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KRIEG/1693: Fürchtet euch - Kriegsmitschnacker ... (SB)



Als die Wehrpflicht in Deutschland zum 1. Juli 2011 ausgesetzt wurde, war dies eine Entscheidung auf Widerruf. Der Pflichtdienst blieb weiterhin im Grundgesetz verankert und könnte mit einem einfachen Gesetz wieder eingeführt werden. Nach offizieller Lesart ist die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland ungeachtet des anhaltenden Personalmangels der Streitkräfte gegenwärtig kein Thema. Die Bundestagsfraktionen sind dagegen, und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen versicherte im August 2016, die Aussetzung habe der Truppe gutgetan. Solchen Beteuerungen zum Trotz sah die im Herbst 2016 von Innenminister Thomas de Maizière vorgestellte "Konzeption Zivile Verteidigung (KZV)" als Generalplan für den Ernstfall den Einsatz von Zivilisten, massive Eingriffe in den Arbeitsmarkt und Warenverkehr und eben auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht vor. Wie es im Notfallplan dazu heißt, sei zu prüfen, inwieweit die geltenden Regelungen noch sachgerecht sind.

Vorerst versucht das Verteidigungsministerium jedoch, die angestrebte Truppenstärke auf Grundlage einer Berufsarmee zu realisieren. Als Ursula von der Leyen Anfang Mai 2016 verkündete, daß die Zeit des Schrumpfens vorbei sei, kündigte dies eine Trendumkehr an: Erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges sollte die Bundeswehr wieder zusätzliche Soldaten bekommen. Die Pläne des Ministeriums waren ambitioniert: Bis 2024 soll die Truppenstärke um rund 12.000 Zeit- und Berufssoldaten und Soldatinnen zulegen. Dazu kommen 1000 Reservisten und noch einmal 5000 zivile Mitarbeiter. 198.000 Soldaten und Soldatinnen soll die Bundeswehr dann umfassen, dazu 61.400 Zivilisten. Ausgangspunkt war die Zielmarke von 170.000 Berufs- und Zeitsoldaten bis Ende 2016, worauf ab Januar 2017 aufgesattelt werden sollte. Als die Ministerin ihre Trendwende ankündigte, fehlten jedoch mehr als 3000 Soldaten bis zu diesem Meilenstein. Von der Leyen rief deshalb die Initiative "170.000 plus" mit dem Ziel ins Leben, das Minus bis zum Jahresende 2016 mindestens auszugleichen.

Zu diesem Zweck wurde ein Etat für Kopfprämien zur Verlängerung von auslaufenden Zeitsoldatenverträgen aufgelegt und die Vorgabe der Bereitschaft für bundesweite Verwendbarkeit gelockert. Dennoch verfehlte die Initiative ihr Ziel, hatte die Bundeswehr doch Ende 2016 immer noch gut 2000 Soldaten zu wenig. Zudem schien der tatsächliche Bedarf weit größer zu sein, als von der Ministerin angegeben. So beklagte allein das Heer als größte Teilstreitkraft einen Mangel von rund 15.000 Soldaten. Seither wurden entgegen den bis dahin geltenden Vorgaben auch Quereinsteiger, Schulabbrecher ohne Hauptschulabschluß und Ausländer aus der Europäischen Union als neue Zielgruppen der Personalwerbung ausgemacht. Zudem sollten Karrieren flexibler geplant und vor allem mehr Frauen als Soldatinnen angeworben werden. Hoffnungen setzte das Ministerium nicht zuletzt in die Webserie "Die Rekruten" auf YouTube, die zumindest mit enormen Klickzahlen aufwarten konnte. Ob dies zu einer verstärkten Anwerbung von Rekruten führen würde, war jedoch zunächst ungewiß.

