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KRIEG/1642: Krokodilstränen und Realpolitik - Kobani preisgegeben ... (SB)




So sieht es aus, wenn die türkische Regierung ihre angebliche Zurückhaltung aufgibt. Mit den Angriffen auf PKK-Kämpfer in der südostanatolischen Provinz Hakkari hat Präsident Recep Tayyip Erdogan gezeigt, daß ihm die Gleichsetzung des Islamischen Staates (IS) und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als terroristische Organisationen nicht genügt. Sein Hauptfeind ist die wirksamste politische und militärische Kraft der kurdischen Minderheit. Hätte sich die AKP-Regierung wirklich zurückgehalten, dann stände es um Kobani nicht so schlecht. Die in aller Welt gegen die Angriffe des IS auf die Enklave im Norden Syriens protestierenden Kurdinnen und Kurden fordern nicht das Eingreifen der türkischen Streitkräfte, wie hierzulande behauptet, sondern das Gegenteil. Es geht ihnen darum, daß die Türkei die Grenze für den humanitären und militärischen Nachschub nach Kobani öffnet, aber nicht mit eigenen Truppen in die Kämpfe eintritt. Vor allem jedoch verlangen sie die Einstellung jeglicher Unterstützung des IS.

Die erklärte Absicht Erdogans, in der Grenzregion auf syrischem Territorium eine Sicherheits- und Flugverbotszone einzurichten, richtet sich gegen die dort in drei Kantonen unter dem Namen Rojava etablierte demokratische Autonomie kurdischer, arabischer und assyrischer Menschen. Da der Versuch, das Gebiet unter dem Vorwand einer gegen den IS gerichteten Schutzzone unter türkische Kontrolle zu bringen und seine Verteidigungskräfte YPG und YPJ für den Kampf gegen die syrische Regierung zu instrumentalisieren, scheiterte, soll es ausbluten. Die Doppelstrategie Erdogans, den IS auf der einen Seite gewähren zu lassen und ihn offiziell als terroristische Organisation zu bekämpfen, wird zwar auch in westlichen Hauptstädten kritisiert. Keinesfalls jedoch will man dort Partei für die mit dem Rücken zur Wand stehenden Verteidigerinnen und Verteidiger Kobanis ergreifen.

So erweckt der von deutschen Journalisten und Politikern erzeugte Eindruck, man kritisiere Erdogan, weil sich die türkischen Streitkräfte zu Lasten Kobanis zurückhielten, den irreführenden Eindruck, in Berlin wäre man hinsichtlich des weiteren Vorgehens anderer Ansicht als in Ankara. Davon kann keine Rede sein, wie der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Philipp Mißfelder, im Interview mit dem Deutschlandfunk belegt. Wenn man der PKK - und damit ist auch ihre syrische Schwesterpartei PYD in Rojava gemeint - Waffen liefert, dann könne man nicht wissen, ob diese "nicht unmittelbar in Terroreinsätzen gegen die Türkei, also unseren NATO-Partner und Verbündeten, eingesetzt werden" [1]. Im gleichen Interview lastet Mißfelder der PKK an, "durch ihre Äußerungen in der Türkei und auch durch viele Demonstrationen in der Türkei" das in sie gesetzte Vertrauen Erdogans beschädigt zu haben.

Die landesweiten Proteste in der Türkei entzündeten sich an der Politik der AKP-Regierung, auf der einen Seite die wirksame Verteidigung Kobanis zu sabotieren und auf der anderen Seite das Gegenteil zu behaupten. Nach über 30 Toten und mehreren Hundert Verletzten unter kurdischen Demonstranten und türkischen Unterstützern, die neben türkischen Sicherheitskräften auch von Anhängern des IS und anderen islamistischen Gruppierungen in der Türkei angegriffen wurden, ist der PKK kaum anzulasten, sie habe den Friedensprozeß einseitig aufgekündigt. Indem Erdogan den Widerstand der kurdischen Bevölkerung durch das Unterbinden des Versuchs, dem drohenden Massaker in Kobani Einhalt zu gebieten, provozierte, hat er hinlänglich bewiesen, wo seine Prioritäten liegen. Davon auszugehen, daß der türkische Präsident ernsthafte Bemühungen unternommen hätte, Kobani und Rojava vor dem IS zu schützen, ist auch deshalb abwegig, weil er jegliche wirksame Hilfe an die Forderung bindet, dies müsse auch dem Sturz des syrischen Präsidenten Bashir al-Assad dienen.

