken, denn sie belegt eine unheilige Allianz zwischen der Bundesrepublik und der Türkei. Diese richtet sich seit jeher gegen linke und fortschrittliche Kräfte in beiden Ländern, wie nicht zuletzt das PKK-Verbot und die politische Verfolgung türkischer Kommunisten durch die deutsche Justiz zeigen. Da die PYD der PKK als Organisation der kurdischen Befreiungsbewegung nahesteht, wird diese Partei trotz der Tatsache, daß sie zur demokratischen syrischen Opposition gegen die Regierung in Damaskus zu zählen ist, kriminalisiert. Während die Bundesregierung weniger Probleme damit hatte, die islamistische Opposition gegen Bashir al-Assad politisch zu unterstützen, obwohl deren Kämpfer schon vor dem Auftreten des daraus hervorgegangenen IS blutige Massaker anrichteten, ist ihr Verhältnis zu säkularen Gruppen in der Region, die nicht nur in Opposition zu Assad stehen, sondern Widerstand gegen die Hegemonie der Türkei leisten, eindeutig negativ.

Das kann niemanden erstaunen, der schon nicht auf die Behauptungen deutscher Regierungen hereingefallen ist, bei der Beteiligung der Bundeswehr an der Besetzung Afghanistans ginge es um die Durchsetzung demokratischer Rechte für die Bevölkerung im allgemeinen wie für Frauen im besonderen. In Rojava, wo für die Region auf vergleichslose Weise Geschlechtergerechtigkeit praktiziert wird, wo es keine Warlords und keine Oligarchen gibt, die ihr eigenes Süppchen zu Lasten der Bevölkerung kochen, wo Kurdinnen und Kurden, Araberinnen und Araber, Musliminnen und Muslime, Christinnen und Christen friedlich zusammenleben und gemeinsam an der Entwicklung einer weniger ungerechten und feindseligen Gesellschaft arbeiten, wird die Bundeswehr nicht gebraucht, um soziale Fortschritte zu bewirken, die ihrer hierarchischen Struktur, ihrem patriarchalischen Corpsgeist und ihrem imperialistischen Auftrag ohnehin nicht entsprechen.

So erspart man sich in Berlin jeden Gedanken daran, vielleicht auch den Verteidigerinnen und Verteidigern Rojavas, denen es vor allem an panzerbrechenden Mitteln fehlt, Waffen zu liefern. Wenn der Radius militärischer Aktivitäten Deutschlands erweitert wird, dann im Sinne einer Investition in eigene hegemoniale Ziele, was im Nordirak zweifellos der Fall ist. Um so mehr fällt das um die eigene Verantwortung für das drohende Massaker wissende Schweigen auf. Warum konfrontiert Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht Präsident Recep Tayyip Erdogan mit der Forderung, die Unterstützung des IS in jeder Beziehung einzustellen, den Zustrom kurdischer Kämpferinnen und Kämpfer nach Kobani wie die Lieferung von Waffen an die dortigen Volksverteidigungskräfte zu ermöglichen, anstatt sie aktiv durch Grenzschließungen und Repressalien zu verhindern, und den kurdischen Verteidigern Rojavas durch ein sicheres Hinterland den Rücken zu stärken, anstatt die Besetzung der nordsyrischen Grenzgebiete durch eigene Truppen anzudrohen?

Nach allem, was die Bundesregierung im Verhältnis zum NATO-Partner Türkei verlauten läßt, ist von der bewußten Kollaboration mit der Hegemonialpolitik Ankaras auszugehen. Sollte eine militärische Intervention der starken türkischen Militärverbände, die an der Grenze zu Syrien aufmarschiert sind, erfolgen, dann wird diese immer auch das Ziel verfolgen, die Autonomie Rojavas und mit ihr ein Modell für das friedliche Zusammenleben aller Ethnien und Religionen zu zerstören. Wäre es anders, dann wäre die Regierung in Ankara unmittelbar nach Vorliegen des parlamentarischen Mandats zum Eingreifen in Syrien aktiv geworden. Nun sieht es so aus, als lasse sie den IS so lange gewähren, bis Kobani fällt und damit auch der Widerstand der kurdischen Volksverteidigungskräfte niedergekämpft wurde. Anschließend wäre auch eine türkische Offensive gegen den IS vorstellbar, was nichts daran änderte, daß das Hauptziel Ankaras in Syrien im Sturz Assads und der Unterwerfung des Landes unter die eigene Vormachtstellung besteht.