Auf die Internetserie "Die Rekruten" folgte als Fortsetzung "Mali", der Werbeaufwand war gewaltig: Schautafeln in Innenstädten, Plakate an Bushaltestellen, ganzseitige Anzeigen in Magazinen. Drei Soldaten blicken aus einem grafisch verfremdeten Sandsturm auf den Betrachter. "Bist du bereit für eine ECHTE Herausforderung? Folge unseren Kameradinnen und Kameraden in den Einsatz nach Mali und sei hautnah mit dabei!", lockt die YouTube-Serie mit täglichen Videos aus dem Einsatz. Hatten "Die Rekruten" 1,7 Millionen Euro für die Videoproduktion und 6,2 Millionen für die begleitende Werbung verschlungen, so kostete "Mali" immerhin noch 2 Millionen für die Produktion und 4,5 Millionen Euro für die flächendeckende Reklame. Ob diese aufwendige Kampagne die Generation Y wirklich dafür begeistert, Kriegspropaganda im Abenteuerfilmformat mit der Realität des gefährlichsten Einsatzes der Bundeswehr zu verwechseln, muß sich ungeachtet eines sprunghaften Anstiegs der Zugriffe auf die Karriere-Website der Bundeswehr erst noch erweisen. [1]

Da die Bundesrepublik ihren Anspruch auf ökonomische und politische Vorherrschaft in Europa und längst darüber hinaus in zunehmendem Maße auch mit militärischen Mitteln geltend macht, werden die Rüstungsausgaben massiv aufgestockt. So soll der Verteidigungsetat von derzeit 37 Milliarden Euro und damit 11 Prozent des Bundeshaushalts oder 1,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts im Jahr 2018 auf 38,5 und bis 2021 auf 42,3 Milliarden Euro steigen. Was den wachsenden Personalbedarf betrifft, fallen diese Bestrebungen allerdings in eine Zeit mit Jahrgängen stark sinkender Geburtenzahlen. Zudem erhöht die veränderte Sicherheitslage im Inland die Konkurrenz, da Bundes- und Landespolizei wie auch die Nachrichtendienste ebenfalls händeringend Nachwuchs suchen und offensiv dafür werben.

Nicht zuletzt führt die günstigere Wirtschaftslage dazu, daß die Bundeswehr heute weniger als noch vor einigen Jahren als Notlösung mangels anderer Arbeitsmöglichkeiten gesehen wird. Da regelmäßig Zeitsoldaten ausscheiden, müssen jedes Jahr etwa 25.000 Menschen neu eingestellt werden, um den Weggang auszugleichen und die Wachstumsvorgaben einzuhalten. Für eine gute Auswahl sind jährlich 100.000 Bewerbungen erforderlich, viel mehr als derzeit eingehen. Im Kampf um Nachwuchs gilt es schon als ein Erfolg, die Bewerberzahl von einem Jahr zum nächsten stabil zu halten. Ein Haupthindernis für die Streitkräfte ist neben der guten Konjunktur der Facharbeitermangel in der Industrie. Die Bundeswehr steht im Wettstreit mit anderen Unternehmen um qualifizierte Bewerber, wobei die zivile Konkurrenz neben einer oftmals besseren Bezahlung entscheidende Vorteile zu bieten hat: Weder lange Auslandsaufenthalte in wenig attraktiven Regionen Afghanistans oder Malis noch Gefahren für Leib und Leben durch Sprengfallen oder Hinterhalte. [2]