Diese Absicht hat in der Vergangenheit, wie US-Vizepräsident Joseph Biden kürzlich öffentlich bestätigte, zur massiven militärischen Aufrüstung islamistischer Gruppen in Syrien durch die Türkei, Saudi-Arabien und andere arabische Staaten geführt, und damit der Entstehung und dem Erfolg des IS den Weg gebahnt. Zumindest mittelbar unterstützt wurde dies von NATO-Partnern der Türkei wie den USA, Britannien, Frankreich und der Bundesrepublik. Selbst wenn man dort heute nicht mehr so erfreut über das Ergebnis dieser Politik sein sollte, kündigt man der Türkei keinesfalls die Unterstützung bei dem Versuch auf, die Unterdrückung der demokratischen und säkularen Opposition im eigenen Land in den Kampf gegen den IS und den Sturz der syrischen Regierung zu integrieren.

So hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière in einem aktuellen ARD-Interview die Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland und der EU unter anderem deshalb ausgeschlossen, weil diese terroristische Organisation an der Organisation gewaltsamer Proteste gegen die türkische Regierung beteiligt gewesen sei. Welche Gewalt von dieser ausgeht, war schon bei den Protesten der Gezi-Park-Bewegung für die Bundesregierung nicht von Belang und ist es auch heute nicht. In Berlin ist man daran interessiert, die Türkei als strategischen Akteur in Syrien und im Irak auf der eigenen Seite zu wissen, und setzt ansonsten auf die nordirakische Kurdenpartei PDK, die eng mit der türkischen Regierung zusammenarbeitet.

Für die US-Regierung hat Außenminister John Kerry am Sonntag in Kairo erklärt, daß das Schicksal Kobanis "nicht die Strategie der Koalition in Hinsicht auf den IS definiert" [2]. Kobani sei zwar ein von tragischen Ereignissen betroffener Ort, jetzt gehe es jedoch darum, sich auf den Irak zu konzentrieren und die Kommandozentralen, Versorgungsstrukturen und Ausbildungslager des IS in Syrien zu zerstören. Diese klare Prioritätensetzung Kerrys ging in der Kritik, die hierzulande an der angeblichen Zurückhaltung der Türkei geübt wurde, fast vollständig unter. Auch die von den Verteidigungskräften in Kobani begrüßten Luftangriffe der US-Streitkräfte auf den IS können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die US-Regierung nicht vorhat, ein Massaker in Kobani und womöglich den beiden anderen Kantonen Rojavas unter allen Umständen zu verhindern.

Der CDU-Außenpolitiker Philipp Mißfelder scheint sich keine Sorgen darüber zu machen, daß die unter Billigung der Bundesregierung nach Saudi-Arabien und Katar gelieferten Panzer und Maschinengewehre in die Hände des IS gelangen oder gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden könnten. Er ist ganz dem Interesse seiner Regierung verpflichtet, in diesem Krieg um die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens zumindest perspektivisch an der Seite der anderen NATO-Staaten mitzumischen, anstatt sich diese Option durch eine klare, notwendigerweise gegen die Expansionsbestrebungen der Türkei gerichtete Parteinahme für die bedrohte Bevölkerung Kobanis und Rojavas zu verbauen.