Die allem schönen Schein menschenfreundlicher Absichten diametral zuwiderhandelnde Realpolitik dieser und früherer Bundesregierungen richtet sich über das Verfolgen geostrategischer, handels- und ressourcenpolitischer Ziele stets auch gegen die Möglichkeit, daß sich Gesellschaften bilden, die den Einfluß ihnen fremder Mächte wenn nicht ausschließen, dann zumindest eindämmen. So wurde alles getan, um eine DDR unter verändertem sozialistischen Vorzeichen zu verhindern. Die vage Möglichkeit, daß der dritte sozialistische Weg in Jugoslawien fortgesetzt worden wäre, wurde der in einer Legitimationskrise befindlichen NATO und der EU-Expansion geopfert. Was immer an Restbeständen des gescheiterten Staatssozialismus sowjetischer Prägung übrig war, wurde mit neoliberalen Radikalreformen beseitigt.

Ein Befreiungskampf, der nationalstaatlich organisierte Herrschaft durch den Gegenentwurf einer konföderalen Organisation der Region des Nahen und Mittleren Ostens, die auf rätedemokratischer kommunaler Selbstorganisation basiert, ablöst, scheint erst recht nicht unterstützenswert zu sein. Einer Bundesregierung, die den eigenen Zugriff auf die Ressourcen der Ukraine mit dem Mittel eines von militanten Faschisten unterstützten Regimewechsels betreibt, um das von der gestürzten Regierung nicht unterzeichnete Assoziierungsabkommen mit ukrainischen Partnern von denkbar geringer Legitimität durchzusetzen, und dabei nicht vor einem auch für die eigene Bevölkerung möglicherweise ruinösen Wirtschaftskrieg mit Rußland zurückschreckt, ist vieles zuzutrauen. Daß sie allerdings Menschen Vorschub leistete, die sich entschlossen zeigen, die Autonomie ihrer basisdemokratischen Form gesellschaftlicher Organisation mit allen Mitteln gegen weit stärkere Angreifer zu verteidigen und die vielleicht sogar den Keim zu einer Lösung des Problems der Krieg und Zerstörung provozierenden Staatenkonkurrenz gelegt haben, ist eher nicht zu erwarten.

Diese Erkenntnis ist nicht nur für die derzeit massiv von den Folgen imperialistischer Kriege bedrohten Kurdinnen und Kurden wichtig. Sie betrifft alle Menschen, die versuchen, die durch die Krise des kapitalistischen Weltsystems sichtbar gewordenen Risse und Brüche dadurch zu erweitern, daß sie sich dem Verwertungsprimat durch eigene Lebens- und Wirtschaftsformen entziehen oder gar den großen Wurf einer sozialrevolutionären gesellschaftlichen Erneuerung wagen. Gegenentwürfe, die so viel Breitenwirkung entfalten, daß sie nicht mehr durch planmäßige Ignoranz unsichtbar gemacht werden können oder durch Konterstrategien einzubinden sind, laufen stets Gefahr, nach allen Regeln intriganter und repressiver Kunst zunichte gemacht zu werden.

Die vor Jahrzehnten geführte Debatte darüber, ob revolutionäre Entwicklungen in einem Land oder weltweit stattzufinden hätten, um überhaupt gelingen zu können, hallt in der Erkenntnis nach, daß der Gültigkeitsanspruch herrschender Interessen nicht straflos herausgefordert werden kann. Wo die Blockfreienbewegung noch von dem Systemwettstreit des Kalten Krieges profitieren konnte, um in dessen Schatten gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben, herrscht heute die Totalität einer globalisierten Weltwirtschaft vor, die das Regime ihrer Handels-, Wettbewerbs-, Rechts- und Ordnungsparameter so lückenlos wie möglich durchzusetzen trachtet. Das historische Ende der äußeren Landnahme, der kapitalistischen Expansion in den Raum hat die intensivierte Ausbeutung von Mensch und Natur durch die Perfektion kostensenkender flexibilisierter Arbeitsregimes, die sozial und ökologisch immer destruktivere Extraktion verbliebener fossiler Rohstoffe, die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion durch Monokulturen und Massentierhaltung und die Zurichtung des Marktsubjekts durch Mangelkontrolle, Selbstoptimierung und ideologische Indoktrination gezeitigt. Diese Form der inneren Landnahme geht einher mit der hermetischen Abschottung gegen alles, was den Menschen befähigen könnte, seiner diesem fremden Nutzen gewidmeten Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit entgegenzutreten.