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums ist die Gesamtzahl freiwilliger Bewerber sogar rückläufig. Im vergangenen Jahr meldeten sich demnach bis Ende August 10.105 Männer und Frauen, verglichen mit dem Vorjahreszeitraum ein Rückgang von mehr als 15 Prozent. Welcher Mittel sich die Streitkräfte bedienen, um ihren anhaltenden Nachwuchsmangel zu kompensieren, dokumentiert die Antwort der Bundesregierung auf eine aktuelle Anfrage der Linksfraktion im Parlament. Während die politischen Führungsetagen unter Krokodilstränen das Schicksal der Kindersoldaten in aller Welt beklagen und deren Einsatz als weiteren Interventionsvorwand ins Feld führen, hat die Zahl der Minderjährigen in der Bundeswehr einen neuen Höchststand erreicht. Im vergangenen Jahr waren demnach 2.128 Soldaten, darunter 448 Soldatinnen, bei Dienstantritt noch nicht volljährig. Somit ist die Zahl minderjähriger Rekruten seit der Aussetzung der Wehrpflicht kontinuierlich gestiegen. Nachdem 2011 noch 689 ihren Dienst antraten, waren es 2016 bereits 1.907. Bemerkenswert ist zudem, daß sich die Zahl der minderjährigen Soldatinnen in diesem Zeitraum sogar verachtfacht hat. Auch nach Absolvieren der sechsmonatigen Probezeit waren im vergangenen Jahr 90 Soldatinnen und Soldaten immer noch nicht volljährig.

Das Verteidigungsministerium hat diese Praxis in der Vergangenheit mit den fadenscheinigen Argumenten verteidigt, die Bundeswehr nehme Minderjährige ausschließlich für eine militärische Ausbildung auf, wobei die gesetzlichen Vertreter einem Diensteintritt zustimmen müßten. Minderjährige dürften nicht an Auslandseinsätzen teilnehmen, der Gebrauch von Waffen sei auf die Ausbildung beschränkt, die sich darüber hinaus aber nicht von der Volljähriger unterscheide. Die Linkspartei forderte bereits 2016 einen Rekrutierungsstopp für Minderjährige. Ihre Bundestagsabgeordnete Evrim Sommer wirft Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nun vor, so habe offenbar keine Skrupel, die Nachwuchsgewinnung immer weiter vorzuverlegen. Solange Deutschland selbst Minderjährige für militärische Zwecke rekrutiere, könne es andere Staaten dafür nicht glaubwürdig kritisieren. Die Bundesregierung gefährde damit ihre eigenen Bemühungen zur internationalen Ächtung des Einsatzes von Kindersoldaten, so Sommer. [3]

Als Bundesfamilienministerin hatte Ursula von der Leyen im Jahr 2008 noch den Jugendschutz erweitert und Killerspiele dem Verkauf an Volljährige vorbehalten. Im Zuge der "Trendumkehr" bei der Bundeswehr sind inzwischen offenbar Schranken gefallen, die in anderen gesellschaftlichen Bereichen dem Schein nach hochgehalten werden. "Es ist uns gelungen, die Bundeswehr zum Pausengespräch auf vielen Schulhöfen in Deutschland zu machen", brüstet sich Dirk Feldhaus, Beauftragter für die Kommunikation der Arbeitgebermarke Bundeswehr im Verteidigungsministerium, eines veritablen Werbeerfolgs bei Minderjährigen. [4] Früher warnten die Eltern eindringlich ihren Nachwuchs, nie mit fremden Männern mitzugehen, da diese Kinder in finstere Winkel schleppen und ihnen Gewalt antun. Daß sie in solcher Gefahrenlage am besten Männer in Uniform zu Hilfe rufen sollten, erweist sich im Lichte der vorangegangenen Erwägungen indessen als höchst problematischer Rat.


Fußnoten:

[1] www.zeit.de/politik/deutschland/2017-10/bundeswehr-exclusive-mali-youtube-serie-die-rekruten/seite-2

[2] www.faz.net/aktuell/beruf-chance/beruf/werbung-der-bundeswehr-youtube-serie-ueber-den-mali-einsatz-15267882-p3.html

[3] www.zeit.de/politik/deutschland/2018-01/bundeswehr-minderjaehrige-ausbildung-hoechststand

[4] deutsch.rt.com/gesellschaft/59249-bild-dir-deinen-militarnachwuchs-millionen-bundeswehr-werbung-statt-journalismus/

9. Januar 2018


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