Unter diesen Umständen die Entsendung der Bundeswehr nach Kobani zu fordern, wie es einige Politikerinnen und Politiker der Oppositionsparteien Die Grünen und Die Linke tun, ist, wohlmeinend gesagt, wenig durchdacht. Da nicht nur Rußland und China, wie häufig behauptet wird, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen blockieren, sondern die US-Regierung kein Interesse daran hat, ihre hochentwickelte Fähigkeit zur Kriegführung der internationalen Staatengemeinschaft zu unterwerfen, steht das zur Bedingung eines solchen Bundeswehreinsatzes gemachte UN-Mandat nicht zur Verfügung. Die ihrerseits durch die NATO-Staaten herausgeforderte Regierung in Moskau kann weniger Interesse denn je daran haben, durch den beabsichtigten Regimewechsel in Damaskus mit Syrien den letzten Verbündeten in der Region zu verlieren. Die USA, deren neokonservative Eliten die Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens schon seit den 90er Jahren propagieren, haben aus ihrem strategischen Interesse mit der Besetzung des Iraks, der Bedrohung Syriens und des Irans, der bedingungslosen Unterstützung Israels wie der Kollaboration mit den despotischen Golf-Monarchien ohnehin nie ein Geheimnis gemacht. Wenn die Vereinten Nationen nicht dem Hegemonialinteresse Washingtons zu Diensten sind, werden sie auch nicht in Anspruch genommen.

Dieser Krieg begann nicht mit der Offensive des IS, sondern hat mit dem Islamischen Staat ein besonders brutales Exemplar seines langjährigen Verlaufs hervorgebracht. Wenn man nicht zurückgehen will zu der kolonialistischen Staatenordnung, die mit dem Sykes-Picot-Abkommen 1916 von den Kolonialmächten Britannien und Frankreich geschaffen wurde und deren kriegerische Aufhebung nun womöglich begonnen hat, und auch die um die Palästinafrage entflammten Kriege außer Acht läßt, dann begann dieser Krieg spätestens in den 80er Jahren, als der Irak den Iran angriff und dabei von den USA unterstützt wurde. Die Bombardierung des Iraks durch die US-geführte Koalition 1991, das 13jährige Hungerembargo und die Eroberung des Landes 2003 zeugen davon, daß seine Umwidmung zum Globalen Krieg gegen den Terrorismus nichts an der zugrundeliegenden Interessenlage der USA und ihrer Verbündeten geändert hat. Die Kontrolle über die Region zu behalten scheint jeden Preis zu rechtfertigen. So hat die Geschäftspartnerin des ehemaligen deutschen Außenministers Joseph Fischer, Madeleine Albright, als US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen 1996 bejaht, daß das von ihr befürwortete Embargo gegen den Irak auch den Tod einer halben Million irakischer Kinder wert sei [3].

In Anbetracht dessen, daß US-Vizepräsident Richard Cheney den Globalen Krieg gegen den Terrorismus als ein mehrere Generationen in Anspruch nehmendes Projekt verstand und daß US-Außenministerin Condoleezza Rice in der flächendeckenden Bombardierung des Libanon durch Israel 2006 die "Geburtswehen eines neuen Nahen Ostens" erkannte, scheint die Prognose des Generalstabschefs der US-Armee, Raymond Odierno, für die Dauer des nun eskalierenden Krieges von zwei Jahrzehnten oder des ehemaligen US-Verteidigungsministers Leon Panetta von drei Jahrzehnten nicht aus der Luft gegriffen zu sein. Wer nichts gegen die Hegemonialpolitik der Türkei einzuwenden hat und den Kampf Erdogans gegen die PKK vorbehaltlos unterstützt, dem geht es auch nicht um die Rettung Kobanis aus höchster Not. So wird die Entsendung der Bundeswehr in die Region wenn nicht im ersten, dann im zweiten oder dritten Schritt in den Dienst eines nachholenden Imperialismus gestellt, in dessen Namen vor hundert Jahren in Berlin schon einmal proklamiert wurde, keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche zu kennen.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/kampf-gegen-is-diplomatie-ist-die-einzige-loesung.694.de.html?dram:article_id=300200

[2] http://www.state.gov/secretary/remarks/2014/10/232898.htm

[3] http://fair.org/extra-online-articles/we-think-the-price-is-worth-it/

14. Oktober 2014