Was in Kobani geschieht, sollte daher nicht als Sonderfall des sogenannten Kurdenproblems betrachtet werden. Die Auslieferung der dort lebenden Menschen an die Zerstörungsgewalt des IS, der ohne die neokoloniale Festlegung der arabischen Welt auf einen Entwicklungsstand, der sich durch despotisch regierte Zulieferungsökonomien in der Peripherie westlicher Metropolengesellschaften auszeichnet, kaum zu einem solch erfolgreichen Akteur aufgestiegen wäre, ist integraler Bestandteil einer Strategie des Teilens und Herrschens, der keine tradierte oder aktiv hervorgerufene Feindseligkeit zu gering ist, um nicht instrumentalisiert zu werden. Daß unter den IS-Kämpfern Personen sind, die aus purer Mordlust in den Krieg ziehen und einem patriarchalischen Revanchismus besonders grausamer Art frönen, ändert nichts daran, daß diesem Schrecken etwa mit der flächendeckenden Zerstörung der irakischen Stadt Fallujah durch die US-Streitkräfte, der Aushungerung des Iraks durch das UN-Embargo oder der Unterdrückung der sunnitischen Iraker durch die von den USA begünstigten irakischen Schiiten reichlich Zündstoff für ihren archaischen Terror geliefert wurde.

Mit dieser Wut insbesondere gegen säkulare und emanzipatorische Fortschritte vorzugehen, heißt eben auch, das Geschäft derjenigen zu verrichten, denen Unterwerfung durch fundamentalistische Indoktrination und feudalistische Herrschaft allemal lieber ist als die tatsächliche Befreiung zu basisdemokratischer Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Autonomie. Von daher bleibt es auch den Verfechtern einer Friedensordnung, die von der Gewalt des sozialen Krieges nichts wissen wollen, nicht erspart zu realisieren, daß ein am Symptom akuter Not orientierter humanitärer Interventionismus Ausbeutung und Unterdrückung, wenn auch unter anderem Vorzeichen, fortschreibt. Wer, wie es einige auf olivgrünen Pfaden wandelnde Politiker der Linken tun, über den Vorwand der Einzelfallentscheidung die Kriegspolitik einer Bundesregierung ermächtigen will, die auch Waffen an Förderer des militanten Islamismus wie Saudi-Arabien und Katar liefert, muß sich schon den Vorwurf der Handlangerschaft in einem Staatsinteresse gefallen lassen, dessen imperialistischer Kern durch keine noch so dramatisch vergossenen Krokodilstränen zu verbergen ist.

Das ethische Gebot des Pazifismus auch dann zu beherzigen, wenn fortschrittliche Gesellschaften von den aggressiven Ausgeburten globaler Destruktionslogik heimgesucht werden, stellt demgegenüber eine kaum glaubwürdigere Option dar. Wenn die Menschen in Kobani in höchster Not nach Luftangriffen auf die IS-Stellungen vor der Stadt rufen, wenn sie die Lieferung schwerer Waffen an die YPG/YPJ verlangen und die Regierung in Ankara auffordern, Kämpferinnen und Kämpfern aus anderen Teilen Rojavas wie auch den Peschmerga aus dem Irak freies Geleit über türkisches Staatsgebiet zu gewähren, dann arbeitet eine Friedensbewegung, die dies zu verhindern versucht, letztlich denjenigen Kräften zu, die Rojava vom Erdboden tilgen möchten. Daß die USA und andere NATO-Staaten eine solche Hilfe kaum aus echter Solidarität leisteten, sondern stets eigene Absichten verfolgen, versteht sich von selbst. Menschen die militärische Nothilfe zu verweigern, die diese Forderungen erst in akuter Not erhoben haben und ansonsten unabhängig von äußeren Akteuren bleiben wollen, macht die friedenspolitische Regel, keine Rüstungsgüter in andere Länder zu liefern, den grundgesetzlichen Auftrag zur Landesverteidigung nicht zu überschreiten und am besten keine stehende Armee zu unterhalten, nicht ungültig.

Für eine Linke, die sich auf die Tradition der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg und die Unterstützung antikolonialistischer Befreiungsbewegungen in aller Welt beruft, könnte die Forderung "Waffen für die YPG/YPJ", die zwei internationalistische Gruppen der Berliner Linken erheben, eine konkrete Handlungsalternative darstellen. Die als Spendenkampagne konzipierte Aktion mit dem Ziel, die gesammelten Gelder an die Regionalverwaltung in Rojava weiterzuleiten [2], könnte darüber hinaus zur Diskussionsberechtigung antimilitaristischer Positionen im Spannungsfeld einander bekriegender Staaten unabhängig von ihrem politischen und gesellschaftlichen Entwicklungsstand beitragen. Nicht das staatliche Gewaltmonopol aufzurufen und auf Stellvertreterpolitik zu setzen bedeutet auch, zivilgesellschaftlich und demokratisch zu handeln. Wenn Kanzlerin Merkel und Präsident Gauck nicht müde werden, zu Zivilcourage und Eigenverantwortung aufzurufen, dann wäre dies eine Gelegenheit, dafür gute Beispiele zu liefern.


Fußnoten:

[1] INTERVIEW/239: Borderline Syrien - Ankaras Begehrlichkeiten ...    Michael Knapp im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0239.html

[2] http://lowerclassmag.com/2014/10/knarren-fuer-kurdistan/#more-1134

6. Oktober 2014